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Neue Schutzmechanismen für einen europäischen Fundamentalwert

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Die vorzeitige Pensionierung von Richtern, eine unfreundliche Gesetzgebung gegenüber Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Manipulationen am Justizsystem zugunsten hochrangiger Politiker, die sich einer Strafverfolgung entziehen wollen, und Morde an zu Korruptionsvorwürfen recherchierenden Journalisten sind nur einige Beispiele dafür, was uns dieser Tage aufhorchen lässt.

Diese Entwicklungen, die leider immer mehr Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) betreffen, unterminieren das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, das in Artikel 2 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) verankert ist. Das dort beschriebene Wertefundament bildet den Kern, das Einende der Union. Ein Mitgliedstaat, der rechtsstaatliche Prinzipien untergräbt, kann daher Kritik keineswegs als unzulässige Einmischung in seine inneren Angelegenheiten abtun, denn er greift durch sein Handeln die Grundlage der europäischen Zusammenarbeit an: Die gegenseitige Anerkennung von Gerichtsentscheidungen oder der Europäische Haftbefehl beispielsweise können nur existieren, wenn alle Mitgliedstaaten dieselben Grundwerte teilen. Nur so kann es einen gemeinsamen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen geben und kann eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung garantiert, Korruption vorgebeugt und ein sicheres Investitionsumfeld geschaffen werden.

Bereits seit 1993 ist die Gewährleistung der Rechtsstaatlichkeit – zunächst im Rahmen der Kopenhagener Kriterien, später als Bestandteil des Primärrechts – Vorbedingung für einen EU-Beitritt. In der Vergangenheit wurden davon aus politischen Gründen bei den Beitritten Bulgariens und Rumäniens zum 1. Januar 2007 Ausnahmen zugelassen. Beide Staaten unterziehen sich stattdessen einer jährlichen Überprüfung. Nach mehr als zehn Jahren unter dem sogenannten Kooperations- und Kontrollverfahren nimmt der Unmut in beiden Staaten zu, weil die Sonderbehandlung als stigmatisierend empfunden wird.

Im Hinblick auf Rumänien zeigt der jüngste Bericht vom 13. November 2018 jedenfalls ernstzunehmende Rückschläge. Das belegt, dass die mit dem Mechanismus verbundenen Erwartungen noch nicht eingetreten sind. Trotzdem sind die regelmäßigen Berichte von zentraler Bedeutung, und an ihre Einstellung kann nicht gedacht werden. Als Reaktion auf diese Erfahrung wurden die Beitrittsverhandlungen neu strukturiert und das Kapitel Rechtsstaatlichkeit an deren Beginn gestellt. Bleiben Fortschritte in den Kandidatenländern aus, können die Verhandlungen ausgesetzt werden. Angesichts dieses Verfahrens bei Beitrittskandidaten muss es auch Möglichkeiten geben, die Mitgliedstaaten selbst zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit anzuhalten. Das ist nicht zuletzt eine Frage der Glaubwürdigkeit der EU.

Doch was verstehen wir unter „Rechtsstaatlichkeit“? Es handelt sich um einen Sammelbegriff, der die wesentlichen Bedingungen der Legalität hoheitlichen Handelns beschreibt (Pechstein, in: Streinz, EUV/AEUV (3. Aufl. 2018), Art. 2 EUV, Rn. 6). In den Mitgliedstaaten hat dieses Prinzip je nach juristischer Tradition im Detail voneinander abweichende Ausformungen erfahren. Die Europäische Kommission legt den Begriff in Orientierung an die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) recht umfassend aus und fasst darunter Grundsätze wie etwa „das Rechtmäßigkeitsprinzip (das einen transparenten, rechenschaftspflichtigen, demokratischen und pluralistischen Gesetzgebungsprozess impliziert), die Rechtssicherheit, das Willkürverbot, unabhängige und unparteiische Gerichte, eine wirksame richterliche Kontrolle, die Achtung der Grundrechte und Gleichheit vor dem Gesetz“ (siehe COM[2014]158 final, S. 4, abrufbar unter www.eur-lex.europa.eu/resource.html?uri=cellar: caa88841-aa1e-11e3-86f9-01aa75ed71a1.0017.01/DOC_1&format=PDF [zuletzt abgerufen am 08.01.2019]).

