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Wertschätzung als Wert

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Die aktuelle Situation, die durch die Corona Pandemie ausgelöst wurde, stellt Politik und Gesellschaft national und international vor große Herausforderungen. Gerade in dieser Zeit wird Wertschätzung wieder zu einem besonderen Thema: gegenüber bestimmten Berufsgruppen oder als Solidarität untereinander. Wertschätzung zeigt sich in Zeiten der Krise besonders deutlich. Zu ihr wird aufgerufen, sie wird eingefordert, vielleicht wird sie auch an manchen Stellen instrumentalisiert. Es stellt sich daher umso mehr die Frage, was unter Wertschätzung verstanden werden kann und welche Rolle sie im politischen Handeln spielt.

Wird Wertschätzung zum Thema, dann rückt die Verbindung zwischen Menschen und damit die soziale Ordnung in den Fokus. Politik ohne eine Idee von Wertschätzung tendiert zur Verwaltung anonymer Gruppeninteressen, Wertschätzung ohne die Wirklichkeit von Politik verkennt die Manipulationsanfälligkeit kollektiver Identität. Beide Entwicklungen sind in der Gegenwart nicht zu übersehen.

Freilich ist Wertschätzung ein komplexes Phänomen. In der europäischen Geistes und Kulturgeschichte lassen sich mindestens drei Wurzeln für den Bedeutungshorizont von Wertschätzung anführen: In der griechischen Antike wird sie als eine Tugend des Umgangs und des Zusammenlebens zum Thema, in der jüdisch-christlichen Tradition ist es die Nächstenliebe, die eine zentrale Rolle spielt, und in der Aufklärung beziehungsweise im Deutschen Idealismus tritt der Schlüsselbegriff der Anerkennung in den Vordergrund.

Aristoteles beschreibt beispielsweise eine Tugend, für die es im Griechischen kein Wort gibt, die zwischen Gefallsucht auf der einen und der Eigensinnigkeit sowie Streitsucht auf der anderen Seite angesiedelt ist. Diese Tugend hat „keinen Namen bekommen, gleicht jedoch am meisten der Gesinnung, die den Verkehr unter Freunden bestimmt“. Wer, so führt Aristoteles weiter aus, diese Tugend besitzt, „nimmt jegliches gebührend auf, nicht weil er liebt oder hasst, sondern weil es so in seinem Wesen liegt“ (Aristoteles 1985, 93/1126b). Die zentrale Stellung der Nächstenliebe in der christlichen Tradition kommt im Doppelgebot der Liebe zum Ausdruck, das heißt in der Liebe zu Gott, die verschränkt ist mit der Liebe zum Nächsten. „Es ist kein anderes Gebot größer als diese“ (Mk 12,29 ff.). Die klassisch gewordenen Theorien zur Anerkennung im Deutschen Idealismus kulminieren in Hegels Überlegungen zu Herrschaft und Knechtschaft, die bezeichnenderweise mit dem Satz beginnen: „Das Selbstbewußtsein ist an und für sich, indem und dadurch, daß es für ein Anderes und für sich ist; d. h. es ist nur als ein Anerkanntes“ (Hegel 1988, S. 127). Als zentraler Bestandteil der Beschreibung und Bewertung sozialer Integrität ist Wertschätzung tief in der kulturellen Reflexion verankert.

 

Die Floskel „Auf Augenhöhe“

 

Wertschätzung, so könnte man allerdings heute meinen, hat etwas mit Höhenregulierung zu tun. Eine der beliebtesten und gleichzeitig vieldeutig nichtssagenden Floskeln der Gegenwart ist die „Augenhöhe“. Es komme darauf an, „auf Augenhöhe“ zu verhandeln oder „Augenhöhe herzustellen“, um miteinander in einen Dialog treten zu können. Abgesehen davon, dass die explizite Forderung nach Augenhöhe in einer realen Auseinandersetzung nichts anderes bedeutet, als die eingeforderte Höhe im Augenblick der Forderung faktisch zu verlieren und ins Bodenlose zu sinken, ist das Bild schräg, zumindest dann, wenn es mit Wertschätzung in Verbindung gebracht wird. Denn offenkundig stellen sich anschließend einige Fragen: Hat Wertschätzung etwas damit zu tun, Unterschiede einzuebnen? Benötigt man überhaupt noch Wertschätzung, wenn es keine Differenzen mehr gibt? Und ist Wertschätzung nicht gerade eine Umgangsform unter Menschen, in der Unter schiede zugelassen werden, weil sie in einem gewissen – und sicherlich zu klärenden – Sinne für die Wertschätzung keine Rolle spielen?

