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Die aktuelle Situation in Hongkong aus der Perspektive eines neutralen Landes

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Hongkong ist seit 1997 ein Teil Chinas. Dennoch unterscheidet sich das Leben in der ehemaligen britischen Kronkolonie auch heute noch grundsätzlich vom Alltag in der Volksrepublik. Hongkong mit seinem Finanzplatz und seinem Hafen gehört zu den internationalsten Städten der Welt. Wer in dieser pulsierenden, von Wasser und Bergen umgebenen Metropole lebt und wirtschaftet, kann sich auf einen funktionierenden Rechtsstaat verlassen. Hier gelten „rule of law“ sowie die Unabhängigkeit der Justiz. Ganz anders als in China, das nach dem Prinzip „rule by law“ funktioniert. Sich über alle Medienkanäle eine politische Meinung frei zu bilden und diese auch frei zu äußern, ist immer noch eine Selbstverständlichkeit in Hongkong. In allen diesen Punkten kann kein anderer Teil der Volksrepublik dieser faszinierenden chinesischen Stadt mit britischem Erbe das Wasser reichen.

Allerdings macht sich Pekings langer Arm in der zur Sonderverwaltungszone erklärten Hafenstadt deutlich bemerkbar. Die Chinesen hatten in den 1980er-Jahren zwar mit den Briten vereinbart, nach der Übergabe 1997 fünfzig Jahre lang das demokratisch-marktwirtschaftliche System Hongkongs nicht anzutasten. Politisch wurde sogar ein Ausbau der Volksrechte bis hin zu freien und allgemeinen Wahlen in Aussicht gestellt und im Basic Law, dem Grundgesetz, festgehalten. Aber Peking hat inzwischen deutlich gemacht, dass es solche Versprechen nur der Form, nicht aber dem Inhalt nach zu halten bereit ist.

Das zeigte sich in jüngster Zeit beim Tauziehen um die für das Jahr 2017 versprochene freie Wahl des Chief Executive, des Hongkonger Regierungschefs. Die chinesische Zentralregierung bot zwar eine Wahlrechtsreform an, doch gaukelte diese ein demokratischeres Prozedere bloß vor und sah keine echte, sondern nur eine fingierte Volkswahl vor. Vorgeschlagen war die Wahl unter zwei bis drei Kandidaten, die vorher von Peking über ein von ihm kontrolliertes und die Hongkonger Bevölkerung nur sehr mangelhaft repräsentierendes Nominationskomitee bestimmt worden wären – eine Volkswahl ohne freie Auswahl sozusagen. Für die meisten Hongkonger lief es auf dasselbe hinaus, ob sie, wie bisher, den Regierungschef nicht frei wählen können oder ob sie ihn aus einer kleinen, von der Zentralregierung handverlesenen Gruppe von Kandidaten küren dürfen. Entsprechend groß war die Empörung über die vorgegaukelte Demokratisierung. Der Unmut entlud sich im Herbst 2014 in einer großen Protestbewegung, welche über Wochen ganze Bezirke der Finanzmetropole lahmlegte. Schließlich erlitt die fingierte Wahlrechtsreform im Sommer 2015 auch im Legislative Council, dem Hongkonger Parlament, kläglich Schiffbruch.

Damit haben die Hongkonger eindrucksvoll gezeigt, dass sie in der Lage sind, Peking die Stirn zu bieten. Andererseits hat ihnen dies letztlich nicht viel genützt. Das Thema der Volkswahl des Hongkonger Regierungschefs ist jetzt nämlich vom Tisch. Die Zentralregierung schiebt die Schuld dafür dem prodemokratischen Lager im Legislative Council zu, das nicht bereit gewesen sei, die Reform-Offerte aus Peking anzunehmen.

 

Das Geschäft hat Vorrang

Dieses jüngste Scharmützel ist exemplarisch für das Verhältnis zwischen China und seiner Sonderverwaltungszone. Nach wie vor weht der freie Geist einer Bürgergesellschaft in der früheren britischen Kronkolonie. Doch Peking versucht, diesen zu lenken. Mehrmals bereits hat das chinesische Regime Hongkong wissen lassen, dass dessen Eigenständigkeit voll und ganz von Pekings Wohlwollen abhänge – eine Freiheit von Pekings Gnaden sozusagen.

Das chinesische Regime stützt sich dabei auf die Geschäftswelt und die Tycoons, die das Gesicht Hongkongs weitgehend prägen. In der Regel hat in der Finanzmetropole das Geschäft Vorrang vor der Politik, was ganz in Pekings Sinn ist. Insofern ist das Potenzial für einen politischen Aufruhr gering. Trotzdem hat der Affront der fingierten Wahlrechtsreform die politische Diskussion enorm belebt und in weitere Bevölkerungskreise hinausgetragen. Viele, vor allem jüngere Hongkonger fühlen sich heute frei genug – jenseits von Business, Pekings ökonomischen Verheißungen und chinesischer Tradition –, zu ihren eigenen, an Internationalität und Pluralismus ausgerichteten politischen Überzeugungen zu stehen.

