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Auf der Suche nach den verlorenen Konservativen

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Harro Zimmermann: Friedrich Sieburg – Ästhet und Provokateur. Eine Biographie, Wallstein Verlag, Göttingen 2015, 488 Seiten, 34,90 Euro.

Sebastian Liebold / Frank Schale (Hrsg.): Neugründung auf alten Werten? Konservative Intellektuelle und Politik in der Bundesrepublik, Nomos-Verlag, Baden-Baden 2017, 256 Seiten, 49,00 Euro.

In der politischen Ideengeschichte der Bundesrepublik schaut man mehr auf solche Intellektuelle, die gegen diesen Staat gestritten haben, als auf solche, die sich für ihn stark machten. Es dominieren Selbstbespiegelungen von Akteuren der „Gruppe 47“ oder der jüngeren 68er-Generation, die den Gründungsund Leitentscheidungen der Bundesrepublik kritisch gegenüberstanden. Viele von ihnen machten im Laufe ihres Lebens ihren Frieden mit der bürgerlichen Ordnung. Sie stilisierten ihren Widerstand und ihre Läuterung rückblickend und in dialektischer Manier gern als notwendigen Beitrag zur Stabilisierung der Bundesrepublik. Die intellektuelle und moralische Gründung der Bundesrepublik sei dadurch – so ein verbreiteter Mythos – erst nach 1968 erfolgt.

Der Beitrag, den konservative Intellektuelle zur politischen Orientierung und Stabilisierung der Bundesrepublik geleistet haben, bleibt dagegen oft unterbelichtet. Dabei lässt sich nicht nur viel vom Scheitern und von der Läuterung linker Intellektueller lernen, sondern auch von den bisweilen krummen Lebenswegen konservativer Denker. Auch unter ihnen gibt es einige, die nach biographischen Häutungen zur geistigen Orientierung und Stabilisierung der Bundesrepublik beigetragen haben.

Viel Diskussionsstoff bietet bis heute der Publizist Friedrich Sieburg (1893–1964), der als einer der profiliertesten Kulturdiagnostiker und – bis zum Aufstieg Marcel Reich-Ranickis – auch als der einflussreichste und streitbarste Literaturkritiker der frühen Bundesrepublik gilt. Ihm hat der Bremer Literaturhistoriker und Kulturjournalist Harro Zimmermann eine umsichtige Biographie gewidmet, die den Leser mit Stil, Erzählfreude und Urteilsvermögen in Sieburgs intellektuelle Verwirrungen von der Kaiserzeit bis in die frühe Bundesrepublik hineinführt.

Sieburg gehörte wie Friedrich Gentz, dem Zimmermann gleichfalls eine gelungene Biographie gewidmet hat, zu einer Sorte hedonistischer Konservativer, deren opulenter Lebensstil die Zeitgenossen lästern und tuscheln ließ. Anschaulich schildert Zimmermann, wie der junge Sieburg zunächst der Anziehungskraft des elitär-mystischen Kreises um den Dichter Stefan George erlag. Inmitten der stürmischen Modernisierung und Technisierung der

Welt bot sich George dem lyrisch ambitionierten, nach Anerkennung und Orientierung suchenden Jüngling als prophetische Erlöserfigur an, die weihevoll raunend von einem „Neuen Reich“ kündete. Umso größere Qualen erlitt der empfindsame Jünger, als er vom inneren Zirkel um den verehrten Meister verstoßen wurde. Stattdessen gewann Sieburg allmählich als dem Weltgeschehen zugewandter Korrespondent der Frankfurter Zeitung in Paris und London Einfluss und Anerkennung. Auch Kulturstudien und Auslandsreportagen mehrten seinen Ruhm. Aber Sieburg erwies sich als politisches Irrlicht. Um 1930 suchte er die Nähe zum konservativ-revolutionär gestimmten „Tat-Kreis“. Sein im Frühjahr 1933 erschienenes Buch Es werde Deutschland geriet zur Unzeit zu einem schwülstigen Plädoyer für einen nationalen Sozialismus.