Wertschätzung ist nicht nur Teil der modernen Rhetorik des Verhandlungsmanagements; die Suche nach Wertschätzung begegnet auch in der Ratgeberliteratur, die als psychologische Dauerkommentierung das moderne menschliche Leben begleitet – und die, was durchaus pathologische Züge annehmen kann, es okkupiert und gelegentlich auch an die Stelle dieses Lebens tritt. Das Begriffsfeld ist weit – es reicht von der „Achtung“ über die „Anerkennung“ bis hin zum „Respekt“. Auch wird man auf „Sympathie“, „Empathie“ und „Achtsamkeit“ stoßen, wenn von Wertschätzung die Rede ist. Angesprochen sind damit nicht nur veritable Charakterauszeichnungen, sondern auch Beziehungsqualitäten zwischen Menschen. Jede einzelne ist von großer Bedeutung für das menschliche Leben, sie erscheinen in der modernen Ratgeberliteratur jedoch nur allzu häufig als ein Wellnessangebot für medial gestresste Seelen oder als Sahnehäubchen für ein Leben, das sonst, ohne Wertschätzung, immer noch recht gut „funktioniert“.

Doch Wertschätzung ist zu wichtig, um sie als rhetorischen Höhenausgleich oder als schmückendes Dekor des modernen, digital und kommunikativ überforderten Lebens zu behandeln. Wertschätzung ist weder Last noch Luxus und erst recht nichts Beliebiges, sie qualifiziert vielmehr ein Leben jenseits des Üblichen. Wertschätzung fällt auf, sie lässt innehalten, und sie kann auch irritieren. Wertschätzung verunsichert die Üblichkeiten des Lebens, und sie schätzt ein Leben nicht nach allgemeinen Regeln und äußeren Maßstäben, sondern konkret und aus sich selbst heraus.

 

Bewahrung vor „toten Winkeln“

 

Wir kennen natürlich Regeln der Etikette, Konventionen, Gewohnheiten und Gebräuche, die als sozialer Kitt unterhalb kodifizierter, gesetzlicher Regelungen den gesellschaftlichen Austausch ermöglichen und Verbindlichkeit herstellen (Bermes 2019a). Vielleicht wird man auch darauf hinweisen, dass in und mit dem Einhalten beispielsweise eingespielter Begrüßungsformen Wertschätzung zum Ausdruck komme. Doch gerade hier stellt sich die Frage, ob in solchen Fällen wirklich von Wertschätzung gesprochen werden kann. Denn die Bedeutung etwa von Begrüßungsformen zeigt sich gerade darin, dass sie unabhängig von der Person, der sie entgegengebracht werden, ihre Funktion erfüllen. Darum werden sie geachtet und eingefordert. Doch genau dies scheint bei der Wertschätzung anders zu sein. Jenseits des Üblichen von Regeln geht es in der Wertschätzung um das Gegenüber in einem ganz bestimmten – nicht üblichen – Sinne. Darum ist Wertschätzung auch für Politik und politisches Handeln von Bedeutung. Politisches Handeln richtet sich üblicherweise auf die Bedingungen, unter denen ein gesellschaftliches Leben geführt werden kann.

Politik beschäftigt sich mit Strukturen, die das soziale Leben organisieren. Und ein nicht unwesentlicher Teil politischer Arbeit besteht darin, widerstreitende Interessen auszugleichen. Dabei kann sich die Tendenz verfestigen, dass Strukturen, Organisationen und Gruppenidentitäten den Blick auf die Personen, um die es letztlich geht, verstellen. Wertschätzung bewahrt vor diesem toten Winkel politischen Handelns, sie kann den Blick lenken von den Strukturen, in denen Menschen ihr Leben „haben“, zu einem Leben, das Menschen „führen“, und schenkt dieser Lebensführung eine besondere Beachtung, ohne diese Lebensführung allerdings dirigieren oder manipulieren zu wollen.

 

Der Fuchs und die Trauben

 

Wertschätzung entfaltet sich im Umgang untereinander und wirkt in diesem Umgang. Um zu verstehen, was Wertschätzung im Einzelnen bedeutet, liegt es nahe, dieses Wirkungsfeld in drei Hinsichten zu entfalten: Wertschätzung wirkt erstens korrigierend, insofern sie dem Ressentiment als Werttäuschung auf der einen Seite und der Verachtung als Entwertung auf der anderen Seite entgegenarbeitet. Wertschätzung wirkt zweitens profilierend, indem sie die praktische Vernunft in Form bringt, sodass das Konkrete nicht aus dem Blick gerät. Und drittens wirkt Wertschätzung qualifizierend; sie qualifiziert unser Gegenüber nicht als einen Fall unter Fällen, sondern als konkretes Vorbild und damit in seiner exemplarischen Individualität.

