Asset-Herausgeber

Wann das Leben auf Pump begann

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„Vorsparen oder Nachsparen?“ – lautete Anfang der 1960er-Jahre ein häufiges Aufsatzthema in Abschlusskursen von Sparkassenschulen. Von den Lehrlingen wurde ein begründetes Plädoyer für das Zwecksparen erwartet, das dem Kauf von Konsumgütern voranzugehen habe. Das Nachsparen, also der Ratenkauf, sollte nur in Ausnahmefällen zulässig sein, beispielsweise bei Handelsvertretern, die mit dem auf Raten gekauften Auto ihr Geld verdienten und die mit dessen Hilfe ihre Schulden zurückzahlen konnten.

Wenig scheint von dieser Haltung geblieben zu sein. Allenthalben werden heute Sofortkredite angeboten. Die Trendwende wurde ab den 1960er-Jahren deutlich spürbar.

Traditionell lag das Augenmerk der Sparkassen (zumindest im Privatkundengeschäft) auf der „Pflege der Sparsamkeit“, dem Sammeln anstelle des Verleihens. Als staatlich geförderte Instrumente der Armenfürsorge hatten sie im neunzehnten Jahrhundert eine sozialpädagogische Funktion. Der Personalkredit, worunter damals Bürgschafts-, Wechsel-, Schuldschein- und Handscheindarlehen zu verstehen waren, spielte kaum eine Rolle, denn Sicherheiten hatten die meisten Kleinkunden meist nicht vorzuweisen. Die Basis für die Darlehensgewährung war das Vertrauen des geldgebenden Instituts in die Person des Darlehensnehmers oder seines Bürgen. Die gesellschaftlich akzeptierte Begründung, Kredite zu vergeben, lag darin, dass minderbemittelte Bevölkerungskreise vor Abzahlungsbazaren oder unseriösen Kredithäusern bewahrt werden sollten.

Neben reinen Sparkassen gab es sogenannte Spar- und Darlehenskassen, die das Einnehmen und Ausgeben von Geld als zwei komplementäre Aufgaben verstanden. Sie waren ein frühes Zeugnis der Mittelstandsförderung, zielte die Kreditvergabe doch auf Gewerbetreibende ab, die Sicherheiten wie Unternehmensgüter oder Immobilien vorweisen konnten. Personenkreise, die heute als Existenzgründer oder Freiberufler bezeichnet werden, hatten dabei das Nachsehen.

 

Fließende Grenze zwischen Investition und Konsum

In Ermangelung eines ausreichend kurzfristigen Kreditangebots der Sparkassen entstanden um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts genossenschaftliche Vorschussvereine nach der Idee von Hermann Schulze-Delitzsch (1808 bis 1883) für das städtische Handwerk sowie Friedrich Wilhelm Raiffeisens (1818 bis 1888) „Darlehens-Kassenvereine“ für die ländliche Bevölkerung. Beide Genossenschaften hatten insbesondere die Finanzierung der Betriebsmittel ihrer Mitglieder zum Ziel.

Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelte der Sparkassenpionier Johann Christian Eberle (1869 bis 1937) wegweisende Modelle für die systematische Kreditvergabe. Er war Mitbegründer der Deutschen Girozentrale und ein großer Verfechter der Bausparidee. Die auf Eberle zurückgehende Einführung des Girokontos für jedermann bei den Sparkassen (1908) und die damit verbundene Giralgeldbildung sollte Kapital insbesondere in die Hände von mittelständischen Gewerbetreibenden geben. Wer „Konto nahm“, erhielt einfacher Zugang zu einem Investitionskredit.

Schon in den 1920er-Jahren hatte sich mit dem Aufkommen langlebiger Konsumgüter das Kreditverhalten und- begehren der Menschen geändert. Die Beziehungen der Banken und Sparkassen insbesondere zu den privaten Haushalten gerieten in Bewegung, was sich beispielsweise in der Gründung von Bausparkassen zur Finanzierung von Privateigentum bemerkbar machte. Die Grenze zwischen Investition und Konsum wurde fließend: War etwa die Nähmaschine einer Schneiderin etwas grundsätzlich anderes als die gleiche Nähmaschine einer Hausfrau?

 

Trendsetter „Nähmaschine“

Die Singer Manufactoring Company in New York fand sich nicht mehr mit dieser Unterscheidung ab und hatte bereits 1856 einen Ratenplan entwickelt. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts drängte Singer auf den europäischen Markt. Der deutschen Nähmaschinenindustrie blieb keine Wahl, als ebenfalls Ratenzahlungen zuzulassen. So wurde die Nähmaschine zur Schrittmacherin des Teilzahlungskreditgeschäftes. Das Predigen vom Vorsparen zog nicht mehr, sondern es wurde legitim, Vorsparen mit Nachsparen, also Ansparen mit einem Ratenkredit zu verknüpfen.