Intellektuelle Läuterung

Sieburg galt den Nationalsozialisten als suspekt und politisch unzuverlässig. Sein Geltungsdrang brachte ihn jedoch schließlich dazu, dass er in Paris als „gewiefter Mitläufer“ vom Korrespondentenposten in den diplomatischen Dienst Ribbentrops wechselte und sich dort erneut diskreditierte. Alle Wendungen und Irrungen dieser facettenreichen und politisch wechselhaften Biographie schildert Zimmermann mit sicherem Zugriff und einem differenzierten Urteil. Ohne Polemik nimmt er Sieburg entweder gegen seine vielen Neider und Widersacher in Schutz oder fällt ein hartes Urteil über dessen politische Rolle, wo dieser es verdient.

Als politischer Intellektueller changiert Sieburg zwischen linkem und rechtem Autoritarismus. Man gewinnt an vielen Stellen den Eindruck, als sei Sieburgs jeweiliger politischer Standpunkt nur die Funktion sekundärer Motive wie Ästhetik, Geltungsbedürfnis, Opportunismus, Provokationslust und Stilwillen. Davon bleibt in der Rückschau substanziell wenig bestehen. Ein geistiger und stilistischer Genuss sind dagegen nach wie vor seine historischen Studien, die er insbesondere den großen Persönlichkeiten und Epochen seines langjährigen Gastlandes Frankreich gewidmet hat.

Erst unter den Bedingungen der frühen Bundesrepublik kommt es nach 1945 zu einer Art intellektuellen Läuterung. Nun erst finden sich bei Sieburg gefestigte Haltungen und Positionen mit konservativem Anspruch. Zimmermann fasst diese Aspekte treffend unter der Überschrift „Innovativer Konservatismus?“ zusammen: Mit Parlamentarismus und Demokratie scheint Sieburg im Herbst des Lebens seinen Frieden gemacht zu haben, wenngleich er in geistesaristokratischer Distanz zur Massengesellschaft bleibt und als sich selbst proklamierender Freigeist von einer grundsätzlichen Staatsskepsis geprägt ist. Am Ende herrscht eine liberalkonservative Tonlage vor, die sich mit der prosaischen Bundesrepublik und ihrem politischen Pluralismus mühsam arrangiert und sogar ausdrücklich – trotz eigener Verstrickung – die „Verantwortung für die Schuld der jüngsten Vergangenheit“ annimmt. Es sind verschlungene Wege einer ebenso problematischen wie fesselnden Biographie.

Ein von Sebastian Liebold und Frank Schale vorgelegter Sammelband über konservative Intellektuelle und Politik versteht sich als Beitrag aus der Feder jüngerer Politikwissenschaftler und Zeithistoriker zu einer „intellectual history“ der frühen Bundesrepublik. Es handelt sich bei den Aufsätzen meist um Werkstattberichte zu bevorstehenden Dissertationen und Monographien, auf die man gespannt sein darf.

Zwei Beiträge setzen sich mit dem Scheitern des Konservatismus im politischen Raum auseinander. So zeichnet Martina Steber die Programmentwicklung der Deutschen Partei nach, die sich bewusst als konservative Partei verstand und deren Protagonisten mit beachtlichem intellektuellem Anspruch eine antirationalistisch, angelsächsisch gefärbte Theorie des Konservatismus zu formulieren versuchten. Noch bis zur Regierungsbildung 1957 – trotz absoluter Mehrheit der Union – war die Deutsche Partei mit ihrem konservativ-marktwirtschaftlichen Profil für Konrad Adenauer ein nützlicher Faktor zur Austarierung der Balance innerhalb der Union und der von ihm gebildeten Kabinette. Auf Dauer war sie jedoch der rasanten Integrationskraft von CDU und CSU nicht gewachsen.

Peter Becker arbeitet die programmatischen Vorstellungen von Andreas Hermes auf. Wegen seines heldenhaften Widerstands gegen die Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone gehört er zu den großen Gründergestalten der CDU. Aber seine marktkritischen, vom Schutzgedanken dominierten Vorstellungen zur Agrarpolitik wirkten, wie Becker gleichermaßen respektvoll wie kritisch akzentuiert, in der frühen Bundesrepublik anachronistisch und waren nicht zukunftsträchtig.

