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Über Fußball, Patriotismus und nationale Identifikation

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Wer erinnert sich noch an den Fußballsommer 2006? „Deutschland. Ein Sommermärchen“: Kaum hatte die Fußballweltmeisterschaft begonnen, ging ein Stimmungsaufschwung durch das Land. Das Wetter tat sein Übriges dazu, sodass sich Deutschland vier Wochen lang einem berauschenden Fest hingab. Aber nicht nur das deutsche Selbstbild erfuhr eine signifikante Aufwertung – auch das Ausland fühlte sich „zu Gast bei Freunden“. Die große Identifikation mit der Nationalmannschaft wurde durch ein signifikantes Interesse an der Kultur der anderen Nationen flankiert. Empirische Analysen zum Deutschlandbild im Ausland kamen zu dem Ergebnis, dass die Weltmeisterschaft die Reputation Deutschlands in der Welt positiv beeinflusst hat. Wer in dieser Zeit noch vor nationalem Überschwang warnte, hatte einen schweren Stand. Die vormals leicht zu besetzende Rolle der nationalen Kassandra war nicht mehr gefragt.

Parallel zur Fußballweltmeisterschaft setzte eine Diskussion über einen vermeintlich neuen Patriotismus in Deutschland ein. „Deutschsein“ war im Sommer 2006 wieder „in“, sich zum eigenen Land zu bekennen, war fast eine Selbstverständlichkeit geworden. Der Begriff „Patriotismus“ galt nicht länger als ungeliebtes Fremdwort, das aus dem deutschen Sprachgebrauch vollständig verschwunden schien. Wie ist das in Anlehnung an Bern 1954 titulierte „Wunder von Berlin“ zu erklären? Wie lässt es sich rückblickend einordnen und bewerten?

Weltmeisterschaft als gesellschaftliches Brennglas

Von einem schwarz-rot-goldenen „Wunder“ kann keine Rede sein. Wunder sind kein Menschenwerk, sondern Zeichen göttlichen Waltens beziehungsweise göttlicher Güte. Auch wenn der Himmel während der WM heiter und der Fußballgott der deutschen Mannschaft überaus wohlwollend gesonnen war, so handelte es sich keineswegs um ein unerklärliches Vorkommnis. Im Gegenteil: Die unbefangene Identifikation mit der eigenen Nationalmannschaft wurzelte in einer grundsätzlich veränderten Einstellung der Deutschen gegenüber ihrem Gemeinwesen. Was waren die Gründe hierfür?

Eckhard Fuhr hat in verschiedenen Publikationen das „Ende der Nachkriegszeit“ als das „Leitmotiv“ der Regierung Schröder bezeichnet. Mit Rot-Grün übernahmen Repräsentanten der 68er-Generation Verantwortung für ein Gemeinwesen, an dessen Liberalität sie lange Zeit Zweifel geäußert hatten. Große Teile der Bevölkerung schlugen einen verantwortungsethischen Weg ein, der, noch unter Helmut Kohl als gefährlicher Sonderweg beargwöhnt, heute weitgehend unumstritten ist – sei es der „deutsche Weg“ im Irak-Konflikt, sei es die Aufwertung des Gedenkens an den 20. Juli 1944 durch die Einführung des Rekrutengelöbnisses vor dem Reichstag, sei es der deutlich unverkrampftere Umgang mit Begriffen wie „deutsche Nation“ und „deutsches Interesse“. Gerhard Schröder, der als erster Bundeskanzler an den Gedenkfeierlichkeiten zum „D-Day“ in der Normandie teilnahm, schuf mit seinem Regierungsstil, vermutlich unbeabsichtigt, zugleich einen Teil der Voraussetzungen für einen unverkrampfteren Umgang mit nationaler Symbolik, wie er sich bei der Weltmeisterschaft 2006 manifestierte.

