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Der Parteienwettbewerb vor der Landtagswahl 2017

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Auf den ersten Blick scheinen die Machtverhältnisse in Nordrhein-Westfalen geklärt zu sein. Die Landtagswahl 2012 war eine klare Bestätigung für die rot-grüne Koalition und eine schmerzhafte Niederlage für die CDU. Bereits seit 1966 dominiert die SPD Nordrhein-Westfalen als Regierungspartei und setzt alles daran, die von den CDU-Ministerpräsidenten Karl Arnold und Franz Meyers geprägten Gründungsjahre vergessen zu machen. Die Regierungszeit von Jürgen Rüttgers zwischen 2005 und 2010 möchte sie als einmaligen Betriebsunfall abtun. Doch ganz so eindeutig ist die Dominanz der SPD nicht. Bis Ende der 1970er-Jahre rangen die beiden großen Parteien hart um die Führungsrolle im Land. Nur zwischen 1980 und 1995 beherrschte die SPD unter Johannes Rau unangefochten das Feld. Seit Mitte der 1990er-Jahre ist wieder Bewegung in den Parteienwettbewerb gekommen. Die SPD verlor die absolute Mehrheit dauerhaft und war nunmehr auf die Grünen als Koalitionspartner angewiesen. Seit den Kommunalwahlen 1999 dominiert die CDU wieder das Geschehen in den Städten, Gemeinden und Landkreisen und legte damit die Basis für den vorübergehenden Machtwechsel auf Landesebene im Jahr 2005. Auf geschwächtem Fundament gelang der SPD 2010 die Rückkehr an die Macht.

 

Heterogene Parteienlandschaft

Die politische Landschaft im größten deutschen Bundesland war und ist ausgesprochen heterogen. Auf engem Raum liegen Hochburgen und Diasporagebiete der beiden großen Volksparteien beieinander. Darin spiegelt sich das buntscheckige Bild der Boom- und Krisenregionen, der Einkommensverhältnisse, der demografischen Strukturen, des Nebeneinanders der Konfessionen und der urbanen und ländlichen Regionen, die Vielfalt der Lebenswelten und nicht zuletzt der Parteienmilieus wider. Wer hier Mehrheiten zusammenhalten will, braucht eine große Spannweite und Integrationskraft.

Seit den frühen 1980er-Jahren erodiert die einst dominante Stellung der beiden Volksparteien in Nordrhein-Westfalen. 1975 vereinigten CDU und SPD noch fast 92 Prozent der Wählerstimmen bei einer Wahlbeteiligung von 86 Prozent auf sich, 2012 waren es noch 65 Prozent bei einer Wahlbeteiligung von knapp sechzig Prozent. Auch die Zahl ihrer Mitglieder hat sich seither ungefähr halbiert. Das blieb nicht ohne Wirkung auf die Bindung der Wähler und die Verankerung der Parteien in der Gesellschaft. Die Wähler verhalten sich volatiler, und den Parteien fällt es immer schwerer, gesellschaftliche Realitäten sowie kulturelle Veränderungen wahrzunehmen und in ihrer programmatischen Arbeit abzubilden.

 

Systemkritische Parteien

Nimmt man die Entwicklung der Umfragen seit der letzten Landtagswahl zum Maßstab, dann könnte auch im Mai 2017 eine ähnlich offene Lage wie bereits 2010 eintreten. Es spricht derzeit wenig dafür, dass eine der beiden Volksparteien stark genug sein wird, um allein oder mit einem Wunschkoalitionspartner eine Regierung bilden zu können. Zwar werden die Piraten aller Voraussicht nach nicht wieder in den nächsten Landtag zurückkehren, aber mit der Linken und der AfD könnten gleich zwei systemkritische Parteien ins Landesparlament einziehen.

Die Linke ist in Nordrhein-Westfalen keineswegs gefestigt, aber ihr Potenzial ist nach wie vor groß genug, um vor allem im Ruhrgebiet genügend enttäuschte und entfremdete Wähler des traditionell sozialdemokratischen Milieus zu gewinnen. Entsprechend konfliktorientiert wird sie gegenüber der SPD ihren Wahlkampf anlegen.

Auch die AfD ist als Faktor ernst zu nehmen. Ihr Potenzial ist mit zehn Prozent vorsichtig taxiert. Dass die Partei zahlenmäßig zur dritt- oder viertstärksten Kraft werden könnte, ist nicht allein ein Problem der CDU. Sie könnte auch in der Kernwählerschaft der SPD wildern, wie sich in der einst sozialdemokratischen Hochburg Essen derzeit studieren lässt. Dort ist ein bekannter Kommunalpolitiker nach 26 Jahren SPD-Mitgliedschaft zur AfD gewechselt.