Die Äsop zugeschriebene Fabel Der Fuchs und die Trauben kann die korrigierende Funktion der Wertschätzung illustrieren: Ein Fuchs sieht einen Wein stock und begehrt die süßen Trauben, die prächtig am Weinstock hängen. Seine Versuche, die Trauben zu erreichen, scheitern; er findet keinen Weg und keine Mittel, an sie heranzukommen. Der Fuchs wendet sich von seinem Vor haben ab, er dreht sich um und sagt zu sich selbst: „Die Trauben sind nicht reif, ich will keine sauren Trauben essen.“

In der Fabel wird kein alltägliches Scheitern beschrieben. Dieses kennen Menschen allzu gut; und es gehört zur Grundausstattung menschlichen Daseins, mit dem Scheitern produktiv umzugehen. Der Fuchs geht jedoch nicht produktiv mit der Situation um, er verdreht die Situation und seine Weltwahrnehmung angesichts seines Nichtkönnens. Aus den süßen Trauben werden saure, um das eigene Unvermögen notdürftig zu rechtfertigen.

Beherrscht eine solche Ohnmacht als dauernde Grunderfahrung das menschliche Leben und werden die Welt und die anderen permanent aus der Perspektive einer solchen Ohnmacht erlebt, dann trifft es recht genau das, was man als Ressentiment bezeichnen darf und was Max Scheler in seiner bis heute einschlägigen Arbeit aus dem Jahr 1912 zum Ressentiment im Aufbau der Moralen als „seelische Selbstvergiftung“ beschreibt. Es handelt sich um eine „dauernde psychische Einstellung, die durch systematisch geübte Zurückdrängung von Entladungen gewisser Gemütsbewegungen und Affekte entsteht, welche an sich normal sind und zum Grundbestande der menschlichen Natur gehören, und die gewisse dauernde Einstellungen auf bestimmte Arten von Werttäuschungen und diesen entsprechenden Werturteilen zur Folge hat“ (Scheler 2007, S. 38). Im Ressentiment gewinnt die Werttäuschung als dauernde Einstellung die Oberhand. Und auch in der Gegenwart wird man viele Beispiele – auch im politischen Geschäft – finden, die zeigen, wie aus einer solchen Werttäuschung Kapital geschlagen wird. Die Ohnmacht wird instrumentalisiert und inszeniert, verfestigt und auf Dauer gestellt, die Werttäuschung wird nicht etwa geleugnet, sondern gefeiert und als die einzig wahre Weltsicht propagiert.

Wertschätzung wirkt dem Ressentiment entgegen, denn in ihr behalten die anderen und die Welt ihre Bedeutung. Die wertgeschätzten Trauben bleiben süß, ohne dass sie in Besitz genommen werden. Freilich muss man nicht in Jubel verfallen, wenn die Trauben nicht erreicht werden, aber ebenso wenig muss man die Trauben als sauer erklären, wenn man sie nicht erlangt – und vor Letzterem schützt das Wertschätzen.

 

Etwas „schätzen“, um seinen Wert zu begreifen

 

Wertschätzung kann jedoch nicht nur korrigierend in das Ressentiment als Werttäuschung eingreifen, sie stellt sich auch der Verachtung als einer Form der Entwertung entgegen. Friedrich Nietzsche illustriert vielleicht eine der extremsten Positionen der Verachtung, wenn er folgenden fiktiven Charakter beschreibt: Der verachtende Mensch „ist kälter, härter, unbedenklicher und ohne Furcht vor der ‚Meinung‘; es fehlen ihm die Tugenden, welche mit der ‚Achtung‘ und dem Geachtetwerden zusammenhängen […] er will kein ‚theilnehmendes‘ Herz, sondern Diener, Werkzeuge, er ist, im Verkehre mit Menschen, immer darauf aus, etwas aus ihnen zu machen“ (Nietzsche 1988, S. 452). Die Verachtung dokumentiert sich in einer ungezügelten Instrumentalisierung, in der das Gegenüber nicht einfach das Objekt einer Handlung ist (das ist nichts Ungewöhnliches und kommt häufiger vor), sondern auf seine pure Vorhandenheit als Material reduziert wird. In der Wertschätzung will man aber gerade nicht etwas mit einem Material „machen“, sodass dadurch sein Preis steigt, sondern etwas „schätzen“, um seinen Wert zu begreifen.

