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Eine Reflexion aus Anlass der Verleihung des Literaturnobelpreises

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Jedes Jahr am 10. Dezember schaut die literarische Welt nach Stockholm. Dort wird der Nobelpreis für Literatur vergeben. Herta Müller war 2009 die dreizehnte in der Reihe deutschsprachiger Preisträger – und die dritte deutschsprachige Autorin innerhalb von zehn Jahren. Der Nobelpreis, der so alt ist wie das 20. Jahrhundert, ist die weltweit höchste, angesehenste und mit umgerechnet einer Million Euro höchstdotierte Literaturehrung, die ein Schriftsteller zeitlebens erfahren kann, ein „Weltpreis“ (Thomas Mann). 2014 erhält ihn ein hierzulande vergleichsweise Unbekannter, der französische Romanautor Patrick Modiano.

Der Nobelpreis krönt ein internationales Auszeichnungssystem, das zwar von Land zu Land verschieden, aber in keinem anderen Staat Europas so ausgeprägt ist wie in Deutschland: Deutlich über 600 Literaturpreise und Stipendien sind es hierzulande jährlich. Bis auf wenige Ausnahmen steht so gut wie jeder verstorbene Dichter von Rang mit seinem Namen für einen Preis. Ob das gut oder schlecht ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Die einen befürchten, dass zu viele Preise das Genie in die Ecke treiben und das Mittelmaß fördern. Ingo Schulze hat einmal die vermeintliche Abhängigkeit des Preisträgers vom Sponsor des Preisgeldes angeprangert, Daniel Kehlmann kritisiert den kunstfeindlichen Wettlauf der Autoren, und Michael Lentz distanziert sich von neidvollen Kollegen. Die anderen sehen in der Preispolitik keine Überförderung, sondern eine existenzsichernde Maßnahme für die Autoren sowie eine Kulturveranstaltungsform, von der alle profitieren. So viel verdient ein Autor durch Bücherverkauf und Lesungshonorare nicht, als dass er nicht des Lebensunterhalts wegen für jede literarische Förderung dankbar wäre.

 

Der Poeta laureatus

Das war so und ist tatsächlich noch immer so. Im Jahr 1341 wurde Petrarca auf dem römischen Kapitol zum Dichter-König gekränzt. Der Lorbeer des Poeta lauretaus sicherte ihm nicht nur Ehre und Ruhm, sondern auch ein erkleckliches Einkommen. Im 19. Jahrhundert wurde diese Praxis durch ein differenziertes Preissystem höfischer und bürgerlicher Preisstiftungen abgelöst. Noch 1750 erhielt Klopstock vom dänischen König eine ordentliche Lebensrente. Die 1855 gegründete Deutsche Schillerstiftung, die satzungsgemäß „literarischen Talenten tatkräftig Beistand leisten sowie Schriftstellern im Falle schwerer Lebenssorge helfen“ wollte, unterstützte bereits im Gründungsjahr den Schriftsteller Otto Ludwig mit 400 Talern. Der 1859 gestiftete Schillerpreis – der erste seiner Art – war mit für damalige Verhältnisse opulenten 1.000 Goldtalern (ein Taler Gold entsprach 3,32 Mark) ausgestattet.

Heute bewegen sich die Dotationen für Literaturpreise im weiten Spektrum zwischen 2.000 und 40.000 Euro. Daneben gibt es einige undotierte Ehrengaben. Der Träger des Deutschen Bücherpreises, der in den Jahren 2002 bis 2004 auf der Leipziger Buchmesse verliehen wurde, erhielt statt des Schecks eine von Günter Grass gestaltete, acht Kilogramm schwere Bronzetrophäe, den sogenannten Bücher-Butt, der im Werk von Grass für Lebenserfahrung und „Weisheit“ steht.

Üblicherweise erhält der Preisträger vom Preisstifter neben dem Scheck eine Urkunde; im Gegenzug liefert er eine Dankesrede und seinen guten Namen. Insofern wird der Preisträger durch den Preis geehrt, umgekehrt wird der Preis durch den Preisträger geadelt. Dieses Ritual der Gabentauschlogik ist ein erstaunlich stabiles Element im innovationsfreudigen Kulturbetrieb. Keine Feierstunde ohne das festgesetzte Ritual: Dazu gehören eine Laudatio auf den Preisträger, eine Dankesrede und der Akt der Übergabe des Preises, meist mit musikalischer Umrahmung.

 

Prominente Ritual-Brecher

Interessant sind die Preisverleihungen, bei denen das Ritual infrage gestellt wird. Von Thomas Bernhard (1931–1989), dem Enfant terrible der österreichischen Literatur, gibt es ein ganzes Buch über diese strategisch wichtigen Ritualbrüche namens lex2009 veröffentlicht.

Bei der Verleihung des Grillparzer-Preises (1972) setzte er sich, weil ihn niemand in Empfang nahm, trotzig in die Mitte des Saals statt in die erste Reihe, in Bremen hielt er (1966) die allerkürzeste Rede, die je ein Bremer Literaturpreisträger gehalten hat, beim Österreichischen Staatspreis für Literatur (1967) sprach er über die „Nichtigkeit aller Staaten“, beim Büchner-Preis (1970) verglich er das Gewicht der Urkunden der Preisträger. Robert Gernhardt (1937–2006) waren Literaturpreise so vergällt, dass er 1983 das Nobelpreiskomitee bat, ihn am besten gar nicht erst in Erwägung zu ziehen. Auch Walter Kempowski (1929–2007) hat in Weimar, auf einer Parkbank an der Ilm, darüber nachgedacht, warum Preise so oft zu früh oder zu spät kämen und was dies bei dem Autor anrichten könne. Diesmal hatte der Autor Glück, der lange Zeit als besserer Unterhaltungsautor und in die Literatur verirrter Archivar verkannt worden war. Mit seinen Überlegungen bedankte er sich im Frühjahr 1994 für den zwei Jahre zuvor von Bernhard Vogel, damals Ministerpräsident des Freistaates Thüringen, ins Leben gerufenen Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung. Der kam jetzt für seine epochale Chronik Das Echolot genau zur „rechten Zeit“.

