Umfragen in der Massengesellschaft von Elisabeth Noelle-Neumann, Anfang der 1960er-Jahre verfasst, ist eine leicht verständliche Einführung in die Demoskopie, voller praktischer Beispiele. Vor zwei Jahrzehnten stand man vor der Aufgabe, dieses damals bereits mehr als dreißig Jahre alte Buch zu aktualisieren. Nun, Mitte der 1990er-Jahre, sollte das Buch neu herausgebracht werden, und natürlich sollte es ganz frisch wirken, also mussten die alten Beispiele durch vergleichbare neue ersetzt werden. Was auf den ersten Blick wie eine leichte Fleißaufgabe aussah, entpuppte sich als kompliziertes Problem, denn es stellte sich heraus, dass es nicht ausreichte, einfach die alten Zahlen durch aktuelle zum gleichen Thema u ersetzen. Stattdessen musste man gänzlich neue Beispiele finden, denn die alten funktionierten nicht mehr, etwa das Beispiel für eine Scheinkorrelation. Man spricht von einer Scheinkorrelation, wenn zwei Merkmale statistisch miteinander zusammenhängen, ohne dass es einen inhaltlichen Zusammenhang im Sinne von Ursache und Wirkung gibt. Elisabeth Noelle-Neumann hatte das Beispiel gewählt, dass Frauen, die Lippenstift benutzten, sich mehr als andere für Politik interessierten. Natürlich bedeutete das nicht, dass der Lippenstift das Interesse an Politik anregte, sondern der Zusammenhang ließ sich leicht durch die soziale Schicht erklären: Frauen aus der Oberschicht benutzten häufiger Lippenstift und interessierten sich außerdem mehr für Politik.
Doch dreißig Jahre später war der Zusammenhang zwischen der Kosmetiknutzung und dem Politikinteresse verschwunden – wie auch all die anderen im Buch aufgeführten Zusammenhänge, die auf Kontraste zwischen den sozialen Schichten hinwiesen. Die Schichten hatten sich in der Zwischenzeit in ihren Verhaltens- und Kons- umgewohnheiten so stark aneinander angenähert, dass die Unterschiede, also die sozialen Effekte, in den Umfragen kaum noch zum Tragen kamen. Notgedrungen wurden schließlich die meisten Beispiele durch Alterseffekte ersetzt. In der 1996 unter dem Titel Alle, nicht jeder erschienenen Neuausgabe wird die Scheinkorrelation mit dem Zusammenhang zwischen dem täglichen Fernsehkonsum und der Häufigkeit des Brilletragens illustriert (Überschrift: „Macht fernsehen blind?“).
Gefühlte Schere zwischen Arm und Reich
Bereits damals stieß dieser Befund der Angleichung der Lebensverhältnisse bei vielen Menschen auf Erstaunen, ja auf Unglauben, denn er widersprach der auch schon vor zwanzig Jahren weit verbreiteten Ansicht, dass die sozialen Schichten in Deutschland immer weiter auseinanderdrifteten. Wie konnte es sein, dass eine Gesellschaft, die immer mehr in getrennte Sphären von Arm und Reich zerfällt, gleichzeitig so starke Angleichungstendenzen im Alltag zeigt, dass die Schichten bei Umfragen nur noch mit Mühe auseinanderzuhalten waren?
In der Zeit, die seitdem vergangen ist, hat sich die Vorstellung von einer auseinanderdriftenden Gesellschaft weiter verfestigt, so sehr, dass sie heute kaum noch infrage gestellt wird. Sie gilt praktisch als gesichertes Wissen. Das spiegelt sich auch in den Umfragen des Instituts für Demoskopie Allensbach wider. Im Oktober 2011 stellte das Institut in einer repräsentativen Bevölkerungs- umfrage die Frage „Wenn jemand sagt: ‚Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander.‘ Haben Sie den Eindruck, das stimmt, oder haben Sie nicht diesen Eindruck?“ 86 Prozent der Befragten antworteten, sie hätten diesen Eindruck, nur sieben Prozent widersprachen.
Eine andere Frage vom November 2013 lautete: „Was meinen Sie: Hat die soziale Gerechtigkeit bei uns in den letzten drei, vier Jahren zugenommen, abgenommen, oder ist sie gleich geblieben?“ 61 Prozent meinten daraufhin, die soziale Gerechtigkeit habe abgenommen, 26 Prozent glaubten, sie sei gleich geblieben. Lediglich sieben Prozent gaben die Antwort, ihrer Meinung nach habe die soziale Gerechtigkeit zugenommen.
