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Richard Coudenhove-Kalergis Traum von einer demokratischen, Frieden stiftenden Weltmacht (Teil I)

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Die Schlussakte des Wiener Kongresses von 1815 dokumentierte das Scheitern der französisch-napoleonischen Vorherrschaft im kontinentalen Europa und eine neue Kooperation der siegreichen Monarchien. Diese sicherten sich die außenpolitische Zusammenarbeit im Fall von innenpolitischen Aufständen zu. Als sie die bürgerlichen Revolutionen von 1830 und 1848 niedergeschlagen hatten, glaubten die gekrönten Häupter, ihre Machtstellungen gefestigt zu haben. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kehrten sie zu dem vorrevolutionären Verständnis militanter Außenpolitik zurück. Die Kriege nach 1850 resultierten aus der Bildung von Nationalstaaten in Italien und Deutschland, dem Expansionsstreben des eurasischen Russlands, der Gleichgewichtsstrategie Englands und der Hegemonialpolitik der kolonisierenden europäischen Großmächte. Dagegen entwickelten sich Friedensbewegungen, die vor allem vom Bürgertum unterstützt wurden. Zu den Pazifisten gehörten zahlreiche Dichter und Denker, wie man sie damals nannte. Mit ihren Publikationen, Vereinigungen und Kongressen wollten sie etwas gegen die Feindschaften der Nationen und gegen das Wettrüsten der Regierungen unternehmen.

Als führende Figur der europäischen Friedensbewegung ist Victor Hugo zu nennen. Seiner Meinung nach könne man den Kontinent nur befrieden, wenn die Länder Europas sich vereinigten. Dabei wurde er inspiriert durch alte französische Ideen des Herzogs von Sully, vom Abbé de Saint-Pierre, von Jean-Jacques Rousseau und Henri de Saint-Simon. Im Gegensatz zu Napoleon und den Bonapartisten würde nach Hugo nicht der Krieg, sondern die friedliche Kooperation der Nationen das Gemeinschafts-Europa vollbringen. Hugos Ziel waren die Vereinigten Staaten von Europa. Er repräsentierte die europäische Friedensbewegung von den späten 1840erbis in die frühen 1880er-Jahre in seinem Heimatland und im Exil. In dieser Rolle löste ihn Bertha von Suttner in den 1890er-Jahren ab. 1889 war ihr viel gelesener Roman Die Waffen nieder! erschienen, und damit begann ihre repräsentative Arbeit in internationalen pazifistischen Organisationen. Sie starb kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Auch Suttner verband den europäischen Pazifismus mit der Idee der kontinentalen Unifikation.

 

Plädoyer für Versöhnung

 

Der junge Richard Coudenhove-Kalergi (1894–1972) hat von beiden Persönlichkeiten gelernt, zudem von Suttners Mitarbeiter Alfred H. Fried. Während und gleich nach Ende des Ersten Weltkriegs plädierten viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller für eine Versöhnung der verfeindeten europäischen Staaten. Sie erinnerten an die kulturellen Gemeinsamkeiten und diskutierten aus unterschiedlichen Perspektiven mögliche politische Einigungsmodelle sowie die deutschfranzösische Zusammenarbeit. Zu ihnen gehörten Henri Barbusse, Romain Rolland, Jacques Rivière, André Gide, Aline Mayrisch de Saint-Hubert, René Arcos, Georges Duhamel, Félix Bertaux, Heinrich Mann, René Schickele, Annette Kolb, Yvan Goll, Kasimir Edschmid, Willy Haas, Hermann Hesse, Rudolf Borchardt, Hugo von Hofmannsthal, Rudolf Pannwitz, Theodor Lessing und Stefan Zweig.

Viel systematischer als seine Zeitgenossen entwickelte Richard Coudenhove-Kalergi, Sohn eines österreichischen k. und k. Geschäftsträgers in Tokio und seiner japanischen Gattin, unter dem Titel „Paneuropa“ Pläne zur Einigung des Kontinents unter Berücksichtigung der neuen politischen Gegebenheiten. In mancher Hinsicht ist dieser Plan bis heute aktuell.

Es gibt im 20. Jahrhundert keinen in den europäischen Integrationsprozess involvierten Politiker, der nicht aus den Ideen und Vorschlägen Coudenhove-Kalergis gelernt hätte. Er selbst hatte es abgelehnt, Ämter in Regierungen und Parteien auf nationaler oder europäischer Ebene zu übernehmen. Die Rolle, die er von Anfang an wählte, war die des Ideengebers in Sachen Strategie und Taktik der kontinentalen Einigung. Zu Recht wurde er 1950 als Erster mit dem Karlspreis der Stadt Aachen ausgezeichnet, der für außerordentliche Verdienste auf dem Gebiet der Friedenssicherung und der transnationalen Kooperation in Europa vergeben wird. Coudenhove-Kalergi, der 1916 an der Alma Mater Rudolphina Vindobonensis in Wien zum Doktor der Philosophie promoviert wurde und nach dem Untergang der österreichisch-ungarischen Monarchie 1918 zunächst die tschechoslowakische und später die französische Staatsbürgerschaft angenommen hatte, veröffentlichte im Alter von 29 Jahren Mitte November 1922 einen Aufsatz mit dem Titel „Paneuropa“ in der Berliner Vossische Zeitung und der Wiener Neue Freie Presse; die zwei Tageszeitungen wurden vor allem vom liberalen Bürgertum in den beiden Hauptstädten gelesen. Ein halbes Jahr später, im Frühjahr 1923, hatte er den Zeitungsbeitrag erweitert zu einem 170-seitigen Buch mit dem gleichen Titel Pan-Europa.

Eine Richtungsänderung war in der Buchfassung nicht festzustellen, jedoch wurde das Ziel Paneuropa durch die Schilderung eines Stufenplans plausibler gemacht. Jetzt wurde deutlich, dass sich die Föderation evolutionär aus einer Konföderation entwickeln sollte, wobei vier Schritte vorgesehen waren: Als „ersten Schritt“ empfahl der Autor die „Einberufung einer paneuropäischen Konferenz durch eine europäische Regierung“ oder durch mehrere kontinentale Regierungschefs. Die Konferenz müsse Grundfragen einer künftigen Unifikation klären; es gehe dabei um Schiedsgerichte, Garantien, Abrüstung, Minoritäten, Verkehr, Zoll, Währung, Schulden und Kultur.

 

Vom Staatenbund zum „Friedensverband“

 

Der „zweite Schritt“ werde mit dem „Abschluss eines obligatorischen Schieds- und Garantievertrages zwischen allen demokratischen Staaten Kontinentaleuropas“ genommen, denn erst diese Übereinkunft mache aus dem Staatenbund einen „Friedensverband“. Die Betonung der Demokratie für das paneuropäische Projekt war dem Autor wichtig. Er entwickelte bereits in Umrissen eine Totalitarismustheorie, die die diktatorischen Gemeinsamkeiten von „Bolschewismus und Reaktion“ profilierte. Der Bolschewismus wolle „die Sowjetdiktatur“, die Reaktion „die Militärdiktatur“ etablieren. „Die antidemokratischen Parteien der äußersten Linken und Rechten“, hielt Coudenhove-Kalergi fest, „müssen konsequenterweise auch ein antieuropäisches Programm verfolgen. Die Kommunisten wollen den Anschluß an Sowjetrußland – die nationalen Chauvinisten die Hegemonie […] ihrer eigenen Nation.“ Beide seien „entschlossen, Europa in einen neuen Krieg zu stürzen“. Der „dritte Schritt“ in Richtung Paneuropa bedeute „die Bildung einer paneuropäischen Zollunion“, das heißt den „Zusammenschluß Europas zu einem einheitlichen Wirtschaftsraum“. Erst der vierte Schritt stelle mit der „Konstituierung der Vereinigten Staaten von Europa nach dem Muster der Vereinigten Staaten von Amerika“ die „Krönung der paneuropäischen Bestrebungen“ dar. Damit sei die Schaffung des kontinentalen Bundesstaates erreicht. Was die Außenpolitik dieser europäischen Staatenvereinigung betrifft, sah Coudenhove-Kalergi vor, dass Paneuropa den „Weltmächten gegenüber als Einheit auftreten“ werde. Innerhalb der Föderation jedoch habe „jeder Staat ein Maximum an Freiheit“. Misst man die heutige Europäische Union an den vor hundert Jahren aufgestellten Zielvorgaben Coudenhove-Kalergis, so ist die von ihm avisierte Finalität noch längst nicht erreicht. Eine gemeinsame Außenpolitik gibt es heute nur in Ansätzen. Die Europäische Union hat zwar mit ihrer Kommission eine supranationale Instanz, und auch das Parlament trägt bereits supranationale Züge; allerdings verhindert der Europäische Rat, also die Gruppe der nationalen Regierungschefs, bisher den Übergang zu einer föderativen Struktur.

 

Warnung vor neuer Kriegsgefahr

 

Der europäische Bundesstaat solle nicht mit Weltherrschaftsplänen, sondern zur Sicherung des kontinentalen Friedens begründet werden. Coudenhove-Kalergi stellte sich damit gegen die Revanchepläne in Deutschland und Frankreich. Er warnte vor der neuen Kriegsgefahr und konstatierte: „Haß und Mißgunst zwischen“ den Weltkriegsfeinden seien „größer als im Jahre 1913“. Der „geringfügigste Anlaß“ könne genügen, „Europa in einen Trümmerhaufen und ein Massengrab […] zu verwandeln“. „Das Kriegsziel“ der dann einsetzenden Schlachten werde nicht lediglich die „Niederkämpfung der feindlichen Front sein“, sondern die „Ausrottung der feindlichen Nation“. All dem setze die Paneuropa-Bewegung die Forderungen „Schiedsgericht statt Krieg“, „Abrüstung statt Wettrüstung“ und „Kooperation statt Konkurrenz“ entgegen.

Die Einigung Europas solle aber auch wegen der Gefahr, die ihm – aufgrund seiner Schwäche und Uneinigkeit – durch die neuen Weltmächte drohten, angestrebt werden. Diese alten und neuen Weltmächte umschrieb der Autor als „planetare Kraftfelder“ in der Rangfolge: „1. das amerikanische, 2. das britische, 3. das russische, 4. das ostasiatische“ Kraftfeld; ihm schließe sich „das europäische“ – falls seine Einigung denn erfolge – als fünftes an. Nur ein vereintes Europa könne sich gegenüber den neuen Weltmächten behaupten. Coudenhove-Kalergi prophezeite: „Während jeder einzelne europäische Staat auf die Dauer politisch und wirtschaftlich jenen Weltmächten preisgegeben wäre, könnte Pan-Europa durch seinen Zusammenschluß zu einer der stärksten Machtgruppen“ werden, die „jede militärische Invasion und jede wirtschaftliche Konkurrenz erfolgreich abzuwehren“ in der Lage sei.

Die Flügelmächte England und Russland waren in Coudenhove-Kalergis Plan nicht als Mitglieder Paneuropas vorgesehen: Beide Staaten seien Weltmächte in sich, kolonialistische euro-asiatische Staaten, die ein Ungleichgewicht für Paneuropa bedeuten würden. Die besondere Aufmerksamkeit des Autors galt der jungen Sowjetunion. Er war sich darüber im Klaren, dass das „Hauptziel der europäischen Politik“ die „Verhinderung einer russischen Invasion sein“ sollte. Coudenhove-Kalergi war überzeugt: „Wenn die einzige politisch-militärische Chance Rußlands gegen Europa – nämlich dessen Zersplitterung – wegfällt, wird Rußland die Aussichtslosigkeit eines Krieges einsehen und sich zur Abrüstung bereit finden.“

Coudenhove-Kalergi kam auf den Rapallo-Vertrag vom Frühjahr 1922 zu sprechen, das heißt auf die Zusammenarbeit zwischen dem Deutschen Reich und der Russischen Sowjetrepublik. Er machte den französischen Politikern den Vorwurf, sie hätten Deutschland durch ihre intransigente Haltung bei der Konferenz von Genua auf die Seite Russlands getrieben. Der europafreundlich gesinnte Premierminister Aristide Briand, der bald zu einem engagierten Befürworter von Paneuropa werden sollte, war kürzlich abberufen worden. Die Schelte galt dem gerade ernannten nationalistischen Außenminister Raymond Poincaré. Durch die Niederlage der Mittelmächte im Weltkrieg sei – militärisch-strategisch gesprochen – die „europäische Mauer gegen Rußland“ zerbrochen. Falls Rapallo zu einem deutschen Revanchekrieg gegen Frankreich führe, werde das Ergebnis nur der russischen Expansion nutzen. Da ein erneuter Zweifrontenkrieg über Deutschlands Kräfte gehe, werde die Schwäche in Ostdeutschland der Sowjetunion die Chance geben, sich bis „nach Posen und Oberschlesien, bis zum Böhmerwalde und den Alpen aus[zu]dehnen“. Damit wäre „Deutschlands Selbständigkeit dahin und mit ihr die Idee eines freien Europa“.

Festzuhalten ist, dass Coudenhove-Kalergi kein ausgemachter Feind Moskaus war. Wenn nämlich die Staaten Kontinentaleuropas sich zu einem „Defensivbündnis gegen die russische Gefahr“ zusammenschlössen, gebe es keinen Grund, von aktiven Wirtschaftsbeziehungen mit Russland abzusehen. Dann sei es nur „klug“, eine „friedliche Politik gegen Russland zu verfolgen“. Europa wie die Sowjetunion seien auf „Warenaustausch“ angewiesen. „Rußland und Europa“, fuhr Coudenhove-Kalergi fort, „brauchen einander, um sich aneinander wieder aufzurichten“. Für die europäische „Industrie“ sei Russland das „große Absatzgebiet der Zukunft“, und Russland produziere einen „Getreideüberschuß“, den Paneuropa importieren könne. Wichtig war dem Autor auch, dass ein vereintes Europa sich „streng auf den Standpunkt der Nichteinmischung in Rußlands innere Verhältnisse“ stelle. Alles andere stünde im Gegensatz zu einer erfolgversprechenden europäischen Friedenspolitik.

 

Entschiedene Distanz zur Sowjetunion

 

Das unifizierte Europa müsse sich jedoch seine Eigenständigkeit auch gegenüber anderen Weltmächten bewahren. Die auf den USA ruhenden Hoffnungen seien oft ebenso illusorisch wie jene, die man mit der Sowjetunion verbinde. Coudenhove-Kalergi warnte: „Rußland will es erobern – Amerika will es kaufen.“ Die „Nordamerikanische Union“ habe sich „zur führenden Macht der Erde entwickelt“. Den „beispiellosen Aufschwung“ verdanke sie ihrer „Einigkeit“, ihrer überwundenen Spaltung im Bürgerkrieg.

Trotz seiner Abneigung gegenüber ihrer Business-Mentalität sah Coudenhove-Kalergi die USA als Vorbild für Paneuropa an. Das galt besonders für die demokratische Verfassung des Landes. Die Distanz zur Sowjetunion sei entschieden größer, denn der „Bolschewismus“ wende „sich vom christlichen und demokratischen Europa ab und“ versuche, „mit europäischen Theorien und asiatischen Praktiken die Grundlagen zu einer neuen Kulturform zu schaffen“, die nicht mit jener Paneuropas kompatibel sei. Die antidemokratische Sowjetunion könne nicht Mitglied von Paneuropa werden.

 

Auf Aussöhnung mit Frankreich setzen

 

Die Beziehung Paneuropas zu England werde sich anders gestalten. Englands Herrschaft erstrecke sich über alle Kontinente. England erfülle zwar geradezu ideal die Forderung Paneuropas nach einer demokratischen Verfassung, könne allerdings als weltweit engagierte Kolonialmacht nicht dem Paneuropa-Bündnis beitreten. Die künftige Kooperation zwischen der faktischen Weltmacht England und der potenziellen Weltmacht Paneuropa wurde von Coudenhove-Kalergi nicht als Problem erachtet. Beide Mächte hätten das Zeug dazu, „auf lange Sicht unüberwindliche Garanten einer friedlichen Entwicklung der Weltzivilisation“ zu werden. Frankreich sollte – im Gegensatz zu England – prominenter Mitgliedstaat von Pan-Europa werden. Der Vorzug Frankreichs sei seine demokratisch-republikanische Konstitution. Das so schwer zu überwindende Hindernis bestehe in der dauerhaften Gegnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland; es sei durch den Versailler Vertrag noch gewachsen. Allerdings zeigten sich in beiden Ländern in jüngster Zeit Anzeichen einer „Versöhnungspolitik“. Auf solche Aussöhnungstendenzen, die unter anderem von Heinrich Mann – einem Freund des Autors – unterstützt wurden, solle man setzen. Coudenhove-Kalergi schlug drei „großmütige“ und vertrauensbildende Maßnahmen Frankreichs vor: erstens den „freiwilligen Verzicht auf die Rheinbesetzung als Kompensation für einen intereuropäischen Garantievertrag“ mit Deutschland; zweitens Verhandlungen über „angemessene Reparationen“, die er in ihrer jetzigen Höhe als inakzeptabel betrachtete; drittens die Vorbereitung einer „paneuropäischen Montanindustrie“. In ihr sollte eine „Zollunion zur Vereinigung der deutschen Kohle und der französischen Erze“ geschaffen werden.

Erstaunlich, dass Coudenhove-Kalergi bereits drei Jahre vor Émile Mayrischs Internationalem Stahlkartell und sogar ein Vierteljahrhundert vor Jean Monnet die Idee einer Montanunion ins Spiel brachte. Die kriegswichtige und nationalistisch protektionierte Schwerindustrie sollte so zum wirtschaftlichen Friedensprojekt mutieren. Es war eine Auffassung, der sich Konrad Adenauer bereits im gleichen Jahr 1923 näherte.

 

Paul Michael Lützeler, geboren 1943 in Doveren (damals Kreis Erkelenz), deutsch-amerikanischer Germanist und Vergleichender Literaturwissenschaftler, Rosa May Distinguished University Professor emeritus in the Humanities, Gründungsdirektor des Max Kade Center for Contemporary German Literature, Washington University, St. Louis.

 

Der zweite Teil dieses Beitrags ist erschienen in: Die Politische Meinung, Nr. 581, Juli/August 2023, www.kas.de/de/web/die-politische-meinung/artikel/detail/-/content/1923-weg-nach-pan-europa-teil-ii.

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