Wertschätzung wirkt jedoch nicht nur Tendenzen des Verfehlens entgegen, sie profiliert auch die praktische Rationalität. Sie bringt mit anderen Worten die Perspektive unserer praktischen Weltsicht und den Haushalt unseres Handelns und unserer Begründungen in eine Form. Natürlich liegt es nahe, Wertschätzung auch im Sinne einer sozialen Interaktion als eine bestimmte Form der Anerkennung zu verstehen und sie soziologisch und sozialphilosophisch zu beschreiben, sodass die Bezüge zur jeweiligen Kultur aufgedeckt und damit auch gleichzeitig die Machtverhältnisse, in denen Wertschätzungen verwickelt sind, verstanden werden (Taylor 1993, Honneth 2012). Es handelt sich hier um die nicht einfache und herausfordernde Analyse, wie kollektive Identitäten entstehen und um Anerkennung ringen, welche Pathologien zu einem Scheitern der Anerkennung führen können und unter welchen Bedingungen dieser Prozess gelingen kann.

Wertschätzung als eine Praxis aber, und dies dürfte eine ihrer besonderen Leistungen für das Profil der praktischen Vernunft sein, lässt sich nicht auf diese Perspektive reduzieren – sie klammert eine solche Perspektive nicht aus, sie nimmt sie aber ebenso wenig als letztes Wort. Denn wer des Wertschätzens fähig ist, weiß, dass das Konkretum vor dem Allgemeinen steht. Schätzen wir die Offenheit, mit der jemand einen Gast empfängt, bewundern wir die Gelassenheit, mit der ein anderer den alltäglichen Widrigkeiten begegnet, und honorieren wir die Gewissenhaftigkeit, mit der ein Dritter sei nen Geschäften nachgeht, dann drückt sich darin eine Wertschätzung aus, die sich auf dieses (und kein anderes) Konkrete einlässt und den Wert daraus zu begreifen sucht.

Es handelt sich um eine durch Erfahrung geschärfte Urteilskraft, die im Anschluss an Immanuel Kant (allerdings auch gegen die kantische Konzeption einer Ethik) die praktische Rationalität formt: „Ein Arzt daher, ein Richter, oder ein Staatskundiger, kann viele schöne pathologische, juristische oder politische Regeln im Kopfe haben, in dem Grade, dass er selbst darin gründlicher Lehrer werden kann, und wird dennoch in der Anwendung derselben leicht verstoßen, entweder, weil es ihm an natürlicher Urteilskraft (obgleich nicht am Verstande) mangelt, und er zwar das Allgemeine in abstracto ein sehen, aber ob ein Fall in concreto darunter gehöre, nicht unterscheiden kann, oder auch darum, weil er nicht genug durch Beispiele und wirkliche Geschäfte“ belehrt wurde. Denn dieses ist nach Kant auch der Nutzen von Beispielen: „dass sie die Urteilskraft schärfen“ (Kant 1998, A 134/B173).

 

Individualität und Unverwechselbarkeit

 

Wertschätzung wirkt korrigierend auf Entgleisungen, sie wirkt profilierend mit Blick auf die praktische Rationalität und sie wirkt qualifizierend auf das Gegenüber, das wertgeschätzt wird. Denn dieses Gegenüber wird nicht als ein Fall unter Fällen geschätzt, sondern in seiner konkreten Individualität. Die besonderen Leistungen von Arbeitern können mit Zulagen und zusätzlichem Urlaub honoriert werden, der Erfolg von Mitarbeitern einer Bank kann sich in Boni niederschlagen, auch können die Lehrer einer Grundschule, die bei einem internationalen Leistungstest besonders gut abschneidet, in der Öffentlichkeit positiv herausgestellt werden. Doch sind dies alles Wertschätzungen? Sicherlich handelt es sich um Formen der Anerkennung, vielleicht auch um besondere Würdigungen von Reputation und Ansehen. Doch Wertschätzung in einem strikten Sinne zeichnet sich nicht dadurch aus, dass etwas an einem anderen gemessen und anschließend belohnt wird. Wertschätzung in einem prägnanten Sinne zeichnet sich vielmehr dadurch aus, dass das Gegenüber in seiner Unverwechselbarkeit geschätzt wird. Es besteht ein Unterschied zwischen der Anerkennung der herausragenden Leistungen eines Lehrers in sei ner Klasse und der Wertschätzung, die dem Lehrer als Person von Eltern und Schülern entgegengebracht wird. Die Leistungen des Lehrers lassen sich vermessen, die Wertschätzung kann man nur ermessen.