Wie sehr sich die Einstellung der Bevölkerung zu diesem Thema verändert hat, zeigen die Antworten auf die Frage „Wie sehen Sie das: Sind die wirtschaftlichen Verhältnisse bei uns in Deutschland – ich meine, was die Menschen besitzen und was sie verdienen – im Großen und Ganzen gerecht oder nicht gerecht?“. Seit dem Jahr 1964, als die Frage zum ersten Mal gestellt wurde, bis in die 1990er-Jahre hielten sich die Anteile derjenigen, die sagten, die wirtschaftlichen Verhältnisse seien gerecht, und derer, die sagten, sie seien nicht gerecht, ungefähr die Waage. Danach aber stieg die Zahl der Befragten, die die Verhältnisse für nicht gerecht hielten, stark an. Zu Beginn dieses Jahrzehnts vertraten sogar zwei Drittel der Deutschen diese Meinung. Im Jahr 2015 waren es mit 57 Prozent zwar wieder etwas weniger, doch immer noch weitaus mehr als in den Jahrzehnten zuvor.
Diese Entwicklung ist bemerkenswert, weil sich die tatsächliche soziale Schichtung in Deutschland in den letzten Jahrzehnten, wenn überhaupt, nur wenig verändert hat. So kam beispielsweise der Bonner Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel im Jahr 2008, also auf dem Höhepunkt der öffentlichen Klagen über eine angeblich auseinanderdriftende Gesellschaft, zu dem Schluss, dass in den Jahren zuvor die unterste soziale Schicht tatsächlich zum ersten Mal seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland leichte reale Einkommenseinbußen hatte hinnehmen müssen, doch von einer fundamentalen Verschiebung des sozialen Gefüges konnte keine Rede sein. In die gleiche Richtung deuten auch die Zahlen des Statistischen Bundesamtes: In dem regelmäßig gemeinsam mit dem Wissenschaftszentrum Berlin, dem Soziooekonomischen Panel (SOEP) und dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) herausgegebenen Datenreport weist das Bundesamt aus, wie groß der Anteil der Einkommen ist, die die ärmsten zwanzig Prozent der Bevölkerung erwirtschaften. Das Ergebnis: 1991, in dem ersten Jahr, für das gesamtdeutsche Daten vorliegen, betrug der Wert 9,7 Prozent, 2014 lag er bei 9,1 Prozent. Auch in den dazwischen liegenden Jahren schwankten die Zahlen eng um diese Werte. Alles in allem kann man aus diesen Zahlen möglicherweise eine sehr leichte Tendenz zur Spreizung der Einkommen in der Gesellschaft herauslesen, doch ein dramatisches Anwachsen einer zunehmend abgehängten Unterschicht ist nicht erkennbar.
Auch in den Allensbacher Umfragen ist von einer größeren Verschiebung der sozialen Schichten wenig zu spüren, sobald man nicht nach Meinungen, sondern nach konkreten Beobachtungen fragt. So stufen beispielsweise die Fragesteller des Instituts nach jedem Interview ein, in welche soziale Schicht der Befragte einzuordnen ist, ob in die Oberschicht (A), die obere Mittelschicht (B), die breite Mittelschicht (C) oder die Unterschicht (D). Als Leitfaden dient dabei ein Merkblatt, das den Interviewern mit dem Fragebogen mitgeschickt wird und dessen Text seit Jahrzehnten unverändert ist. Der Langzeitvergleich zeigt, dass zwar die Zahl derjenigen Befragten, die in die oberen Schichten eingeordnet werden, über die Jahrzehnte hinweg zugenommen hat, der Anteil jener aber, die der Unterschicht zugeordnet werden, gleich geblieben ist. Von einem Herabsinkenden größerer Teile der Mittelschicht in die Unterschicht ist nichts zu sehen.
