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Der Liberalismus und die These vom „Ende der Ideologien“

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Der Sieg über die Achsenmächte, vor allem über das Hitlerreich, im Zweiten Weltkrieg war nur ein halber Sieg für die westlichen Demokratien. Wer nicht völlig realitätsblind war, musste das spätestens in dem Augenblick er kennen, als US-Präsident Harry S. Truman am 12. März 1947 den Übergang der Vereinigten Staaten zur Politik der Eindämmung des Kommunismus (containment) verkündete. Dies war keine rein außenpolitische Aufgabe. Der Konflikt tobte auch im Innern der westlichen Staaten – zumindest dort, wo es starke kommunistische Parteien gab, wie in Frankreich oder Italien. Antitotalitär gesinnte Intellektuelle mussten sich zudem fragen, inwieweit der Einfluss des Marxismus auf das geistige Leben zurückgedrängt werden könne.

Seit Mitte der 1950er-Jahre hatten einige westliche Professoren den Eindruck, dass die ideologische Gefahr zwar nicht gebannt, aber doch unter Kontrolle sei. So veröffentlichte der amerikanische Soziologe Daniel Bell im Jahr 1960 ein Buch mit dem Titel The End of Ideology. Wenn er von „Ideologie“ sprach, dann dachte der liberale Demokrat Bell vor allem an den Marxismus, dessen Prestige er unter westlichen Intellektuellen im Schwinden sah. Das leuchtete nicht allen ein, denn auch in Amerika glaubten manche linke Intellektuelle an das Welterklärungspotenzial des Marxismus und die Reformfähigkeit der Sowjetunion. Sie betrachteten Bells These als eine Apologie des „liberalen Konsenses“, der die Vereinigten Staaten in den 1950er und frühen 1960er Jahren prägte.

Der Begriff „liberaler Konsens“ ist keine Wortschöpfung von Historikern, sondern war zeitgenössisch gebräuchlich. Obwohl es nur dann einen Konsens geben kann, wenn alle – in Falle der Vereinigten Staaten die Demokratische und die Republikanische Partei – einig sind, stammte das Denken des liberalen Konsenses aus dem Lager der Demokraten. Es wurde erst zum über parteilichen Konzept, als die Republikaner die meisten Veränderungen der New Deal-Ära akzeptierten. Zumindest die moderaten Republikaner, die 1952 in Dwight D. Eisenhower eine Galionsfigur fanden, schienen die Auffassung demokratischer Intellektueller wie Lionel Trilling oder Louis Hartz zu teilen, dass der Liberalismus die einzige geistig-politische Tradition Amerikas sei.

Gegen Utopismus, Perfektionismus und Maximalismus

Während der Politikwissenschaftler Hartz 1955 in The Liberal Tradition in America eine Geistesgeschichte des amerikanischen Exzeptionalismus entwarf, hatte sich der ebenfalls demokratische Historiker Arthur M. Schlesinger Jr. bereits 1949 in die Niederungen der politischen Publizistik begeben und mit seinem Buch The Vital Center das Programm eines Liberalismus vorgelegt, der die Bereitschaft zu Sozialreformen mit einem kompromisslosen Antikommunismus verband. Dabei hatte der Vital-Center-Liberalismus durchaus eine konservative Seite, wie Schlesinger in einem Artikel aus dem Jahr 1956 deutlich machte: „Der zeitgenössische amerikanische Liberalismus hat keinen überwältigenden Zauber anzubieten. Ihm fehlt der Sinn für das Enthusiastische. Seine Grundstimmung ist realistisch, ja sogar skeptisch. Seine Ziele sind begrenzt. Er misstraut allen Formen von Utopismus, Perfektionismus und Maximalismus.“ Damit umschrieb Schlesinger einen konservativen Liberalismus, dem die zur Mitte neigenden Flügel beider Parteien zustimmen konnten und in dessen Mittelpunkt der Antitotalitarismus stand. Wie zuvor gegen Faschismus und Nationalsozialismus wandten sich die demokratischen und republikanischen Vertreter des liberalen Konsenses nun gegen den Kommunismus.