Zur Wahrung der so verstandenen Rechtsstaatlichkeit ist viel erreicht worden. Es gibt auf europäischer Ebene diverse Mechanismen für den Fall, dass ein Mitgliedstaat die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit systematisch missachtet. Seit 2014 existiert der EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips. Ziel des dreistufigen Dialogverfahrens zwischen Kommission und dem betroffenen Mitgliedstaat ist es, schnell auf entsprechende Bedrohungen zu reagieren und die Verstetigung festgestellter systemischer Mängel zu vermeiden. Allerdings kann die Kommission lediglich Empfehlungen aussprechen. Davon hat sie erstmals im Falle Polens Gebrauch gemacht.

Die (potenziell) einschneidendsten Sanktionen sieht Artikel 7 EUV vor. In letzter Konsequenz können einem Mitgliedstaat Rechte, einschließlich des Stimmrechts im Rat, entzogen werden. Voraussetzung ist allerdings die einstimmig zu treffende Feststellung, dass eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Artikel 2 EUV genannten Werte vorliegt. Dieses Einstimmigkeitserfordernis stumpft das scharfe Schwert des Artikel 7-Verfahrens ab, wenn sich mehrere betroffene Mitgliedstaaten gegenseitig Beistand leisten. Das kann nicht im Sinne des Erfinders liegen und sollte geändert werden.

Ob ein Vertragsverletzungsverfahren nach Artikel 258 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) neben dem Artikel 7Verfahren zulässig ist, ist umstritten. Es ist statthaft, wenn ein Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen verstößt. Der EuGH zog Artikel 2 EUV in entsprechenden Verfahren bereits heran. Allerdings bietet das Vertragsverletzungsverfahren wegen seiner langen Verfahrensdauer keine effiziente Handlungsmöglichkeit bei schwerwiegenden Verstößen.

Neue Ansätze

Daraus wird ersichtlich, dass politische Verfahren nur unzureichende Sanktionen bieten, wohingegen rechtliche Verfahren wenig effektiv erscheinen. Deshalb bedarf es neuer Ansätze. Ein solcher Ansatz ist der Vorschlag der Kommission für eine „Verordnung über den Schutz des Haushalts der Union im Falle von generellen Mängeln in Bezug auf das Rechtsstaatsprinzip in den Mitgliedstaaten“ (Ratsdokument COM[2018]324 final). Er verbindet die Feststellung von Rechtsstaatsmängeln mit finanziellen Sanktionen, wie der Aussetzung oder Reduzierung von Zahlungen seitens der EU. Dahinter verbirgt sich die Grundidee, dass fehlende Rechtsstaatlichkeit die fehlende Fähigkeit begründet, den wirtschaftlichen und zweckgebundenen Einsatz gewährter finanzieller Zuwendungen zu kontrollieren – etwa weil Korruption nicht ausreichend bekämpft wird oder Behörden nicht wirksam gerichtlich kontrolliert werden. Wichtig ist dies insbesondere, um die rechtmäßige Verteilung der durch alle Unionsbürger zu leistenden Abgaben zu gewährleisten. Zweifelsohne böte sich durch eine Verbindung mit finanziellen Sanktionen ein wirksames Instrument zur Bekämpfung von Rechtsstaatsdefiziten. Allerdings darf nicht verschwiegen werden, dass der Vorschlag unter anderem aufgrund einer angenommenen Exklusivität des Artikel 7-Verfahrens und seiner unspezifischen Kriterien, die die genannten Rechtsfolgen auslösen sollen (Bundesrat, Drucksache 166/18 [Beschluss], Nr. 33; Europäischer Rechnungshof, Stellungnahme 1/2018, Empfehlung 1, abrufbar unter www.eca.europa.eu/Lists/ECADocuments/OP18_01/ OP18_01_DE.pdf [zuletzt abgerufen am 08.01.2019]), kritisiert worden ist.

Fraglich ist vor allem, wie ein einheitlicher Bewertungsmaßstab angelegt werden soll. Die Lösung kann jedenfalls nicht auf der politischen Entscheidungsebene liegen. Ein Mehrheitsvotum der Mitgliedstaaten ist dafür nicht geeignet. Der betroffene Staat könnte den Vorwurf erheben, er sei Opfer einer böswilligen Kampagne einzelner Staaten. Auch ist der Eindruck eines belehrenden Auftretens, das Negativreaktionen auslösen kann, zu vermeiden.

