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Die Perspektiven der Strukturpolitik im Ruhrgebiet

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Zu den Leistungsparametern einer gelungenen Politik gehören zählbare Ergebnisse. Wirtschaftliche Rahmendaten, Beschäftigungsquoten, Bevölkerungsentwicklung oder auch Wohlfühlmeldungen auf den Wirtschaftsseiten sind solche Faktoren. Sie sind entscheidend, wenn es darum geht, welche Branchen und Regionen zukunftsorientiert und erfolgreich sind. Grundlage dafür ist eine optimale Infrastruktur, die das Wirtschaften und Leben der Menschen mit ihrem Streben nach beruflichem Erfolg und Wohlstand unterstützt. Das lebens- und liebenswerte Umfeld ist wichtiger denn je. „Strukturpolitik“ ist zum politischen Schlagwort geworden. Dieses Wort steht in erster Linie für schnelle Kommunikationsverbindungen, für mehr und bessere Straßen- oder Schienennetze; Strukturpolitik sorgt für Wohnen, Bildung, Unterhaltungsmöglichkeiten und für Gemeinschaftseinrichtungen, die den Zusammenhalt der Menschen fördern. Ist eine erfolgreiche Strukturpolitik eine mit viel Geld und moderner Technik beherrschbare Herausforderung? Oft greifen die naheliegenden Antworten zu kurz.

Der Begriff „Struktur“ erfasst ein weites Feld. Bildung und Kultur gehören entscheidend dazu; ebenso ein soziales und solidarisches Umfeld. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Er braucht Erfolgserlebnisse und Anerkennung, letztendlich vor allem Perspektiven. Solcher Optimismus ist wichtig, um wachsender Zukunftsangst trotz ständig steigenden Wohlstands oder auch dem Erstarken sogenannter Protestparteien zu begegnen.


Eine Generationenaufgabe

Wandel wird in dieser Gemengelage oft als Bedrohung empfunden und Strukturwandel nicht als Chance begriffen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Umgestaltung einer über viele Generationen gewachsenen Industrieregion keine Aufgabe für wenige Jahre ist und einen langen Atem braucht. Sie ist eine Aufgabe über Generationen. Insider kennen die Diskussion, die aktuell um die Ertüchtigung des traditionsreichen Zechenstandorts der „Neuen Victoria“ in Marl geführt wird. Sie ist Kernstück des „Umbau 21“, den Politik, Wirtschaft – und die Menschen vor Ort – in der Emscher-Lippe-Region zu schultern haben. Auch in der Psychologie dieser Arbeitswelt ist dies kein einfaches Unterfangen: Nachdem sich in direkter Nachbarschaft zum Evonik-Chemiepark Marl die Chance eröffnet hat, mit einem Schlag 1.000 neue Logistikarbeitsplätze zu schaff n, kam tatsächlich die Frage auf, ob solche Arbeit den bisherigen Bergleuten überhaupt zuzumuten sei. Geäußert haben solche Zweifel vor allem Politiker, weniger die Betroffenen selbst. Was für eine Anmaßung!

Bereits der Wandel von einer Arbeit unter Tage zu solcher über Tage führt scheinbar zu Irritationen, auch dann, wenn der vorgeschlagene Weg in eine Zukunftsbranche weist und direkt mit dem Schlagwort Strukturwandel verbunden ist. Aus allen Teilen Deutschlands, gar Europas, drängen namhafte Logistikunternehmen in die Ruhrregion. Sie eröffnen Chancen, teilzuhaben am globalen Wirtschaften. Das ist keine Bedrohung, sondern Herausforderung und die Chance auf die Schaffung neuer, durchaus hochwertiger Arbeitsplätze.

 

Bedenken und Luxusprobleme

Der Süden Deutschlands hatte im vergangenen Jahrhundert den Umbau von der Agrar- zur modernen Industriegesellschaft zu bewältigen – damals gefördert durch das Wachstum an der Ruhr! Dort aber scheitern Projekte nicht an Ängsten vor dem Verlust des gewohnten Lohn- und Anforderungsniveaus, sondern an Bedenken, die woanders als Luxusprobleme empfunden würden: steigende Lärmbelästigung, Neubau von Straßen und Schienen und Zerstörung von Teilen einer schönen Landschaft. Gleiches gilt für Hochleistungsstromtrassen im Zuge der Energiewende. Das Moderne erschreckt manchmal. In den Hightech-Regionen Bayerns und Baden-Württembergs wird so etwas wohl noch eher als Last des Neuen empfunden; anders als in den angestammten Industriestandorten im Westen. Eine größere Bereitschaft, Veränderung als Voraussetzung für den Wandel zur Zukunftssicherheit zu akzeptieren, wäre ein positiver Standortfaktor.

Damit neue Projekte gelingen, brauchen sie nicht nur Betriebswirte und Ingenieure, sondern auch „globalisierte“ Fachkräfte. Sie sollten sich auf der Weltkugel bestens zurechtfinden, mehrere Fremdsprachen beherrschen und sich global mit den Warenströmen und Verkehrswegen auskennen. Sie müssen täglich über Alternativen zum Althergebrachten nachdenken, statt nur in Traditionen zu verharren. Es gilt, täglich offen und bereit zu sein für Neues!

Der Industriepionier Henry Ford stellte an seine Produktionsstandorte die unverzichtbare Bedingung, dass sie über die Anbindung an leistungsfähige Wasserwege verfügen müssten. Das war frühe Strukturpolitik, geprägt von einem Mann, der sein Geld mit Automobilen verdiente, nicht mit Schiffen. Solche Weitsicht entscheidet über die Zukunft von Ländern, Regionen und damit über die Zufriedenheit der Menschen, die dort leben. Sie erwarten berufliche Perspektiven, die ihnen Teilhabe am wachsenden Wohlstand sichern.

 

Globalisierte Fachkräfte

Wandel, auch der von Strukturen, findet in den Köpfen statt. Laut einer Forsa-Umfrage zum Strukturwandel im Ruhrgebiet bedauert eine zwar knappe, seit Jahren aber kaum verändert stabile Mehrheit das nahe Ende der Kohleförderung im Jahr 2018. Das gilt nicht nur für Anhänger der SPD und CDU, sondern auch für die der Grünen und der AfD. Beharrungsvermögen erscheint als ein ebenso parteiübergreifender Wesenszug wie die Angst vor Umbruch und Erneuerung.

Dabei ist der Umbau in großen Teilen längst vollzogen. Im sogenannten Primärsektor, also in der Produktion von Rohstoffen, arbeiteten in Nordrhein-Westfalen bereits 2009 nur noch 130.000 Menschen – grob ein Drittel im Vergleich zum Jahr 1961. Der Sekundärsektor, die industrielle und handwerkliche Weiterverarbeitung, schrumpfte in diesem Zeitraum auf rund zwei Millionen Beschäftigte, ein Rückgang um ein Drittel. Verdreifacht hat sich zugleich die Zahl der Dienstleister auf rund 6,5 Millionen Menschen. Das ist sehr viel für eine traditionsreiche Industrieregion und zeigt möglicherweise die Grenzen für den weiteren Strukturwandel auf.

 

Verklärung der Vergangenheit

Nostalgische Sehnsüchte gehen also einher mit einer anders gearteten Wirklichkeit. Die Ansprüche sind deutlich gewachsen, „grüne“ Standortfaktoren zunehmend wichtig geworden. Gemeinschaften, wie sie die Großbetriebe der Schwerindustrie und des Bergbaus hervorbrachten, ordnen sich neu und anders. Homogenität und überkommene Identität weichen der Individualisierung – in aller Regel so schleichend, dass das Vergangene in beschönigender Verklärung wahrgenommen wird. Ängste scheinen ausgeprägter, als es der gewandelten Realität geschuldet wäre. Solchen Ängsten gilt es mit Mut, Entschlossenheit und Offenheit zu begegnen. Beste und umfassende Bildung ist das geeignete Rüstzeug für die „globalisierten“ Fachkräfte von heute und morgen. Das Ruhrgebiet mit seiner vielfältigen Hochschullandschaft hat die passenden  Voraussetzungen  dafür.

Ideen, das produzierende Gewerbe gänzlich durch den Dienstleistungssektor zu ersetzen, sind eine gefährliche Illusion. Sie werden dem vorhandenen Facharbeiterpotenzial nicht gerecht und nehmen Perspektiven. Gerade die Wertschöpfung einer Region braucht Produktion, wenn der Umbau nicht am Ende an sinkender Kaufkraft scheitern soll.

Das bedeutet auch, dass bezahlbare Energie als Ressource für die Produktion ausreichend verfügbar sein muss. Die Konflikte, die unter dem Zeichen der Energiewende entstanden sind, müssen gelöst werden. Der Bedarf an unbequemen Entscheidungen ist gewachsen – ausgerechnet im Umbruch des politischen Machtgefüges. Politiker müssen hier die Perspektiven aufzeigen – aber genauso auch die Grenzen der Partikularinteressen! Andernfalls überfordern sie nicht nur die Wirtschaft, sondern letztlich auch die Bürgerinnen und Bürger, die nichts mehr fürchten als das Ungewisse – oder gar das Beliebige.

Evonik will den besonderen Herausforderungen als energieintensives Unternehmen gerecht werden. Wir erzeugen Strom, Dampf und Wärme an unseren deutschen Standorten überwiegend mit Kraft-Wärme-Koppelung und sparen so bis zu zwanzig Prozent Energie ein. So können wir den Schadstoffausstoß zugleich um bis zu 500.000 Tonnen CO2 pro Jahr mindern. Unabhängig von diesen unternehmerischen Maßnahmen spüren wir Kostennachteile – nicht nur aufgrund der hierzulande hohen Energiepreise, sondern auch aufgrund zusätzlicher Lasten durch nationale Rahmenbedingungen, die das Erneuerbare-Energien-Gesetz vorgibt. Auch die europäischen Rahmenbedingungen wie der Emissionshandel nach Vorgaben durch das Europäische Emissionshandelssystem (EU-ETS) wirken sich nachteilig aus.

Wir fürchten nicht die Veränderung, sind aber auf die Verlässlichkeit der Weichenstellungen angewiesen. Nachhaltige Energiepolitik erfordert nachhaltige Rahmenbedingungen: Wer seinen Beitrag zur CO2-Reduzierung erbringt, sollte Anspruch auf den entsprechenden Ausgleich haben. Wir setzen auf die Entschlossenheit der Politik, für faire internationale Wettbewerbungsbedingungen über unsere Grenzen hinaus zu sorgen. Strukturpolitik ist keine nationale Spielwiese, sondern gehört zum „Global Play“.

 

Ideenreiches Strukturprogramm

Ein erneuter Blick in den deutschen Süden ist geboten: dorthin, wo neue Flughäfen pünktlich fertiggestellt werden und Industrieansiedlung in der Fläche über Jahrzehnte Erfolgsgeschichten geschrieben hat. Bayern hatte eine andere Ausgangslage als die Reviere in Nordrhein-Westfalen. Im Ruhrgebiet müssen Industriegebiete nicht neu aus dem Boden gestampft werden, sondern es gilt, vorhandene Anlagen oder Brachflächen zu ertüchtigen. Das erfordert den Willen, Standorte in ihrer Gesamtheit durch Wandel zu erhalten. Ist es denn richtig, dass bei uns zunehmend Familien in die einst strukturschwachen Regionen wie das Sauerland und das Westmünsterland ziehen, weil sie diese als lebenswerter, sicherer und mit blühendem Mittelstand gesegnet wahrnehmen? Es ist an der Zeit, ein ideenreiches Strukturprogramm etwa für den Ballungsraum nördlich der Ruhr aufzulegen, das neben leistungsfähigen Verkehrsnetzen und neuen Gewerbeflächen auch höhere und neue Lebensqualität als heimatlichen Standortfaktor anstrebt. Dazu zählen Arbeitsangebote genauso wie Freizeitmöglichkeiten. Exzellente Schulen und Bildungseinrichtungen gehören schwerpunktmäßig in diese Region, um neue Chancen zu eröffnen. Und nicht zuletzt bedarf es einer hervorragenden Infrastruktur: ob Straße, Schiene oder Datenautobahn. Das nördliche Ruhrgebiet muss die nötige Entwicklungshilfe jetzt erhalten, damit es neuen Anschluss an Wachstum und Wohlstand bekommt.

Zum erfolgreichen Strukturwandel gehört auch ein nüchterner Blick auf vorhandene Kompetenzen und Ressourcen. Der Nordosten zeigt, was darunter zu verstehen ist. In den Jahren der Wiedervereinigung gab es dort zu einfache Rechnungen: Das Meer war als Standortfaktor vorhanden. Dazu galt die scheinbar sichere Erwartung eines wachsenden Marktes für die Gastronomie der Oberklasse. So wurden mit vielen Millionen aus den Fördertöpfen große Luxushotels gebaut, die nun offensichtlich niemand braucht. Man hätte sich mehr um das kümmern sollen, was aus einer Werftindustrie mit hochtechnischer industrieller Zukunft hätte werden können. Es ist besser, die Stärken zu stärken! An das Standortkapital dieses Arbeitskräftepotenzials wurde zumindest in den Wendejahren ebenso wenig gedacht wie an die Auswirkungen auf vorhandene, funktionierende Sozialstrukturen. Der Versuch, aus der Industrie- und Hafenstadt Rostock ein neues, großes Ostsee-Sylt zu machen, war die falsche Vision.

 

Standortvorteile hervorheben

Was bleibt als Lehre für die Ruhrregion und ihren zweifellos weiterhin nötigen Wandel? Zunächst einmal eine realistische Sicht auf die immer noch erheblichen strukturellen Defizite, besonders im gesamten nördlichen Ruhrgebiet und besonders im Norden von Essen und Dortmund, Duisburg, Bochum und Bottrop. Gleichzeitig gilt es, die Standortvorteile offensiv herauszustellen: die hochklassige Hochschullandschaft ebenso wie die lebendige Kulturszene. Die Weltoffenheit ebenso wie die Tüchtigkeit. Die Liebe zum Sport und die weltweite Exzellenz des Fußballs im Ruhrgebiet. Ja, nicht alles Erwünschte wurde erreicht. Solche Einsicht sollte über Wahltage hinaus Bestand haben, zu beschleunigten Entscheidungen und Planungsprozessen führen. Ärgernisse wie das ewige Warten auf wichtige Autobahnlückenschlüsse sind Antrieb für rasches Handeln statt für politisches Lamento.

Gesellschaftliche, politische, wirtschaftliche und technische Herausforderungen sind immer wieder großen Veränderungen unterworfen. Der Beginn des 21. Jahrhunderts mit seiner fortgeschrittenen Informations- und Kommunikationstechnik, mit dem Ausmaß der Globalisierung und den offensichtlich zunächst weiter wachsenden inneren Problemen Europas gestaltet sich unter diesem Blickwinkel dramatisch. Unsere Generation steht vor Herausforderungen, die in ihrem Ausmaß zum großen Teil nur schwer abzuschätzen sind. Wir müssen uns in der Veränderung und Veränderungsfähigkeit fit halten, um auch morgen alles annehmen zu können, was sich an Aufgaben stellt. Eine pragmatische und zugleich ideenreiche Gestaltung der strukturellen Grundlagen muss im Ruhrgebiet unser politischer, wirtschaftlicher und sozialer Markenkern für morgen bleiben. Damit sind wir in Deutschland gut aufgestellt.

Klaus Engel, geboren 1956 in Duisburg, Vorsitzender des Vorstands der Evonik Industries AG.

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