Wenn Bell im Jahr 1960 das „Ende der Ideologien“ voraussagte, dann verteidigte er dieses Denken und antizipierte den Sieg des Liberalismus im Kalten Krieg. Dass es ihm um die Rechtfertigung des liberalen Konsenses ging, konnte niemand übersehen, der nicht nur den provokanten Titel des Buches auf sich wirken ließ, sondern es auch tatsächlich las. Vom „Ende der Ideologien“ ist im ganzen Buch kaum die Rede. Es war nicht einmal ein richtiges Buch, sondern eine Sammlung von Aufsätzen, die alle bereits in verschiedenen intellektuellen Zeitschriften erschienen waren, etwa in Commentary, Encounter oder The New Republic. Nur das Nachwort war neu und trug eine Überschrift, von der sich der Buchtitel ableitete: „The End of Ideology in the West“, das Ende der Ideologie im Westen.

Worum ging es also? Bell analysierte die amerikanische Gesellschaft der 1950er-Jahre. Er setzte sich mit der Massengesellschaft, mit der Bedeutung einer Elite für die liberale Demokratie und mit der Zukunft des Kapitalismus auseinander. All das hatte am Rande auch mit dem Stellenwert von Ideologien zu tun. Bell verfocht die These, dass die großen Ideensysteme des 19. Jahrhunderts in den westlichen Gesellschaften nur noch in einer domestizierten Variante eine Rolle spielten. Indirekt drückte er damit die in seinem Umfeld verbreitete Hoffnung aus, dass die Politik wieder so unideologisch werden möge, wie sie es einmal gewesen sei. Ein anderer liberaler Demokrat, der Publizist Irving Kristol, schrieb schon 1958 mit Bedauern, dass die Politik nach 1789 von der „klugen Handhabung von Personen und Umständen“ zu einer „Verwirklichung von Ideen“ verkommen sei.

Auf der Liste der einhundert einflussreichsten Bücher

Aber die Erörterung dieses Ideals war für den Erfolg von Bells Buch nicht entscheidend. Nicht die Essays über die amerikanische Gesellschaft und Politik waren es, die ihm seinen Platz auf der Liste der einhundert einflussreichsten Bücher seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs des Times Literary Supplement sicherten – sondern das Nachwort gab den Ausschlag. In ihm wandte sich Bell einer anderen Art von Ideologie zu. Um den Unterschied deutlich zu machen, griff er auf Karl Mannheim zurück, der 1929 in Ideologie und Utopie einen „partikularen“ von einem „totalen Ideologiebegriff“ unterschieden hatte. Der erste Terminus sollte für das stehen, worüber Bell mit Blick auf die amerikanische Gesellschaft geschrieben hatte: die Verbindung von handlungsleiten den Werten mit den Interessen von Individuen und Gruppen. Verglichen damit sei eine „totale Ideologie“, so Bell, „ein allumfassendes System zum Verständnis der Wirklichkeit“. Ihr Ziel sei die Umwandlung einer ganzen Lebenswelt. Sie sei eine „säkulare Religion“.

Ebenso wenig wie seine Unterscheidung verschiedener Formen von Ideologien stammte dieser Begriff von Bell selbst. Er hatte ihn von einem französischen Freund übernommen. In der Zwischenkriegszeit waren verschiedene Autoren auf die Idee gekommen, totalitäre Ideologien seien mit unaufgeklärten Religionen vergleichbar. Der erste war der französische Soziologe Raymond Aron, der 1944 den Begriff der „säkularen Religion“ für Nationalsozialismus und Kommunismus geprägt hatte. Das Konzept nimmt einen prominenten Platz in Arons Buch L’opium des intellectuels aus dem Jahr 1955 ein, einer heute berühmten Abrechnung mit den marxistischen oder paramarxistischen französischen Linksintellektuellen. Darin definierte Aron den Marxismus noch einmal als säkulare Religion und stellte im letzten Kapitel die Frage, ob die überlieferten politischen Denkmuster erschöpft seien.