Diesem Vorwurf ließe sich mittels einer periodischen Überprüfung aller Mitgliedstaaten begegnen, wie sie unter anderem das Europäische Parlament in einer Entschließung vom 25. Oktober 2016 (P8_TA-PROV[2016]0409) vorgeschlagen und jüngst mit Entschließung vom 14. November 2018 (P8_TA-PROV[2018]0456) bekräftigt hat. Neu ist diese Idee nicht: Im Rahmen des Europäischen Semesters – hierbei handelt es sich um einen sechsmonatigen Zyklus, in dessen Verlauf die EU-Mitgliedstaaten ihre Wirtschafts- und Fiskalpolitik aufeinander abstimmen – werden unter anderem die Kriterien des Stabilitäts- und Wachstumspaktes regelmäßig überprüft. Die Kommission erstellt auf dieser Grundlage sogenannte länderspezifische Empfehlungen, die die Mitgliedstaaten bei ihrer Haushaltsplanung berücksichtigen sollen.

Darüber hinaus bereitet die eindeutige Klassifizierung der Fälle Schwierigkeiten: Während bei der zielgerichteten, vorzeitigen Pensionierung von Richtern deren persönliche Unabhängigkeit und damit die Unabhängigkeit der Justiz bedroht sind, lassen sich überlange Vollstreckungsverfahren, die dazu führen, dass Sicherheiten praktisch unverwertbar sind, nicht so eindeutig einordnen.

Vernetzung vorhandener Strukturen

Es bedarf zur Bewertung der Vorfälle zunächst einer integren Faktenbasis. Dazu erscheint es sinnvoll, in einem ersten Schritt vorhandene Strukturen besser zu vernetzen. Dabei gibt es keinen Grund, die Einbindung der Expertise des Europarates zu scheuen: Die Venedig-Kommission etwa hat ihre ausgezeichnete Expertise bereits mit Blick auf Südosteuropa unter Beweis gestellt. Auch das Justizbarometer der Europäischen Kommission bietet fundierte Analysen und erfährt zu Unrecht wenig Beachtung. Die vom Justizbarometer herangezogenen Kriterien bieten einen ersten Ansatzpunkt, die Kriterien der Rechtsstaatlichkeit zu formalisieren und messbar zu machen, auch wenn es nur einen Teilaspekt der Rechtsstaatlichkeit betrachtet.

In einem weiteren Schritt wäre es denkbar, vorhandene Strukturen zu erweitern, um umfassende Betrachtungen zu gewährleisten. Die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte wäre dazu gut geeignet. Die Organe der Agentur werden durch einen Verwaltungsrat beaufsichtigt, in den die Mitgliedstaaten und der Europarat je einen und die Kommission zwei Vertreter entsenden. Dieser paritätische Ansatz bietet Entwicklungspotenzial. Die Grundrechteagentur führt bereits eigene Analysen und Datenerhebungen durch, fertigt Jahresberichte zu Einzelthemen, ohne sich auf einzelne Mitgliedstaaten zu fokussieren, und kann auf Ersuchen von EU-Organen oder Mitgliedstaaten anlassbezogene Berichte erstellen. Sie ist jedoch nicht in der Lage, umfassend über einzelne Mitgliedstaaten zu berichten. Daher müssten die Kompetenzen der Grundrechteagentur und ihre personellen sowie finanziellen Ressourcen gestärkt werden.

Ergänzung des Artikel 7-Verfahrens

Um schließlich dem Vorwurf der Politisierung der Werte des Artikels 2 EUV in schwerwiegenden Einzelfällen zu entgehen, ließe sich ein Verfahren beim EuGH etablieren. Darin läge zugleich eine Chance, das Verfahren zu verrechtlichen und mit Standards auszustatten, die einheitlich in der EU anwendbar wären. Zur Beschleunigung der Verfahren wäre denkbar, den Gedanken der Fachgerichte nach Artikel 257 AEUV aufzugreifen. Deren Entscheidungen, gegebenenfalls verbunden mit Sanktionen, wären in einer weiteren Instanz überprüfbar.

Es liegt in der Hand der Mitgliedstaaten, den EuGH mit entsprechenden Kompetenzen auszustatten. Dies setzt allerdings eine Änderung der Verträge voraus, welche nach Artikel 48 EUV die Ratifizierung durch alle Mitgliedstaaten erfordert. Das ist angesichts der skizzierten Lage zugegebenermaßen kein leichtes Unterfangen.

Die Werte des Artikels 2 EUV sind die Basis der europäischen Integration und können als solche nicht hoch genug geschätzt werden. Aktuell stehen sie jedoch in einigen Mitgliedstaaten unter Druck. Daher ist die Ergänzung des Artikel 7-Verfahrens durch weitere Schutzmechanismen eine wichtige Herausforderung, um das Wertefundament der Europäischen Union effektiv von innen heraus zu schützen.

Gunther Krichbaum, geboren 1964 in Korntal, Altstipendiat der Konrad-Adenauer- Stiftung, Vorsitzender des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union im Deutschen Bundestag.

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