Auf der Suche nach Sicherheiten beim Ratenkauf wurde 1929 die heute beinahe unvermeidliche Schufa von der Berliner Elektrizitätswerke AG, der Siemens AG und der AEG-Aktiengesellschaft gegründet, deren Ziel in der Beschaffung geeigneter Informationsgrundlagen für die Gewährung von Teilzahlungskrediten bestand. Auch die Gründung der heute noch unter anderem Namen existierenden KKB-Bank durch zwanzig Königsberger Einzelhändler 1926 war Ausdruck eines neuen Bewusstseins im Umgang mit Geld und Gütern. Opel und Ford gründeten ebenfalls Finanzierungsgesellschaften, denn sie erkannten in der Teilzahlungsfinanzierung eine Voraussetzung für die Massenproduktion von Personenkraftwagen. Die neuen Teilzahlungsinstitute, sogenannte non-banks oder near-banks, verstanden sich nicht als Banken, noch wurden sie vom Kreditgewerbe als solche akzeptiert.

 

Gewerkschaften gegen „Zersplitterung des Kapitals“

Gewerkschaftsbanken lehnten während der 1920er-Jahre das Kreditgeschäft mit Einzelpersonen weiterhin ab, um einer „unheilvollen Zersplitterung des Kapitals“ vorzubeugen. Lediglich die Beamtenbanken gaben an ihre Mitglieder Konsumentenkredite für verschiedenste Zwecke, zum Beispiel bei Krankheit, zur Erziehung und zum Studium der Kinder, zur Ausstattung der Töchter. 1934, nach der Weltwirtschafts- und der deutschen Bankenkrise, einigte sich das deutsche Kreditgewerbe zum ersten Mal auf Standards bei der Kreditvergabe an Konsumenten. 1939 legten die Geschäftsbanken und Sparkassen eine Obergrenze von 600 Reichsmark für Kleinkredite fest, die allerdings nicht mehr zum Tragen kam. Welche Konsumgüter hätte man im Krieg schließlich kaufen sollen?

Die Regeln zur Kreditvergabe von 1939 wurden 1948 im Rahmen der Währungsreform vollständig übernommen und hatten bis 1958 Bestand. Lohn- und Gehaltsempfänger unterlagen demnach einer Beschränkung von 600 D-Mark pro Kleinkredit. Diese wurde allzu schnell erreicht: Die Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges hatten in breiten Bevölkerungsschichten einen starken Nachholbedarf an lebenswichtigen Gebrauchsgütern entstehen lassen. Mehrheitlich dienten die Kredite an Privathaushalte aber nicht konsumtiven Zwecken, sondern dazu, Realvermögen aufzubauen oder zu erhalten.

 

Wohlstand für alle

Ludwig Erhard ließ als Bundeswirtschaftsminister der jungen Bundesrepublik keine Gelegenheit aus, im Sinne von „Wohlstand für Alle“ auf die Bedeutung des Konsums für den wirtschaftlichen Aufschwung hinzuweisen. „Mut zum Konsum“ lautete sein Credo in einer ersten Phase der Sozialen Marktwirtschaft während der 1950er-Jahre. In der zweiten Phase, für die vor allem sein Staatssekretär Alfred Müller-Armack steht, ging es um die geistige Durchdringung des erzielten materiellen Wohlstands, wobei dabei Begriffe wie Mäßigung in den Mittelpunkt rückten.

Ein Problem in der unmittelbaren Nachkriegszeit bestand darin, dass viele private Haushalte noch nicht bankfähig waren, also noch kein Konto besaßen. Mit der flächendeckenden Einführung von Girokonten zur Lohnund Gehaltszahlung bis zum Beginn der 1960er-Jahre war eine wichtige Voraussetzung für die Abwicklung privater Bankschulden geschaffen worden. Nur langsam öffneten sich die Sparkassen dem Konsumentenkredit – unter strikter Beibehaltung ihres Grundsatzes „Erst sparen, dann kaufen!“, wozu auch Rentabilitätsüberlegungen beitrugen. Anfang der 1960er-Jahre wurde der Paradigmenwechsel deutlich: „Wenn’s um Geld geht ...“, hieß der neue Slogan, der die Entwicklung der Sparkassen zu Allfinanzinstituten augenfällig machte.