Alles, was Bell fünf Jahre später schrieb, lehnt sich an dieses Kapitel an – mit dem Unterschied, dass Aron vorsichtiger war: Er sprach nicht vom „Ende der Ideologien“, sondern nur vom „Ende des ideologischen Zeitalters“ und versah diese Formulierung noch mit einem Fragezeichen. Doch auch er erwartete das Überleben der „partikularen Ideologien“ und den Niedergang der letzten „totalen Ideologie“. Wie Bell sah er die allmähliche Erschöpfung des Marxismus voraus. Diese Erwartung hatte in Frankreich, wo es im Geistes leben eine tatsächliche Hegemonie des Marxismus gab, viel größere Relevanz als im Amerika des liberalen Konsenses. Aber sowohl Aron als auch Bell hatte den gesamten Westen im Blick.

Schützenhilfe bekamen sie dabei von Edward Shils, der ebenfalls zu den Verfechtern des liberalen Konsenses gehörte und politische Soziologie lehrte. Wie Aron und Bell gehörte er dem Kongress für kulturelle Freiheit an. Als dieser im Jahr 1955 in Mailand eine große Konferenz zum Thema „The Future of Freedom“ veranstaltete, schrieb Shils für den Encounter einen Tagungsbericht mit dem Titel „The End of Ideology?“.

Geburt der „Neocons“

Indem sie alle dieselbe These vertraten, wiesen sich Bell, Shils und Aron als Angehörige eines transatlantischen Vital-Center-Liberalismus aus. Arons konservativer Liberalismus hatte viele Gemeinsamkeiten mit dem Liberalismus seiner amerikanischen Freunde. In gewisser Hinsicht war er sogar ein Vordenker jener demokratischen Intellektuellen, die sich nicht mit der Linksverschiebung des amerikanischen Liberalismus abfinden wollten, zu der es nach der Ermordung John F. Kennedys kam. Während Schlesinger mit der Demokratischen Partei nach links rückte, wurden Bell, Shils und vor allem Kristol seit den 1970er-Jahren als Neoconservatives (Neocons) bezeichnet. Wenngleich Aron als Franzose dieser Gruppe nicht angehören konnte, betrachteten ihn viele Neocons der ersten Generation doch als einen ihrer wichtigsten Ideengeber. Sie teilten mit ihm die Überzeugung von der grundsätzlichen Überlegenheit des liberalen Systems.

In ihrer eigenen Zeit haben Aron und die späteren Neokonservativen recht behalten: In den 1970er-Jahren verlor der Marxismus sogar unter französischen Intellektuellen seine Strahlkraft, und mit dem Sieg des Westens im Kalten Krieg verschwand auch der Kommunismus als ernst zu nehmende politische Bewegung von der Weltbühne. Das heißt freilich nicht, dass die Urheber der These vom „Ende der Ideologien“ meinten, dass keine neuen Formen säkularer Religionen auftreten könnten. Der naive Glaube an ein „Ende der Geschichte“ war ihnen fremd. Später haben sowohl Aron als auch Bell noch einmal bekräftigt, dass die Idee vom „Ende der Ideologien“ zutreffend gewesen sei, aber beide erklärten auch, dass die Geschichte weitergehe.

In seinen im Jahr 1983 erschienenen Memoiren machte Aron eine neue säkulare Religion am Horizont aus, die paradoxerweise gar nicht säkular war, sondern eine politisch gewendete Transzendentalreligion. Aron hatte noch keinen Begriff für das, was heute radikaler Islam, politischer Islam, islamischer Totalitarismus, Islamofaschismus oder einfach Islamismus genannt wird. Aber er erkannte genau, dass sich in der islamischen Welt – damals im Iran – etwas in Bewegung gesetzt hatte. Auch hierin irrte er sich nicht. Heute sind wir längst nicht so weit, auf ein abermaliges „Ende der Ideologien“ hoffen zu dürfen. Doch die von Aron und Bell gehegte Erwartung, dass sich die liberale Demokratie im Kampf mit ihren Feinden am Ende als stärker erweisen werde, hat nichts von ihrer Suggestivkraft eingebüßt.

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Matthias Oppermann, geboren 1974 in Auetal-Rehren, Altstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der Universität Potsdam.

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