Dass der Preismarkt noch lange nicht gesättigt ist, zeigt der Deutsche Buchpreis. Die Entscheidung für Lutz Seiler im zehnten Jahr des mit 25.000 Euro dotierten Buchpreises ist ein Gütesiegel der deutschen Literatur. Seilers Roman Kruso, eine Robinsonade über Querdenker und Freiheitsliebhaber im Sommer 1989 auf der Insel Hiddensee, wirft Licht auf das 25. Gedenkjahr der Deutschen Einheit.

 

Im Nebel der Neuerscheinungen

Auch 2015 werden die Buchpreisjuroren wieder 200 Romane in knapp vier Monaten zu lesen haben, bevor sie ihre Longlist und Shortlist ausrufen. Dieser Concours macht das Verfahren spannend. Listen sind Marketinginstrumente, ebenso wie die Blind-Date-Lesungen von Longlist-Autoren von Köln bis Sankt Petersburg; das Geheimnis, wer wo liest, wird erst am Tag der Lesung gelüftet. Natürlich haben Bestsellerlisten und Bestenlisten (was nicht dasselbe ist!) immer schon Lücken. Ibsen, Tolstoi und Zola wurden seinerzeit als Nobelpreiskandidaten abgelehnt. Dem Buchpreis fehlt die Lyrik, weil der Buchpreis eigentlich ein Romanpreis ist. Und die Gründe, warum in einer Jury der eine Autor vorgeschlagen wird und der andere ignoriert, verlieren sich im Nebel der Neuerscheinungen. Wenn im Schnitt pro Tag zwei Preise verliehen werden, müsste theoretisch jeder namhafte Autor – fast 800 stellt das Kritische Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur derzeit vor – einmal im Leben einen erhalten können. Doch es gilt Marcel Reich-Ranickis Regel: „Preisgekrönt wird, wer preisgekrönt ist.“

 

Aufwind für das Buch, nicht für den Buchhandel

Nicht zuletzt werden die Preise, die es 2015 zu verleihen gibt, auch dem vergleichsweise alten Medium Buch Aufwind geben. Die Kulturstaatsministerin Monika Grütters hat 2014 mit einem Preisgeld von rund einer Million Euro eine Dotation für unabhängige Buchhandlungen ausgeschrieben. Das Buch wird überleben, der Buchhandel nicht, befürchten einige. Jeder siebte Deutsche bestellt inzwischen Bücher im Internet. Den Online-Anbietern wird vorgeworfen, Empfehlungslisten zu manipulieren und die Lieferzeiten bestimmter Bücher an ihrer Rabattierung zu orientieren.

„Der Schriftsteller ist schreibend, kein Anstellbarer, weder für eine Ideologie noch für Anerkennung oder Geld. Gebraucht wird er von all jenen, die Leser sind […] Es spielt dabei kaum eine Rolle, ob die Literatur wie vor Gutenberg und in bestimmten Kulturen und kleinen Sprachen eher mündlich weitergegeben wird, ob sie in Stein gemeißelt, auf Papier gedruckt im Bleisatz und gebunden oder elektronisch erfasst, auf Papier hundertfach kopiert oder auf dem E-Reader in den Kopf des Lesers gerät. Literatur entsteht ja erst im Kopf des Lesers“, sagte die Schriftstellerin Julia Franck auf einem Kulturabend der christdemokratischen Fraktion im Deutschen Bundestag am 24. April 2013.

Was bleibt? Literaturpreise sind ein Markenzeichen unseres föderalistischen Kulturbetriebs. Sie unterstreichen die Vielfalt des literarischen Lebens. Sie kurbeln den Buchverkauf an und geben der deutschen Literatur einen kräftigen Aufmerksamkeitsschub, wie die Nobelpreisverleihung an Günter Grass (1999) gezeigt hat. Zudem sind sie ein Instrument, um die Gegenwartsliteratur zu ordnen und lesenswerte Bücher anzuzeigen. Vom eigenen Lesen und vom selbstständigen Beurteilen der Bücher entbinden Literaturpreise nicht.

 

Michael Braun, geboren 1964 in Simmerath, Leiter des Referats Literatur der Konrad-Adenauer-Stiftung Sankt Augustin und außerplanmäßiger Professor für Neuere deutsche Literatur und ihre Didaktik an der Universität zu Köln.
 

Literaturempfehlungen

Bernhard, Thomas: Meine Preise, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. Deutscher Buchpreis 2009. Leseproben, Börsenblatt, Frankfurt am Main 2009.
Gernhardt, Robert: Wege zum Ruhm. 13 Hilfestellungen für junge Künstler und 1 Warnung, Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009.
Janetzki, Ulrich / Böde, Christina: Preise und Stipendien. Handbuch für Autoren, Quadriga Verlag, Berlin 2000.
Wiesand, Andreas J.: Handbuch der Kulturpreise. 4. Neufassung des Standardwerkes zur individuellen Künstlerförderung 1995–2000, Arcant Media, Bonn 2001.

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