Die Verschuldung der deutschen Haushalte stieg seit den ausgehenden 1960er-Jahren an und verfünffachte sich von 1970 bis 1983 von 32,3 Milliarden D-Mark auf 168,7 Milliarden D-Mark – und das war nur der Anfang einer neuen Entwicklung, die bis heute anhält. Die Verschuldung stieg in den 1970er-Jahren schneller an als die Geldvermögen. Damit lagen die Deutschen international im Trend.

Übrigens nahm auch die Staatsverschuldung in demselben Zeitraum erheblich zu. Artikel 115 Grundgesetz erlaubte seit Mai 1969 „zur Abwehr einer Störung des wirtschaftlichen Gleichgewichts“, dass die Kreditaufnahmen höher sein durften als Ausgaben für Investitionen – der wachsenden Staatsverschuldung war Tür und Tor geöffnet. Privat wie öffentlich fiel der Blick immer wieder auf die USA. In punkto Staatsverschuldung, verursacht vor allem durch einen riesigen Verteidigungshaushalt, sind die Vereinigten Staaten bis heute Spitzenreiter.

Die erste für den allgemeinen Gebrauch bestimmte Kreditkarte wurde von American Express 1958 entwickelt; das moderne Kreditkartensystem erhielt 1968 internationalen Aufschwung und Beachtung. All diese Kreditarrangements beruhten nicht mehr auf persönlichen Vertrauensbeziehungen, sondern wurden von Unternehmen mit Gewinnzwecken geknüpft.

Insbesondere in den 1980er- und 1990er-Jahren, als in der Unterhaltungs-, Medien- und Kommunikationsbranche neue Produkte für den Privatmarkt geschaffen wurden, stiegen das Anspruchsverhalten und die Verschuldung privater Haushalte weiter an. Firmenkunden griffen ab den 1980er-Jahren dankbar auf neue Kreditinstrumente, wie das Leasing, zurück. Auch selbstständige Kleingewerbetreibende und Freiberufler werden seitdem als Kreditnehmer geschätzt und nicht mehr, wie noch zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, als Exoten behandelt. Kurz: Es wurde gesellschaftlich salonfähig und akzeptiert, teilweise auf Pump zu leben – zumindest in der Bundesrepublik.

 

Schuldenmachen in der DDR

Im Gegensatz zur Situation in der Bundesrepublik Deutschland bestand ein zentrales Problem der DDR-Planwirtschaft bekanntlich darin, dass höherwertige Konsumgüter nicht in ausreichendem Maße verfügbar waren. Da die Bürger der DDR das Geld nicht zum Kauf langlebiger Konsumgüter verwenden konnten, blieben ihnen nur zwei Möglichkeiten: sparen oder konsumieren, was vorhanden war. Interessant ist: Gerade weil hochwertige Konsumgüter knapp waren, wurde für ihren Erwerb gespart.

Noch überraschender ist, dass seit den 1970er-Jahren der Sparkassenkredit offensiv als „Mittel der Sozialpolitik“ eingesetzt wurde. 1969 war die natürliche Bevölkerungsbilanz der DDR erstmals negativ, und der Trend setzte sich fort. Deshalb vergab der Staat ab 1972 Kredite an Eheleute, die bei der Heirat nicht älter als 26 Jahre alt waren, bestimmten Berufsgruppen angehörten und zusammen nicht mehr als 1.400 Mark brutto verdienten. Die zinslosen Kredite wurden ausschließlich über die Sparkassen abgewickelt und waren an den Zweck gebunden, Hausrat anzuschaffen. Bevölkerungspolitisch bedeutsam war dabei, dass sich die Summe, die zu tilgen war, mit steigender Kinderzahl verringerte. Die Maßnahme hatte zwar kurzfristigen Erfolg. Ende der 1980er-Jahre aber wurde die Bevölkerungsbilanz wieder negativ.


Barbara Hillen, geboren 1974 im Rheinland, Biografin und promovierte Historikerin mit dem Schwerpunkt Wirtschafts- und Sozialgeschichte, ist Gründerin und Leiterin der Agentur für AutoBiografien Bonn.


Literatur 

Entwicklungslinien im Personalkreditgeschäft der Sparkassen. Sparkassenhistorisches Symposium 1988, bearb. von Jürgen Mura, Stuttgart 1989, hierin insbesondere: Günter Ashauer: Die Entwicklung des Konsumentenkredits von den Anfängen bis zur Gegenwart, Seite 62–77.
Pohl, Hans/Rudolph, Bernd/Schulz, Günther: Wirtschafts- und Sozialgeschichte der deutschen Sparkassen im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2005.
Graeber, David: Schulden. Die ersten 5.000 Jahre, 7. Auflage, Stuttgart 2012.

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