Die deutsche Wirtschaft befindet sich in einem guten Zustand. Das Wachstum ist stabil, die Beschäftigung liegt auf einem Allzeithoch, und wachsende Staatseinnahmen sorgen für ausgeglichene öffentliche Haushalte. Gleichzeitig herrscht Uneinigkeit darüber, wer von diesen Entwicklungen profitiert: Wachsende Ungleichheit wird genauso problematisiert wie eine vermeintliche Prekarisierung. Es werden Vermögens- und Erbschaftssteuern diskutiert, die Abschaffung der Abgeltungssteuer gefordert, der Ausbau von Sozialleistungen verlangt. Es geht also um die oberen und die unteren zehn Prozent der Einkommensverteilung. Der Normalbürger und mit ihm die staatstragende Bevölkerungsgruppe, die Mittelschicht, gerät aus dem Blickfeld.
Einen grundsätzlich anderen Ansatz verfolgt die Vitalpolitik, wie sie von Alexander Rüstow, einem Gründervater der Sozialen Marktwirtschaft, erdacht wurde. Ihr Kerngedanke besteht darin, Befähigungsgerechtigkeit innerhalb einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung umzusetzen – eine Politik also, die Inklusion in die Mittelschicht zum Ziel hat und nicht die Alimentierung oder Bestrafung der gesellschaftlichen Ränder. Eine starke Mittelschicht ist das wirtschaftliche und soziale Fundament unserer Wirtschaftsordnung, auch und insbesondere in der Sozialen Marktwirtschaft. Wie steht es um diese Mittelschicht in Deutschland?
Die aktuelle Mittelschichtsstudie der Konrad-Adenauer-Stiftung stützt die Ergebnisse der bereits 2012 und 2015 veröffentlichten Untersuchungen: Die Mittelschicht bleibt in ihrer Bedeutung stabil und erwirtschaftet etwa 74 Prozent des Gesamteinkommens. Die Ungleichheit, gemessen durch den Gini-Koeffizienten, hat sich seit 2005 nicht weiter erhöht. Die Mittelschicht profitiert aber laut aktueller Datenlage nicht von den positiven wirtschaftlichen Entwicklungen durch Einkommenszuwächse. Das reale mittlere Einkommen in der Mittelschicht hat sich in den letzten zehn Jahren nur leicht erhöht, und das trotz oder gerade wegen steigender Erwerbstätigkeit.
Dies hat seine Gründe jenseits der eigentlichen Einkommensentwicklung. Zudem prägen zunehmend soziodemografische Merkmale wie Bildung und Migrationshintergrund die „Schichtzugehörigkeit“. Dabei ist die Mitte hier über das Einkommen definiert. Personen mit einem Einkommen zwischen 60 und 200 Prozent des mittleren Einkommens von rund 1.700 Euro in Deutschland (Median) zählen zur Mittelschicht. Nach dieser Definition gehören derzeit rund 77 Prozent der Gesamtbevölkerung der Mittelschicht an.
Arbeitsmarkt
Es bedarf einer Rückbesinnung auf eine Mittelschichtspolitik, die nicht bevormundet, sondern auf Befähigungsgerechtigkeit ausgerichtet ist. Während die Sozialdemokratie eher zu einer paternalistischen Arbeitsmarktregulierung tendiert, ist der positive Blick auf Arbeit ein Markenkern der Christdemokratie. Es geht weniger darum, das Arbeitsleid zu betonen, sondern darum, die persönliche Sinnstiftung von Arbeit für den Einzelnen zu würdigen. Karrierewege im Erwerbsleben tragen wesentlich zu einer gerechten, durchlässigen Gesellschaft bei. Teilhabe am Erwerbsleben entspricht dem Wunsch vieler Menschen, Verantwortung zu übernehmen und sich aktiv einzubringen. Arbeit zu ermöglichen, ist das Leitbild einer Vitalpolitik. Moderner könnte man den Auftrag einer Vitalpolitik in den Bereichen Arbeit und Soziales mit „Inklusion in und durch Arbeit“ übersetzen. Ziel ist es, den Satz Ludwig Erhards – „Die Arbeit ist und bleibt die Grundlage unseres Wohlstands“ (1963) – entgegen allen Unkenrufen, die das Ende der Arbeit verkünden, umso entschiedener zu vertreten.