Für die Wahlchancen der AfD ist es nachrangig, ob ihr Spitzenpersonal und ihr Programm diskutabel sind oder ob man es mit einer explosiven Mischung von Dilettanten und Demagogen zu tun hat. Es reicht aus, wenn die von der AfD besetzten Themen aus Sicht der Wähler akut bleiben. Wer die AfD kleinhalten will, muss sie in der Sache stellen und dort Lösungen bieten, wo die AfD nur mit Krawallrhetorik agiert. Bloße Empörung der anderen stärkt sie nur.

 

Strategien im Landtagswahlkampf

Der Landtagswahlkampf wird unvermeidbar auch unter bundespolitischem Kalkül geführt. Eine wichtige Festlegung hat bereits die FDP vorgenommen, die in Nordrhein-Westfalen einen stabilen Eindruck macht und von dort aus ihre Rückkehr in den Bundestag ansteuert. Ihr Bundesund Landesvorsitzender Christian Lindner setzt darauf, dass er in erster Linie potenzielle CDU-Wähler erreichen muss. Deshalb hat er ausgeschlossen, dass die Liberalen die Koalition von SPD und Grünen unterstützen könnten. Würde er davon nach der Landtagswahl abrücken, säße er im Bundestagswahlkampf zwischen allen Stühlen.

Auch die SPD lässt bereits ihre Strategie erkennen. Ihr aktuelles Verhalten deutet darauf hin, dass sie im Landtagswahlkampf auf eine konsequente Personalisierung setzt, um mit Ministerpräsidentin Hannelore Kraft von der – auch nach eigenen Maßstäben – schwachen Regierungsbilanz bei der wirtschaftlichen Entwicklung, in der Bildungspolitik, in der Armutsbekämpfung oder in der Infrastrukturpolitik abzulenken. Ihre Stellung als stärkste Partei versucht die SPD neuerdings zu sichern, indem sie in der Verkehrs-, Bildungs- und Industriepolitik die Konfliktpunkte zu den Grünen hervorkehrt. Diese Rechnung kann wie in Rheinland-Pfalz aufgehen, bliebe aber ein Nullsummenspiel, bei dem die Koalition am Ende ohne Mehrheit dastehen könnte. Eine spannende Frage ist daher, wie klar die Absage von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft an eine Regierungszusammenarbeit mit der Linken tatsächlich ist. Oder wird sie ein Rot-Rot-Grün-Bündnis entgegen allen Beteuerungen nach der Wahl doch eingehen?

Für die Grünen dürfte der Wahlkampf schwierig werden: Ihre Spitzenkandidatin, Schulministerin Sylvia Löhrmann, gilt weit über die Parteigrenzen hinweg als umgänglich und sachorientiert. Aber die durchwachsene Bilanz der Bildungspolitik dürfte ihr im Wahlkampf wie ein Mühlstein am Hals hängen. In den eigenen Reihen populärer ist Umweltminister Johannes Remmel, der sich allerdings außerhalb der Grünen denkbar unbeliebt gemacht hat. An seiner politischen Bilanz wird deutlich, was die NRW-Grünen nicht nur in der Industrie- und Mittelstandspolitik von ihren Parteifreunden in Baden-Württemberg unterscheidet. Damit laufen die Grünen Gefahr, unabhängig von ihrem Wahlergebnis ins koalitionspolitische Abseits zu geraten.

 

Medienberichterstatter zunehmend kritischer

Die CDU hat nach den Niederlagen von 2010 und 2012 den Partei- und Fraktionsvorsitz klugerweise wieder in eine Hand gelegt, sich unter Armin Laschet neu geordnet und stabilisiert. Ihr muss daran gelegen sein, dass die SPD keinen weichgespülten Persönlichkeitswahlkampf ohne Bodenhaftung führen kann. Ihr Augenmerk wird sie deshalb darauf richten müssen, das Image der Ministerpräsidentin mit den Defiziten und Versäumnissen der rot-grünen Regierungsbilanz zu verbinden. Erfolgsaussichten hat sie, wenn sie den Nachweis führen kann, dass die jetzige Landesregierung auch ihre eigenen sozialpolitischen Ansprüche und Sicherheitsversprechen nicht erfüllt hat. Dieser Nachweis ist der CDU zuletzt einige Male gelungen. Seit etwa einem Jahr ist zu beobachten, dass der Tenor der Medienberichterstattung bis in die „ZDF heute show“ hinein gegenüber der Ministerpräsidentin kritischer geworden ist. Lange Zeit perlte Kritik an ihr nahezu spurlos ab, zuletzt aber bekam ihr persönliches Image einige Risse. Brisant ist dies für Kraft, wenn ausgerechnet bei einem persönlichen Kernthema wie der Kinderarmut („Kein Kind zurücklassen“) schwache Bilanzen gezogen werden oder ihr persönliches Führungsverhalten als erratisch wahrgenommen wird. Der Parlamentarische Untersuchungsausschuss zur Kölner Silvesternacht 2015/16 beherrscht deshalb seit Monaten die Parlamentsberichterstattung und hat Spuren im Ansehen der Ministerpräsidentin hinterlassen.