Auch die zuvor kontrovers geführten Diskurse um „Leitkultur“ und „Multikulturalismus“ spielten eine Rolle. Der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert hat dieser Debatte behutsam neue Impulse verliehen. Mitte der 2000er-Jahre schien es gesellschaftlicher Konsens zu sein, dass gerade eine multikulturelle Gesellschaft einer gemeinsamen kulturellen Leitidee bedürfe. Dies forderten Intellektuelle mit Migrationshintergrund wie Seyran Ateş, Feridun Zaimoglu oder Zafer Şenocak ebenso wie später auch Renate Künast, die angesichts „jahrzehntelang verdrängter Integrationsprobleme“ in Deutschland einräumte, „der Grundbestand an Regeln und geteilten Überzeugungen“ einer Gesellschaft könne „nicht nur aus Paragraphen bestehen“. Dieser Diskurs kann als ein weiterer Erklärungsfaktor dafür herangezogen werden, warum auch mancher Fußballfan mit Migrationshintergrund sein Gesicht in Schwarz-Rot-Gold geschminkt hatte.

Es zeigt sich also, dass keinesfalls erst die WM 2006 das veränderte Verhältnis der Deutschen zur eigenen Nation hervorgebracht hatte, über das sich so mancher Feuilletonist verwundert die Augen rieb. Das Fußballfest wurde lediglich zur katalysierenden Projektionsfläche für ein sich im Wandel befindendes Deutschlandbild. Die WM wirkte gleichsam wie ein gesamtgesellschaftliches Brennglas, das Entwicklungen bündelte, die auf Verschiebungen im politisch-kulturellen Bewusstsein der „Berliner Republik“ verweisen.

Unschöne Blüten

Wie stellt sich diese Situation nun heute, im Jahr 2018, vor der Weltmeisterschaft in Russland dar? Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren verändert. Das positive Stimmungsbild des WM-Sommers zur Mitte der 2000er-Jahre ist in zweierlei Hinsicht eingetrübt worden: Einerseits verdichteten sich die Hinweise, dass bei der Vergabe der WM an Deutschland im Jahr 2000 nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sei. Dies ist jedoch eine eher sportpolitische Problematik. Andererseits – und hier geht es um die politische Kultur des Landes insgesamt – relativierte sich das Stimmungsbild dadurch, dass der entspannte und entkrampfte Umgang mit der eigenen nationalen Identität in den vergangenen Jahren unschöne Blüten getrieben hat.

Die im Oktober 2014 gegründete Pegida-Bewegung („Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“) instrumentalisierte Begriffe wie „Patriotismus“ gezielt für fremdenfeindliche und völkisch-chauvinistische Agitationen. Zudem ist mit der „Alternative für Deutschland“ (AfD), die sich zunächst als kritisches Korrektiv zur Eurorettungspolitik verstanden hatte, sich dann jedoch im Zuge der Flüchtlingsherausforderung zu einer rechtspopulistischen Kraft mit teilweise extremistischem Charakter transformierte, erstmals eine politische Partei rechts von der Union in den Deutschen Bundestag eingezogen, die mehrheitlich geschichtsrevisionistische, chauvinistische, in Teilen auch offen rassistische Positionen vertritt. Diese Tatsache lässt sich ebenso als größte parteipolitische Zäsur der Nachkriegsgeschichte wie auch als Normalisierung mit Blick auf die westeuropäischen Demokratien insgesamt deuten.

Die politische Kultur steht damit vor neuen Herausforderungen. Es scheint jedoch wenig angemessen, gleichsam den Untergang des Abendlandes auszurufen. Die Herausforderung kann und sollte konstruktiv angenommen werden. Es liegt nun an allen ernsthaften Demokraten, die Populisten und Vereinfacher zu entzaubern, zu zeigen, dass ihre Konzepte nicht zukunftsfähig, sondern rückwärtsgewandt sind. Dies ist eine wichtige Aufgabe, nicht nur für die etablierte Politik, sondern auch für die Wissenschaft, für die Schulen, für die politische Bildung und nicht zuletzt für die Zivilgesellschaft.