Statt bei der Digitalisierung der Arbeit die Gefahren von technologischer Arbeitslosigkeit zu betonen, gilt es, stärker den Errungenschaften des technologischen Fortschritts Rechnung zu tragen. Hierzu gehören beispielsweise die neuen Freiheitsgrade bei der Arbeitsorganisation, die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und die stetig sinkende körperliche Belastung. Wir sollten in das marktwirtschaftliche System und damit in die individuellen Erwerbsentscheidungen mündiger Arbeitnehmer und Arbeitgeber Vertrauen haben. Innovationsfreundliche Arbeitsmarktregulierung ermöglicht neue Beschäftigungsformen und -organisationen. Eine Vitalpolitik bevormundet nicht, sie versucht, Handlung und Verantwortung subsidiär in den kleinen Einheiten zusammenzuhalten. Die Rolle des Staates beschränkt sich darauf, dort zu unterstützen, wo Menschen Benachteiligung oder Überforderung erfahren. Das bedeutet aber gerade nicht, paternalistisch in die Entscheidungsfreiheit der Akteure einzugreifen.
Sozialpolitik
Es ist zu begrüßen, dass derzeit eine Debatte über einen sozialen Arbeitsmarkt geführt wird, um Langzeitarbeitslosen durch staatlich unterstützte Arbeitsplätze eine Perspektive zu geben. Aber die Abkehr von den drei Prinzipien Wettbewerbsneutralität, Zusätzlichkeit und öffentliches Interesse in der Sozialen Marktwirtschaft muss eine gut begründete Ausnahme bleiben. Deshalb ist ein solcher Ansatz nur für eine eng zu definierende Gruppe wettbewerbsrechtlich vertretbar. Hier steht nicht der arbeitsmarktpolitische Ansatz, sondern ein sozialpolitischer Gedanke im Mittelpunkt. Die zu entwickelnden Instrumente sollten sich deshalb auf einen verfestigten Langzeitleistungsbezug als Auswahlkriterium beschränken. In diesen Fällen sind eine Lebenslaufstabilisierung und der Abbau von Vermittlungshemmnissen vertretbare (Zwischen-)Ziele. Für eine Vitalpolitik ist es nicht hinnehmbar, dass bestimmte Gruppen dauerhaft vom Erwerbsund damit Gesellschaftsleben exkludiert sind. Die soziale Inklusion folgt der ökonomischen und ist ein politischer Auftrag.
Leider findet eine freiheitliche Orientierung der Sozialpolitik wenig Gehör. Paternalismus dringt eher durch. Die Konstruktion eines Kindergeldzuschlages ist ein plakatives Beispiel für einen paternalistischen Ansatz. Mir ist kein Land bekannt, das eine Sozialleistung bereithält, deren Ziel es ist, den Bezug einer anderen Sozialleistung (Hartz IV) zu verhindern. Der Kindergeldzuschlag mit seinen komplizierten Zuschlagssätzen, Transferentzugsraten und Verdienstgrenzen wird vielleicht von Mathematikern geschätzt, von Mittelschichtsfamilien aber sicher nicht. Eine Vitalpolitik würde weniger auf Sozialtransfers setzen und stattdessen kostenlose Betreuungsinfrastruktur bereitstellen. In den meisten Bundesländern sind Familien mit kleinen Kindern von Kitagebühren betroffen. Solche nach Einkommen gestaffelten Gebühren und weitere Sozialabgaben verschärfen die Steuerprogression. In Deutschland ist die absurde Situation eingetreten, dass für die meisten Berufsgruppen die Schreibtischausstattung voll steuerlich absetzbar ist, die Kitagebühren jedoch nur zu zwei Dritteln.