 

Ausweg aus Sackgassen der Gegenwart

 

Jenseits des Üblichen qualifiziert die Wertschätzung eine konkrete Unverwechselbarkeit ohne Maßstab. In einer Zeit, in der ohne quantifizierende Vermessung kaum etwas als gültig anerkannt wird, provoziert Wertschätzung und fällt aus dem Rahmen – so wie etwa auch folgender Hinweis von Hannah Arendt, der als weiterer Fingerzeig für die politische Funktion von Wertschätzung gelesen werden darf.

Wir haben uns – Arendt vermutet, seit den Zeiten von Karl Marx – daran gewöhnt, zwischen Interessen und Meinungen keinen Unterschied mehr zu machen. Wer eine Meinung äußert, gebe zugleich ein Interesse kund und umgekehrt. Gerade in einer kommunikativ aufgeheizten Zeit wie der unseren werden die Grenzen zwischen „Stimmung“ und „Meinung“ und zwischen „Meinung“ und „Interesse“ schwammig. Die Diskussionen um die Sprach und Debattenkultur belegen dies deutlich und werden zu Recht geführt (Bermes 2019b). Gerade in diesem Rahmen ist Arendts Intervention und Erinnerung von Relevanz: „Interessen sind politisch nur als Gruppeninteressen von Bedeutung und für ihre Bereinigung genügt es, wenn ihr partieller Charakter, Teile eines Ganzen zu sein, gewahrt wird, so dass keines dieser Gruppeninteressen je herrschend werden kann, auch nicht als Interesse der Mehrheit. Meinungen dagegen können sinngemäß niemals die Meinungen von Gruppen, sondern immer nur von Einzelnen sein.“ In diesem Sinne ist für Arendt auch eine sogenannte „öffentliche Meinung in Wahrheit der Tod aller Meinungen und Meinungsbildung“ (Arendt 2019, S. 292, 294).

Dieser Hinweis Arendts scheint aus der Zeit gefallen, da modernes politisches Handeln ohne Demoskopie nicht mehr auszukommen scheint und Interessen mit Meinungen gleichgesetzt werden. Wir haben uns zu sehr an diese Indifferenz gewöhnt, und Arendts Erinnerung provoziert zu Recht.

Interessen kann man respektieren, und sie lassen sich ausgleichen; Meinungen können gewürdigt werden, und sie müssen sich bewähren. Und nichts ist wichtiger, als ressentimentgeladene Stimmungen von Meinungen zu scheiden. Wer zur Wertschätzung fähig ist, wird diese Unterscheidungen treffen können.

Mit der Wertschätzung wird die soziale Ordnung zu einem eigenen, nicht auf Wirtschaft oder Recht reduzierten, politischen Thema. Sie kann damit einen Ausweg markieren aus Sackgassen der Gegenwart. Jenseits von (interessengeleiteter) Identitätspolitik auf der einen Seite und (identitätsmotivierter) Interessenverwaltung auf der anderen Seite wird die Kategorie der Person als regulative Idee politischen Handelns wieder sichtbar.

 

Christian Bermes, geboren 1968 in Trier, Professor für Philosophie und Leiter des Instituts für Philosophie, Universität Koblenz-Landau (Campus Landau).

 

Literatur

Arendt, Hannah: Über die Revolution, 7. Aufl., Piper Verlag, München 2019. Aristoteles: Nikomachische Ethik, 4. Aufl., Felix Meiner Verlag, Hamburg 1985.

Bermes, Christian (2019a): „Verbindlichkeit. Stärken einer schwachen Normativität“, in: Bauks, Michaela / Bermes, Christian / Schimmer, Thomas / Schneider, Jan / Steinicke, Marion (Hrsg.).: Verbindlichkeit. Stärken einer schwachen Normativität, Transcript Verlag, Bielefeld 2019, S. 13–28.

Ders. (2019b): Wandel der Sprach und Debattenkultur. Verbindlichkeit – Artikulation, Meinung, Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung, Berlin 2019.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, Neuauflage, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1988.

Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2012.

Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, nach der ersten und zweiten Originalausgabe hrsg. von Jens Timmermann, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1998.

Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente 1884–1885, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 2. Aufl., Kritische Studienausgabe 11, De Gruyter, Berlin / New York 1988.

Scheler, Max: „Das Ressentiment im Aufbau der Moralen“, in: Maria Scheler (Hrsg.): Vom Umsturz der Werte. Gesammelte Werke, Bd. 3, 6. Aufl., Bouvier Verlag, Bonn 2007, S. 33–147.

Taylor, Charles: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, S. Fischer Verlage, Frankfurt am Main 1993.

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