Gerade in einer solchen Gemengelage kann ein sportliches Großereignis wie eine Fußball-WM im politisch-kulturellen Bereich produktive Dynamiken entfalten. Das Sommermärchen 2006 war in dieser Form einzigartig. Es war gerade die Ungezwungenheit und Spontaneität dieser vier Wochen, die die WM 2006 für die feiernden Zeitgenossen zu einem unvergesslichen Erlebnis haben werden lassen. Jeder Versuch, dieses Erlebnis zu kopieren, muss krampfhaft wirken und ist somit zum Scheitern verurteilt. Sicherlich wird auch im kommenden Fußballsommer wieder ordentlich gefeiert, und die Festivitäten werden mit jedem Sieg der deutschen Mannschaft größere Ausmaße annehmen. Das Abschneiden der Nationalelf in der WM-Qualifikation und beim Confed Cup gibt jedenfalls Anlass zu Optimismus. Aber darauf kommt es im Kern nicht an. Aus der Perspektive des Fußballfans ist nichts dagegen einzuwenden, ein diffuses patriotisches Grundgefühl zur Unterstützung der eigenen Mannschaft einzusetzen – aus der staatsbürgerlichen Perspektive gilt es jedoch anzumahnen, dass sich Patriotismus darin nicht erschöpft. Die Feierkultur und der sportliche Erfolg waren aus der Perspektive des Citoyens nicht das Entscheidende im Sommer 2006. Entscheidend war vielmehr, dass erstmals vor aller Augen – sowohl der Deutschen als auch der Welt – ein heiterer und fröhlicher Umgang mit der eigenen Nation zu beobachten war, der nicht in Ressentiments gegenüber Anhängern anderer Nationen umschlug. Eine ähnlich gelagerte, praktizierte und gelebte Toleranz könnte es auch in diesem Sommer wieder geben – gerade in Zeiten von Pegida und AfD.

Jérôme, zieh bei uns ein!

Denn insbesondere der Sport birgt enormes Integrationspotenzial. Bei einem sportlichen Turnier wird eine Konkurrenz zwischen verschiedenen Nationen im Geiste der vom Sport vorgegebenen Regeln ausgetragen, die auf dem wechselseitigen Respekt der teilnehmenden Mannschaften und ihrer Anhänger gründen. Anstatt den mahnenden Zeigefinger zu erheben und die Gefahr des wieder erstarkten deutschen Nationalismus an die Wand zu malen, lässt sich das neuerliche Großereignis auch affirmativ als Chance für die Integrationsfähigkeit und den Selbstvergewisserungsprozess des Gemeinwesens begreifen.

Ein gutes Beispiel in diesem Zusammenhang war die „Nachbar-Debatte“ um Jérôme Boateng im Vorfeld der vergangenen Europameisterschaft. Auf die Aussage des AfD-Politikers Alexander Gauland, jemanden wie Jérôme Boateng, dessen Vorfahren aus Ghana stammen, der aber in Berlin geboren wurde und aufwuchs, wolle man nicht zum Nachbarn haben, folgte im Internet eine massenhafte Solidarisierung mit dem Nationalverteidiger. Im Stadion wurden Plakate mit dem Slogan „Jérôme, zieh bei uns ein“ geschwenkt. Eine kleine Randepisode – ohne Zweifel –, die jedoch symbolhaft für das im Sport schlummernde Integrationspotenzial steht.

Warum sollte man den Sport daher nicht als Vehikel für den Diskurs über einen zukunftsfähigen „Patriotismus 2.0“7 nutzen? In diesem Sinne dürfen wir uns hoffentlich auf eine sportlich erfolgreiche und spannende gesellschaftliche Diskurse anstoßende WM freuen.

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Manuel Becker, geboren 1984 in Bendorf, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologe der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

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