Steuern
In den vergangenen Jahren sind die Steuereinnahmen stärker gewachsen als die Wirtschaft insgesamt. Die Steuer- und Abgabenquote nimmt dennoch seit Jahren kontinuierlich zu. Lag sie 2010 unter 38 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, ist sie in den letzten Jahren auf über 40 Prozent gestiegen. Eine wesentliche Einnahmequelle ist dabei die Lohnsteuer, deren Anteil an den Steuereinnahmen im gleichen Zeitraum von 34 auf 36 Prozent gestiegen ist. Auch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) attestiert Deutschland regelmäßig eine zu hohe Abgabenlast. Derart hohe Belastungen senken Arbeitsanreize für Arbeitnehmer, insbesondere im Niedriglohnbereich, und verhindern die Vermögensbildung und private Altersvorsorge. Es ist schwer vorstellbar, dass untere und mittlere Einkommen angesichts solcher Belastungen Vermögen bilden oder Altersvorsorge betreiben können, obwohl der demografische Wandel genau dies notwendig macht. Die wichtigsten steuerlichen Entlastungsschritte der letzten zehn bis fünfzehn Jahre waren weniger politisch initiiert, sondern sind auf Urteile des Bundesverfassungsgerichtes zurückzuführen – etwa die Wiedereinführung der Pendlerpauschale, die verbesserte Absetzbarkeit von Vorsorgeaufwendungen für die Altersvorsorge und Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung. Im deutschen Steuersystem gab es lange keine grundlegenden Reformen. Während die Grundfreibeträge regelmäßig an preisliche Veränderungen angepasst wurden, hat sich in der Besteuerung der niedrigen und mittleren Progressionsstufen wenig getan. In der Folge wurde die Progression steiler und die Belastung des zusätzlich verdienten Euros (Grenzsteuersatz) stärker. Wenn die Mittelschicht gestärkt werden soll, dann muss der Aufstieg erleichtert werden und anreizkompatibel sein. Gerade im unteren Einkommensbereich führt zusätzliche Arbeit nur zu geringen Einkommenszuwächsen, die den Ausstieg aus der staatlichen Unterstützung wenig attraktiv machen.
Vermögenspolitik
Die Einkommensentwicklung spiegelt die Vermögensentwicklung in einer Gesellschaft wider. In Zeiten des demografischen Wandels ist privates Vermögen besonders für die Alterssicherung relevant. Dabei muss das heute geschaffene Einkommen von allen Bevölkerungsschichten gut angelegt werden. Momentan ist dies jedoch nur bedingt der Fall. Im internationalen Vergleich steht Deutschland nicht gut da. Bei der Wohneigentumsquote ist Deutschland weiterhin Schlusslicht in Europa. Die mittleren Privatvermögen sind vergleichsweise niedrig, der Median liegt bei rund 60.000 Euro. Zudem sind Vermögen ungleicher verteilt als die Nettoeinkommen. Rund zwanzig Prozent aller Haushalte verfügen über kein Vermögen, während die wohlhabendsten zehn Prozent die Hälfte aller Vermögen besitzen.
Durch staatliche Umverteilung gelingt es zwar auch hier, Ungleichheiten zu reduzieren. Die Rentenanwartschaften senken die Vermögensungleichheit und die Vermögen steigen an. Doch können staatliche Sicherungssysteme die private Vermögensbildung nicht ersetzen. Nur so behält der Einzelne die Verantwortung, selbst produktiv mit dem erarbeiteten Vermögen zu sein.
Eine Wiedereinführung alter Instrumente oder die Entwicklung neuer komplexer Förderungsformen ist nicht die Lösung. Stattdessen würden grundlegende Überarbeitungen bestehender Steuern und Abgaben nicht nur die Belastung senken, sondern Transparenz und Einfachheit schaffen. Ein gutes Beispiel ist die Grunderwerbssteuer: Schon im Bundestagswahlkampf 2017 wurden die in fast allen Bundesländern gestiegenen Grunderwerbssteuersätze problematisiert. Zudem sind die Baukosten durch rechtliche Auflagen in den letzten Jahren sprunghaft gewachsen. Eine grundlegende Reform, um steuerliche und bürokratische Belastungen bei der Schaffung von Wohneigentum zurückzudrängen, wäre notwendig.