Für die CDU wird es darauf ankommen, ob sie ausgehend von der fokussierten Kritik an der Landesregierung im Wahlkampf auch die Deutungshoheit und Problemlösungskompetenz für Kernthemen erlangt. Ein Eckpfeiler für einen erfolgreichen Wahlkampf wird nach der Kölner Silvesternacht ein Vertrauenszuwachs in Fragen der Inneren Sicherheit und der Integration von Flüchtlingen und Zuwanderern sein. Die CDU muss auch Vertrauen dafür gewinnen, dass der soziale Anspruch unserer Wirtschaftsordnung nicht durch eine fortgesetzte Verschuldung, sondern durch eine solide Finanzpolitik, nicht durch sozialpolitischen Interventionismus, sondern durch wirtschaftliches Wachstum eingelöst wird. Chancen hat sie, wenn sie vermitteln kann, dass es nicht auf soziale Teilhabe im Sinne von ausufernden Verteilungsdebatten, sondern auf sozialen Aufstieg durch bessere Bildungs- und Integrationschancen ankommt.

Sollte es im Mai 2017 zu einem Fünf- oder Sechsparteienparlament kommen und würden die derzeitigen Koalitionsaussagen von FDP und SPD Bestand haben, fiele die Entscheidung zwischen einer Großen Koalition oder einer Koalition von CDU, Grünen und FDP, wenn nicht ein weiteres Mal der Ausweg einer Minderheitsregierung gesucht würde. Keine dieser Varianten ist leicht zu bewerkstelligen, keine wirklich verlockend für die beteiligten Parteien. Gerade bei solchen ungewollten Koalitionen kommt es aller Erfahrung nach darauf an, dass die beteiligten Parteien programmatisch vorbereitet sind. Sie müssen einen hinreichend großen Fundus an konkreten und substanziellen Vorhaben im Köcher haben, auf die man sich jenseits aller Rhetorik pragmatisch verständigen kann. Die Durchsetzungsfähigkeit in der Sache hängt nicht unbedingt von den Größenverhältnissen in einer Koalition, sondern von der Präzision und Substanz ab, mit der man die Themen vorbereitet hat.

Das tut auch in der Sache not. Denn Nordrhein-Westfalen steckt zu seinem siebzigjährigen Jubiläum in einer Krise, die nicht über Nacht gekommen ist, sondern deren Grund in der Ära Rau angelegt wurde. Sie hat sich in den letzten Jahren allerdings zugespitzt. Das Land spielt in der Bundespolitik nicht mehr die Rolle, die ihm früher zukam. Die Ministerpräsidenten von Karl Arnold bis Jürgen Rüttgers verstanden sich allesamt auch als Bundespolitiker, die als Weichensteller und Impulsgeber in Bonn beziehungsweise Berlin gewirkt haben. Davon ist derzeit wenig zu spüren. Kenner der landespolitischen Szene wie Ulrich von Alemann und Karl-Rudolf Korte konstatieren zu Recht, dass der Einfluss des Landes in der Bundespolitik spürbar zurückgegangen ist.

Dem entspricht ein schwacher Gestaltungswille auf Landesebene. In vielen Leistungsvergleichen mit anderen Bundesländern schneidet das Land schlecht ab, und manchmal hat man den Eindruck, als hätten sich viele damit abgefunden. Es mangelt dem größten deutschen Bundesland derzeit an politischer Führung. Sein Selbstverständnis ist eigenartig geduckt und defensiv, es definiert sich eher über Verlustängste als über Aufbruchsstimmung und Selbstvertrauen.

Im fußballverrückten Nordrhein-Westfalen gibt es einige Traditionsklubs, die regelmäßig Abstiegsdramen durchleiden. Aber es gibt auch die anderen, die ab und zu den Meistertitel holen oder europäische Wettbewerbe aufmischen. Das Land hat viele Stärken und Potenziale, auf die es sich besinnen sollte. Es wäre zu wünschen, dass dies das Leitmotiv für den Landtagswahlkampf 2017 würde.

Hans Jörg Hennecke, geboren 1971 in Zülpich, außerplanmäßiger Professor für Politikwissenschaft an der Universität Rostock.

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