Verdienstvoll ist der Band ebenfalls aufgrund seiner ideenhistorischen Skizzen zu den beiden Politikwissenschaftlern Arnold Bergstraesser und Carl Joachim Friedrich. Der Kultursoziologe Bergstraesser ging ähnlich wie Sieburg einen langen und keineswegs geradlinigen Weg, bevor er nach seiner Rückkehr aus dem amerikanischen Exil zu einer der großen Gründergestalten der deutschen Politikwissenschaft und der politischen Bildung wurde. Sebastian Liebold skizziert Bergstraesser als „konservativen Humanisten“ und arbeitet dessen Verständnis von „praktischer Wissenschaft“ treffend heraus. Bergstraesser inspirierte eine große Schülerschar, indem er die Politische Wissenschaft auf die Entscheidungsnöte der politischen Praxis ausrichtete und daraus einen Bildungs-, Beratungs- und Orientierungsauftrag ableitete.

Wohltuend unaufgeregt

Carl Joachim Friedrich hat es zwar mit seiner Totalitarismusdefinition zu Lehrbuchrang gebracht, über seine ideenhistorisch fundierten Beiträge zur Theorie des Verfassungsstaats und zur Staatsräson im Verfassungsstaat ist jedoch viel Gras gewachsen. Frank Schale würdigt Friedrichs Theorie, verschweigt aber in seiner Skizze nicht, dass sich Friedrich in seinem Spätwerk autoritären Vorstellungen zuwandte. Überhaupt zeichnet sich der Band durch eine wohltuend unaufgeregte Art aus, die Vorzüge und Untiefen der jeweiligen Autoren herauszuarbeiten und damit auch biographische Verwerfungen, wie sie das 20. Jahrhundert in den meisten Fällen mit sich brachte, als solche zu benennen. Nils Lange gelingt dies auch in seinem Aufsatz über den weithin vergessenen Publizisten Matthias Walden.

Den Beitrag mit dem größten Aktualitätsbezug steuert Tobias Bartels bei. Er entfaltet die heuristische Unterscheidung zwischen „moderatem“ und „radikalem“ Konservatismus: Ordnung, Realpolitik, Common Sense und Mitte auf der einen Seite; Reaktion, Antiliberalismus, Metapolitik, nationale Identität und Souveränität auf der anderen. An dieser Stelle ist freilich eine Trennlinie gezogen, die mehr markiert als bloße Spielarten derselben Denkhaltung. Es handelt sich hier um eine fundamentale Wasserscheide des politischen Denkens. Die Frage, ob sich radikale und autoritäre Kräfte des Begriffs „Konservatismus“ bemächtigen können oder ob freiheitlich-gemäßigte Kräfte der Mitte den Begriff erfolgreich für sich beanspruchen und daraus ein realistisches Handlungsprogramm ableiten, ist eine der spannenden Fragen des Parteienwettbewerbs, die seit der letzten Bundestagswahl auf der Tagesordnung stehen.

Die Bundesrepublik verfügte in allen Phasen ihres Bestehens über intellektuelle Fürsprecher, die diesen Staat mit seiner bürgerlichen Ordnung – durchaus mit kritischer Sympathie und der Fähigkeit zum Widerspruch gegen politische Fehlentscheidungen – mitgetragen haben. Zu diesen „Bundesrepublikanern“, die für Marktwirtschaft, Westintegration, Wiedervereinigung und andere Leitentscheidungen eintraten, sind auch viele Konservative zu zählen. Es mag an ihrem Naturell liegen, dass sie bisweilen unterschätzt werden, weil andere rebellischer das Wort ergriffen und spektakulärer geirrt haben. In der Ideengeschichte der Bundesrepublik ist in dieser Hinsicht noch einiges zurechtzurücken.

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Hans Jörg Hennecke, geboren 1971 in Zülpich, außerplanmäßiger Professor für Politikwissenschaft, Universität Rostock.

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