Damit stehen die Meinungsäußerungen der Bevölkerung zur sozialen Lage im Land in einem auffälligen Widerspruch zu den statistischen Befunden: Während sich die tatsächliche materielle Ungleichheit im Land kaum verändert hat, hat sich die Bewertung der Lage massiv verschoben. Nicht die tatsächliche soziale Ungerechtigkeit, sondern die „gefühlte Ungerechtigkeit“ ist gewachsen. Wenn aber dieselbe Situation zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedlich bewertet wird, kann das letztlich nur bedeuten, dass sich die Bewertungsmaßstäbe verändert haben. Tatsächlich gibt es Hinweise darauf.
Seit den 1970er-Jahren bittet das Institut für Demoskopie Allensbach seine Befragten regelmäßig, sich auf der politischen Links-Rechts-Skala einzustufen, wobei 0 extrem links und 100 extrem rechts bedeutet. Seit mittlerweile vierzig Jahren zeigt sich dabei das gleiche Antwortmuster: Die große Mehrheit der Befragten stuft sich in der politischen Mitte ein, und je weiter ein Punkt auf der Skala von der Mitte entfernt liegt, desto seltener wird er von den Befragten ausgewählt.
Selbsteinschätzung auf der Recht-Links-Skala
Analysiert man das Antwortverhalten aber etwas genauer, dann zeigt sich, dass sich in den letzten vier Jahrzehnten eine charakteristische Änderung vollzogen hat: Im Jahr 1976 lag das Übergewicht noch leicht auf der rechten Seite. Im Durchschnitt stuften sich die Befragten damals bei 54,7 sein. In den folgenden Jahren wanderte der Durchschnittswert dann langsam, aber beharrlich nach links: 1982 lag er bei 53,7, 1991 bei 51,5, im Jahr 2000 exakt auf dem Mittelpunkt bei 50,0, 2013 schließlich knapp, aber deutlich links von der Mitte bei 49,0. Diese Veränderung mag geringfügig erscheinen, doch tatsächlich ist sie zumindest potenziell von großer Bedeutung, denn es handelt sich um Durchschnittswerte, die im Zeitverlauf wesentlich stabiler sind als die bei Umfragen sonst meistens ausgewiesenen Trendreihen von Prozentwerten, sodass selbst kleine Verschiebungen für substanzielle gesellschaftliche Entwicklungen stehen können.
Eine Verlagerung des gesellschaftlichen Schwergewichts von einer Position auf der gemäßigten rechten hin zu einer auf der gemäßigten linken Seite bedeutet, dass sich auch die Hierarchie der Werte in der Gesellschaft verändert. Das zeigt sich beispielsweise, wenn man die Ergebnisse der Links-Rechts-Einstufung mit denen einer Frage zusammenführt, mit der die Einstellung zur den Grundwerten Freiheit und Gleichheit ermittelt wird. Dazu überreichen die Interviewer ein Dialogbildblatt, das zwei Personen im Schattenriss zeigt. Beiden Figuren ist, wie in einem Comic, eine Sprechblase zugeordnet. Die erste Person sagt: „Ich finde Freiheit und möglichst große Gleichheit, soziale Gerechtigkeit, eigentlich beide wichtig. Aber wenn ich mich für eines davon entscheiden müsste, wäre mir die persönliche Freiheit am liebsten, dass also jeder in Freiheit leben und sich ungehindert entfalten kann.“ Die Gegenposition lautet: „Sicher sind Freiheit und Gleichheit, soziale Gerechtigkeit wichtig. Aber wenn ich mich für eines davon entscheiden müsste, fände ich eine möglichst große Gleichheit am wichtigsten, dass also niemand benachteiligt ist und die sozialen Unterschiede nicht so groß sind.“ Die Frage zu diesem Dialogblatt lautet: „Welcher von beiden sagt eher das, was auch Sie denken?“ Je weiter sich jemand auf der politischen Skala links einordnet, desto eher neigt er bei dieser Frage dazu, der Gleichheit den Vorrang vor der individuellen Freiheit zu geben.
Eine Gesellschaft, deren weltanschaulicher Schwerpunkt sich nach links verlagert, ist also eine Gesellschaft, die tendenziell immer mehr Gewicht auf soziale Gleichheit legen wird. Und das kann auch bedeuten, dass ein Ausmaß an sozialer Differenzierung, das vor dreißig Jahren von den meisten noch als akzeptabel empfunden wurde, heute von einer Mehrheit als unerträglich eingestuft wird.
Thomas Petersen, geboren 1968 in Hamburg, Projektleiter am Institut für Demoskopie Allensbach.
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