In der politischen Diskussion, die im Vergleich zu China offen und lebendig ist, wird seitens pekingtreuer Kräfte oft darauf verwiesen, dass auch die Briten ihrer Kolonie keine Demokratie geschenkt hätten. In der Tat haben die Briten viel zu spät, eigentlich erst mit ihrem letzten Gouverneur, Chris Patten, das politische Bewusstsein in Hongkong zu fördern begonnen. Zuvor hatten sie die Bevölkerung zugunsten der kolonialen und lokalen chinesischen Elite von der Politik ferngehalten. Peking hatte wohl darauf gehofft, dass es 1997 an dieses koloniale Erbe – politische Entrechtung und Kapitalismus – anknüpfen könne. Tatsächlich regieren die chinesischen Machthaber Hongkong heute wie eine Kolonie, spannen mit der lokalen Elite der Tycoons zusammen und haben keinerlei Interesse an einer Politisierung der Bevölkerung.

 

Pattens Saat

Doch Pattens Saat ist trotz aller chinesischen Restriktionen zumindest ein wenig aufgegangen. Der letzte britische Gouverneur gehört heute zu den populärsten politischen Persönlichkeiten in Hongkong und besucht die ehemalige Kronkolonie häufig. Bei seinem Rücktritt erfreute er sich höherer Popularitätswerte als alle seine Nachfolger am Ende ihrer Amtszeit. Der gegenwärtige Chief Executive Leung Chun-ying vermochte Pattens Zustimmungsraten bisher nicht zu erreichen. Pattens politisches Engagement kam nicht von ungefähr, denn er war der erste Politiker im Amt des Gouverneurs, das zuvor traditionellerweise mit Beamten besetzt worden war. Pattens Verdienst ist es, die Vorzüge einer auf Pluralismus, individueller Freiheit und Rechtsstaatlichkeit basierenden Gesellschaft zu einem Thema gemacht zu haben – sowohl in Hongkong als auch in China, das damals zur Übernahme der Kronkolonie bereitstand. Dafür hat er einige ungerechtfertigte Kritik von im Umgang mit Peking übervorsichtigen Zeitgenossen vor allem im Westen einstecken müssen.

Im Tauziehen um Hongkong verfügt China über lange Erfahrung. Peking gingen schon die außerordentlich zaghaften Demokratisierungsschritte der Briten in den 1950er-Jahren zu weit. Diese führten zum heute geltenden komplizierten Wahlsystem, das von der Zentralregierung zur Durchsetzung der eigenen Interessen so leicht missbraucht werden kann. Damals war dieses Wahlsystem als ein erster Schritt hin zu einer politischen Öffnung gedacht. Doch China trat sogleich auf die Bremse, verbot den Kolonialbehörden, weitere Schritte hin zu mehr Demokratie zu unternehmen, und drohte mit der sofortigen Rücknahme der gesamten Kronkolonie.

 

„Goldesel“ nicht zugrunde richten

Hongkong bedeutet für China eine permanente Gratwanderung. Die Zentralregierung versucht, sich in der Sonderverwaltungszone politisch durchzusetzen, doch den „Goldesel“ zugrunde richten möchte sie nicht. Insofern setzt Peking durchaus auf Hongkongs politische Andersartigkeit. Denn das chinesische Regime weiß, dass die von Patten geförderten Werte die Grundlage des wirtschaftlichen Erfolgs bilden. Ideologisch versucht sich die Zentralregierung, mit dem Schlagwort „one country, two systems“ aus dem Dilemma zu retten. Allerdings wirkt dieses Prinzip zunehmend hohl, denn das Bestreben, Hongkong politisch an die Kandare zu nehmen und notfalls zu disziplinieren, wächst. Präsident Xi Jinping liegt daran, politisch die Zügel fest in der Hand zu halten. Ein Hongkong, dessen Freiheit nach China ausstrahlt und dort der Parteiherrschaft in die Quere kommt, glaubt man nicht dulden zu können.

Auch die Hongkonger wandeln auf einem schmalen Grat. Sie befinden sich auf ihre Art in derselben Zwickmühle zwischen Geschäft und Politik. Die von Peking immer deutlicher verordnete Politik unterminiert die Freiheit. Sich dagegen zur Wehr zu setzen, stört aber das Geschäft. Immerhin ist das politische Selbstbewusstsein während des jüngsten Tauziehens mit Peking und beim Aufbegehren auf der Straße und im Parlament gewachsen. Hongkong ist und bleibt der Ort in China, wo sich die Pekinger Parteidiktatur wohl oder übel mit Rechtsstaatlichkeit und Pluralismus auseinandersetzen muss.

 

Beat U. Wieser, geboren 1951 in Basel (Schweiz), in der Auslandredaktion der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) zuständig für den Fernen Osten, Südostasien und Kanada, redaktionell verantwortlich für „Spektrum Deutschland“ in der Internationalen Ausgabe der NZZ.

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