Baukindergeld
Mit dem im Koalitionsvertrag beschlossenen und in Eckpunkten bereits abgestimmten Baukindergeld hält die Politik wiederum eine nur punktuelle Mittelschichtspolitik bereit. Häuslebauer sollten aber möglichst rasch ihre Eigenheimpläne realisieren, denn die Förderung soll nur in den Jahren 2018 bis 2020 beantragt werden können. Geplant ist, dass Familien über zehn Jahre einen Zuschuss von 1.200 Euro pro Kind für eine selbst genutzte Immobilie erhalten. Allerdings nur, wenn eine Reihe von Bedingungen erfüllt ist: Das Familieneinkommen darf 75.000 Euro nicht übersteigen. Für jedes Kind erhöht sich diese Verdienstgrenze um 15.000 Euro Jahreseinkommen. Die Kinder dürfen nicht älter als achtzehn Jahre alt sein.
Von Vermögenspolitik sollten alle profitieren. Wer in Deutschland Vermieter ist, darf die Abschreibungen steuerlich berücksichtigen. Wer den engen Kriterien des Baukindergeldes gerecht wird, erhält über zehn Jahre eine Förderung. Die steuerliche Berücksichtigung des Werteverzehrs der selbst genutzten Immobile bleibt allen anderen Bürgern, die eine Immobilie selbst nutzen möchten, verwehrt. Hier anzusetzen und diesen Werteverzehr für alle Immobilienbesitzer steuerlich zu berücksichtigen (analog zum weggefallenen Paragraphen 7 b Einkommensteuergesetz), wäre eine unbürokratische Alternative, die der gesamten Mittelschicht zugutekäme.
Im Zentrum der Sozialen Marktwirtschaft steht ein mündiger, eigenverantwortlicher Bürger. Die Mitte ist das wirtschaftliche und soziale Rückgrat der bürgerlichen Gesellschaft. Die Politik sollte darauf wieder mehr vertrauen. Die Mitte ist robust. Eine Politik für die Mittelschicht ist die richtige Antwort auf aktuelle Gerechtigkeitsdiskurse. Wir benötigen eine Rückbesinnung auf eine Vitalpolitik, die das Versprechen einer Befähigungsgerechtigkeit für die ganze Gesellschaft bereithält. Es ist die Mittelschicht, die bürgerliche Mitte, die den Kitt bildet, der unsere Gesellschaft zusammenhält. Mittelschichtspolitik ist eine Politik im Sinne der Sozialen Marktwirtschaft.
Literatur
Die Daten und Argumentationen werden im „Mittelschichtsbericht 2018“ der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. von den Autoren Astrid Pape und Thomas Köster ausführlich dargestellt, www.kas.de/wf/de/33.53468.
Bundesministerium der Finanzen (2018): Finanzbericht 2018, www.bundesfinanzministerium.de/ Content/DE/Standardartikel/Themen/Oeffentliche_Finanzen/Wirtschafts_und_Finanzdaten/ Finanzberichte/Finanzbericht-2018.html.
Thomas Köster / Tobias Hentze (2016): Einkommensbesteuerung der Mittelschicht. Strukturelle Veränderungen oder gezielte Entlastungen?, Analysen & Argumente 229/2016, Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., Sankt Augustin / Berlin, www.kas.de/wf/doc/kas_47331-544-1-30.pdf.
OECD (2018): Taxing Wages 2018, OECD Publishing, Paris, www.oecd-ilibrary.org/docserver/ tax_wages-2018-en.pdf.
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Thomas Köster, geboren 1982 in Paderborn, Koordinator Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in der Hauptabteilung Politik und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung.