Als Coleman Silk, Professor für Literaturwissenschaften und erster Dekan jüdischer Abstammung am Athena College in Massachusetts, bemerkt, dass zwei seiner Studenten regelmäßig im Seminar fehlen, entfährt ihm eine folgenschwere Äußerung. Vor versammeltem Auditorium fragt er sie ironisch, was die beiden wohl seien: „Spooks“? „Gespenster“? „Gestalten, die das Licht scheuen“? Die beiden angesprochenen Studenten stellen sich als Afroamerikaner heraus – und erheben Anklage, weil das Wort „Spooks“ auch als abfällige Bezeichnung für Schwarze verstanden werden kann. Silk, der selbst Amerikaner afrikanischer Herkunft ist – mit einer Haut, die hell genug ist, um als Weißer durchzugehen und dadurch Diskriminierungen zu umgehen –, wird nun des Rassismus bezichtigt. Die nachfolgenden Anhörungen und inneruniversitären Machtkämpfe haben zur Folge, dass er nicht nur seine Professur verliert, sondern auch seine Ehefrau Iris einem tödlichen Schlaganfall zum Opfer fällt. Silks Ansehen, Anstellung, sein Privatleben liegen in Scherben.
Das ist die Fabel von Der menschliche Makel, dem großen Roman Philip Roths, und die wohl berühmteste intellektuelle Treibjagd im Namen der sogenannten Political Correctness, jenes Phänomens, das seit den 1990er-Jahren eine immer weitere Zeugenschaft zu gewinnen scheint und das auch aktuell fern der literarischen Fiktion realen Einzug in sämtliche US-amerikanische wie europäische Lebenswelten hält – allen voran in die universitären.
An der Harvard-Universität verlangten Jura-Studentinnen jüngst, das Thema Vergewaltigung aus dem Lehrplan zu streichen, weil es Traumata wiederbeleben könne. Die Northwestern University wurde zur Einrichtung von „safer spaces“ zum Schutze diverser Identitätsgruppen aufgefordert, die ein Nichtbetroffener nicht betreten dürfe. Die Applikation von Warnungen bei Primärtexten im universitären Gebrauch, die beispielsweise von sexuellen Übergriffen, wie in Ovids Metamorphosen, oder Antisemitismus, wie in Shakespeares The Merchant of Venice, handeln, ist auch über US-amerikanische Staatsgrenzen hinaus üblich geworden. Wer sich durch die suizidalen Implikationen in Virginia Woolfs Mrs Dalloway bedroht oder durch die rassistische Ausdrucksweise in den Werken Mark Twains beleidigt fühlt, darf die Teilnahme am Unterricht unter bestimmten Voraussetzungen verweigern. Auch an der Berliner Humboldt-Universität installierten Soziologie-Studenten vor einiger Zeit einen Watchblog, der Äußerungen des renommierten Professors und Politikwissenschaftlers Herfried Münkler „kritisch kommentiert“, wie die Studenten sagen, oder, wie Münkler selbst sagt, ihn mit „Umständen der permanenten Denunziationsdrohung“ belegt.
Sprechbarkeit von Widerstrebendem?
Mögen die Beispiele vom Campus noch so trivial erscheinen und sind die Intentionen der überzogenen Verhaltensweisen in manchen Fragen etwa mangelnder Sensibilität auch legitim: Sie attestieren Anzeichen eines „postpolitischen Zeitgeistes“, der sich gegen die Sprechbarkeit von Widerstrebendem wendet. Die belgische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe warnt davor, die antagonistische Struktur des Politischen zu verleugnen; mit einer solchen Harmonisierung würden demokratische Ordnungen als Austragungsort konf ligierender Interessenparteien aufgegeben. Galt die Trennung von Wahrheits- und Machtfragen gerade noch als besonders erstrebenswerte Errungenschaft moderner Demokratien, wird sie nun durch die populäre Sehns- ucht nach Harmonisierung und Nivellierung, nach Konsens und Mitte, nach Zusammenhalt und Einheit bedroht.
Die hauptsächlichen Konfliktlinien bewegen sich nicht mehr in der Sphäre eines Streites zwischen Egalitären und Elitären, auch nicht zwangsläufig zwischen anderen Polen klassischer Interpretation, wie Progressiven und Konservativen oder Internationalisten und Nationalisten; das Spektrum linker Gesinnungen auf der einen und rechter Gesinnungen auf der anderen Seite scheint sich in seiner exklusiven Bedeutsamkeit aufzulösen. Die Folge sollte jedoch nicht sein, wie auch Mouffe warnt, die inhaltlichen ideologischen Kategorien von „links“ und „rechts“ durch moralische Kategorien von „richtig“ und „falsch“ zu ersetzen. Es ist zu einem fatalen Trend geworden, jedweder politischen Meinung abzusprechen, sie repräsentiere die politische Mitte, wenn sie sich nicht eindeutig im verengten Korridor zwischen klassisch „links“ und klassisch „rechts“ verorten lasse. Die Einordnung eines politischen Standpunktes unterläge dann selbst moralistischer Willkür, denn bereits das angenommene Spektrum ist politisch streitbar.
Dauerkonsens löst den Pluralismus auf
Ein wesentliches Element des Politischen ist seine antagonistische Dimension, die eine Wahlmöglichkeit voraussetzt und eine Entscheidung zwischen Alternativen. Der konsenssehnende Ausdruck der politischen Mitte aber suggeriert eine allgemeine Übereinstimmung. Damit würde der für die parlamentarische Demokratie konstitutive Meinungspluralismus partikularer Interessenakteure jedoch aufgelöst. Die öffentliche Rezeption der Merkel’schen „Alternativlosigkeit“ war deshalb auch von begründeter Notwendigkeit.
Im Zuge aktueller öffentlicher Debatten scheint die Mitte selbst schmaler geworden zu sein. Politische Beobachter sehen die gegenwärtigen Umfrageverluste der großen Regierungsparteien und den Untergang der FDP als Partei bürgerlicher Mitte bei der Bundestagswahl 2013 als Menetekel für eine gefährdete Mitte an. Populistische Ränder griffen nach der Mitte, ereiferten sich viele.
Sicherlich mögen die hohe Komplexität und die Unübersichtlichkeit sich stetig wandelnder postmoderner Gesellschaften auch ein Grund für jene einfachen Antworten sein, die angesichts allgemeiner Überforderung derzeit bei Populisten jeder Art verfügbar zu sein scheinen. Die genau falsche Antwort darauf aber ist das Heraufbeschwören einer geeinten Mitte, die differenzauflösende und zwangsharmonisierende Politik als demokratisch gesund vorstellt und jedwede Alternative bereits bei deren Annahme schon moralisch diskreditiert.
Wer sich nach gesunden demokratiewürdigen Verhältnissen, also einer zuverlässigen demokratischen Kultur im Sinne eines geordneten Wettstreits politischer Ideen sehnt, tut fehl daran, den Korridor der politischen Mitte zu verengen. In lebendiger Demokratie ist die Mitte niemals ein Punkt; sie ist die Anerkennung der Breite eines sprechbaren Meinungspluralismus.
Diana Kinnert, geboren 1991 in Wuppertal, Studentin der Politikwissenschaft und Philosophie, Stipendiatin der Konrad-Adenauer-Stiftung, seit Oktober 2014 Mitglied der CDU-Bundeskommission Parteireform „Meine CDU 2017“. Dort leitet sie gemeinsam mit dem Generalsekretär der CDU Niedersachsen, Ulf Thiele MdL, die Arbeitsgruppe Jugend.