Das kollektive Selbstverständnis der Bundesrepublik war lange Zeit von der Gewissheit getragen, 1949 die richtigen Lehren aus dem frühen Scheitern der Weimarer Republik gezogen zu haben. Im Gedenkjahr 2019 sind jedoch Selbstzweifel und Verunsicherung zu spüren: Das Parteiensystem wird angesichts kriselnder Volksparteien unübersichtlicher und unberechenbarer, das Vertrauen der Bürger in staatstragende Institutionen, Medien und Verbände schwindet, die andauernde Regierungsbildungs- und Koalitionskrise seit der letzten Bundestagswahl untergräbt den festen Glauben an die Stabilität und Regierbarkeit des Landes.
Zugleich wandelt sich der Blick auf die Weimarer Republik und die verfassungspolitischen Lehren, die das Grundgesetz aus dem Scheitern der ersten deutschen Republik gezogen hat: Ist es wirklich haltbar, dass die Weimarer Republik an zu viel direkter Demokratie zugrunde gegangen ist? Hat ihr das Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten wirklich den Todesstoß versetzt oder wäre sie ohne dieses Instrument nicht über das Jahr 1923 hinausgekommen? Hing das Scheitern überhaupt mit verfassungspolitischen Fehlentscheidungen zusammen oder überschätzt man mit dieser Schlussfolgerung nicht die Prägekraft eines Verfassungstextes auf die politische Kultur eines Landes? Wäre nicht vielleicht sogar das Grundgesetz, wenn es 1919 in Kraft getreten wäre, ebenso grandios an den historischen Umständen gescheitert? (Vgl. Udo Di Fabio: Die Weimarer Verfassung. Aufbruch und Scheitern, München 2018, S. 6 und S. 248).
Lehren aus Weimar? Die Antwort des Grundgesetzes
Solche Fragen treffen das Grundgesetz an einem zentralen Punkt: in seinem Selbstverständnis als „wehrhafte Demokratie“. Dieses normative Selbstverständnis kommt an vielen Stellen des Grundgesetzes als bewusste Antwort auf das Scheitern der Weimarer Republik zum Ausdruck. Die Architektur der Verfassungsordnung beruht auf Artikel 79 Absatz 3, der einen Kern von Normen in den Artikeln 1 und 20 einer Verfassungsänderung entzieht: die Würde des Menschen und die Bindung an die Menschen- und Grundrechte, die Demokratie, das Bundesstaats-, Rechtsstaatsund Sozialstaatsprinzip, die Gewaltenteilung, die Gliederung in Länder sowie deren Mitwirkung an der Gesetzgebung. Hinzu kommen weitere Regelungen, die teils von Beginn an enthalten waren, teils nachträglich eingefügt wurden: die mögliche Verwirkung von Grundrechten (Artikel 18), das Parteiverbot (Artikel 21), der Einsatz bewaffneter Macht der Polizei und der Bundeswehr im Inneren (Artikel 87a und 91), der mögliche Ausschluss vom öffentlichen Dienst (Artikel 33), die intensiv diskutierte und über mehrere Artikel verstreute Notstandsverfassung sowie das im Gegenzug verankerte Widerstandsrecht (Artikel 19).
Die „wehrhafte Demokratie“ steckt in einem Dilemma, das schon früh von dem Verfassungstheoretiker Karl Loewenstein erkannt und sogar für lösbar gehalten wurde (Verfassungslehre, 2. Auflage, Tübingen 1969, S. 348–357): Wer die normative Ordnung vor ihren Feinden schützen will, kann an einen Punkt gelangen, an dem er diesen Feinden ebenjene Rechte, die es zu schützen gilt, vorenthalten muss. Wann ist der Punkt erreicht, an dem man Systemkritik unterbinden oder gegen systemüberwindende Aktivitäten einschreiten muss, ohne die politische Ordnung selbst durch Verleugnung der eigenen Werte zu diskreditieren?
Die institutionellen Arrangements der Verfassung zur „wehrhaften Demokratie“ haben sich im Großen und Ganzen bewährt, aber ebenso wie für die Weimarer Verfassung gilt auch für das Grundgesetz, dass die entsprechenden Vorschriften und Institutionen für sich genommen noch keine hinreichende Bedingung für die Wahrung von Freiheit und Demokratie sind. Die Demokratie beruht ähnlich wie die Marktwirtschaft auf kulturellen und moralischen Voraussetzungen, die sie nicht selbst schaffen kann. Aus der Bilanz von siebzig Jahren ergeben sich dazu einige Schlussfolgerungen.
Es war richtig, dass das Konzept der „wehrhaften Demokratie“ von Beginn an konsequent antitotalitär und antiextremistisch angelegt war. Dies kam schon früh in den beiden Parteiverboten gegen die Sozialistische Reichspartei (SRP) 1952 und die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) 1956 zum Ausdruck. Allerdings ist dieser antitotalitäre und antiextremistische Konsens seither immer wieder durch Bestrebungen herausgefordert worden, einen antifaschistischen Konsens durchzusetzen – und damit auch ein diametral entgegengesetztes Freiheitsund Demokratieverständnis zu etablieren. Die großen Debatten nach „68“ um Radikalenerlass, Terrorismus der Roten Armee Fraktion (RAF) und Friedensbewegung trugen ebenso dazu bei wie die außenpolitischen Kurskorrekturen im Zuge der neuen Ostpolitik. Auch nach der Wiedervereinigung setzte sich dieses ideologische Ringen in den Debatten um die mehrfach umbenannte Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) oder im „Kampf gegen rechts“ fort, der seit den 1990er-Jahren in verschiedenen Variationen ausgerufen wurde.
Notwendige Äquidistanz zu den Extremen
Ein hinkendes, einseitiges Verständnis von „wehrhafter Demokratie“ untergräbt jedoch die Legitimation des Konzepts. Der Kampf gegen Rechtsextreme oder – raffinierter und entlarvender formuliert – gegen „extrem Rechte“ darf nicht als Vehikel dafür dienen, andere Spielarten von Extremismus zu verleugnen oder sie im vermeintlich ehrenvollen Kampf gegen eine böse Sache moralisch zu adeln – und umgekehrt. Nur in Äquidistanz zu allen Varianten des Extremismus kann das Konzept der „wehrhaften Demokratie“ tragfähig sein. Die Instrumente der „wehrhaften Demokratie“ müssen nach jeder Richtung gegen extremistische Gefährdungen besonnen, konsequent und willkürfrei eingesetzt werden.
Es war angesichts der historischen Umstände, unter denen die Bundesrepublik 1949 als fragmentarisches Provisorium entstand, naheliegend, vielleicht auch unvermeidbar, dass ihre Identität zunächst primär negativ definiert war – als doppelte Absage an Nationalsozialismus und Kommunismus. Aber je länger die Bundesrepublik bestand, desto wichtiger wurde, dass sich das Land zu einem positiven Selbstverständnis durchrang. Das Konzept der „wehrhaften Demokratie“ ist in seiner alltäglichen Bewährung darauf angewiesen, dass sich ein solcher politischer Konsens herausbildet und entwickeln kann. Man muss, pointiert formuliert, klären, wofür man steht, um zu wissen, wogegen man aus welchen Gründen sein muss. Nicht zufällig waren es die Parteiverbote gegen SRP und KPD in den 1950er-Jahren, in denen die Umrisse der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zuerst nachgezeichnet wurden: Achtung der im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte, Volkssouveränität, Gewaltenteilung, Verantwortlichkeit der Regierung, Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, Unabhängigkeit der Gerichte, Mehrparteienprinzip und Chancengleichheit für alle Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition (Urteil des Ersten Senats vom 23.10.1952, BVerfGE 2, 1 ff., Entscheidungsformel: vgl. www.servat.unibe.ch/dfr/bv002001.html [letzter Aufruf 15.02.2019]. Die hier angelegte Selbstverständigung über einen positiven Verfassungskern bildet überhaupt erst die Grundlage dafür, extremistische und totalitäre Vorstellungen zu identifizieren und willkürfrei, besonnen und konsequent auf sie zu reagieren.
Wachsender Konformitätsdruck durch Moralismus
Das Konzept der „wehrhaften Demokratie“ darf nicht durch ein moralistisches Politikverständnis instrumentalisiert werden. Erregung und Empörung prägen zunehmend die politischen Diskurse. Es greift ein moralischer Rigorismus um sich, der gegenüber anderen Meinungen Toleranz vermissen lässt. Die Glaubwürdigkeit und Verantwortung der Medien leidet darunter, dass Journalisten den Beifall moralischer Instanzen unter ihresgleichen suchen und darüber den Anspruch aufgeben, schonungslos und unverfälscht auf die Wirklichkeit zu blicken (vgl. Mathias Döpfner: „Viele Journalisten verhalten sich zutiefst unjournalistisch“, Interview, in: Neue Zürcher Zeitung, 12.02.2019, www.nzz.ch/feuilleton/medien/springer-ceo-doepfner-vieleverhalten-sich-unjournalistisch-ld.1457143 [letzter Aufruf 15.02.2019]).
Daraus folgt ein wachsender Konformitätsdruck nach Geboten politischer Korrektheit, der die Meinungsfreiheit bedrängt, indem abweichende, politisch als unkorrekt geltende Meinungen als extremistisch gebrandmarkt werden. Durch eine inflationistische Begriffsverwendung wird allerdings der tatsächliche Extremismus auf sträfliche Weise verharmlost. Wer für die „wehrhafte Demokratie“ eintritt, muss daher auch darauf bestehen, dass der Begriff adäquat verwendet wird und nicht zu einer negativen Beschwörungsformel zur moralischen Überhöhung der eigenen Position verkommt. Die Instrumente der „wehrhaften Demokratie“ müssen strikt auf ihren eigentlichen Kern bezogen bleiben – den Schutz der freiheitlichen, demokratischen Grundordnung vor ernst zu nehmenden Gefahren.
Der Pluralismus von Meinungen, die sich wechselseitig mit Respekt begegnen, ist essenziell für die Demokratie. Demokratie muss streitbar sein in dem Sinne, dass sie Raum für politische Kontroversen bietet und unterschiedliche Problemwahrnehmungen, Ansichten und Interessen in den kollektiven Entscheidungsprozess einbindet. Wo sie diesen Raum einschränkt, entstehen Repräsentationslücken. Wer aber den Eindruck bekommen muss, dass seine Sicht der Dinge von Medien und politischen Institutionen ignoriert wird, der wird empfänglich für extremistische Botschaften, die eine grundlegende Systemkritik betreiben. Radikale oder extremistische Kräfte haben dann leichtes Spiel, brachliegende Positionen der politischen Mitte zu besetzen oder sich als Märtyrer eines repressiven Systems und einer mit diesem paktierenden „Lügenpresse“ zu inszenieren.
Die Demokratie muss nicht nur ein Ort des legitimen Streits um politische Alternativen sein, sie muss auch Raum bieten für Systemkritik, die institutionelle Fehlentwicklungen in den Blick nimmt und Reformbemühungen anmahnt. Bei allem berechtigten Respekt vor der Erfolgsgeschichte des Grundgesetzes darf man nicht darüber hinwegsehen, dass es im Laufe von sieben Jahrzehnten auch zu einigen verfassungspolitischen Fehlentwicklungen gekommen ist. Das gilt insbesondere für den Wirkungszusammenhang von Finanzverfassung, Föderalismus und europäischer Integration. Zentralisierung und Verflechtung schränken nicht nur den politischen Wettbewerb und damit die Reformfähigkeit des Landes ein, sondern sorgen auch für eine Intransparenz der Macht und hindern die Bürger daran, politische Verantwortung zuzuweisen und durch Wahlverhalten politische Entscheidungen wirksam zu beeinflussen. Es täte der Bundesrepublik – und auch der Europäischen Union – gut, wenn sie die Kraft zu Reformen fände, die politische Verantwortung klarer und dezentraler zuordnen würden.
Fehlentwicklungen prägen auch die wirtschafts- und sozialpolitische Entwicklung der Bundesrepublik. Weil das ökonomische Versprechen von Wohlstand und Sicherheit durch das vor- und außerkonstitutionell durchgesetzte Konzept der Sozialen Marktwirtschaft erfüllt wurde, wuchs auch rasch das Vertrauen in die politische Ordnung. Dieses Vertrauen kann freilich erodieren, wenn es zu Wohlstandsverlusten kommt oder die Tragfähigkeit der sozialen Sicherheitsversprechen nicht mehr gewährleistet werden kann. Und für eine freiheitliche Ordnung hängt viel davon ab, dass politische und wirtschaftliche Freiheit ineinandergreifen. Wer Freiheit und Verantwortung in eigenen Angelegenheiten erfährt und wertschätzt, von dem ist auch am ehesten eine Bejahung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu erwarten. Eine solche Bürgerkultur ist die beste Vorsorge gegen extremistische Versuchungen. Die „wehrhafte Demokratie“ wäre wehrlos ohne das Grundvertrauen in eine freiheitliche und demokratische Ordnung.
Hans Jörg Hennecke, geboren 1971 in Zülpich, außerplanmäßiger Professor für Politikwissenschaft an der Universität Rostock