Jonas Hagedorn: Oswald von Nell-Breuning SJ. Aufbrüche der katholischen Soziallehre in der Weimarer Republik, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2018, 532 Seiten, 69,00 Euro.
Wenn wir im Jahr 2019 an die Gründung der Weimarer Republik und die Verkündung der Weimarer Reichsverfassung vor 100 Jahren erinnern, ist dies ein willkommener Anlass, die historische Bedeutung der ersten Demokratie in Deutschland im öffentlichen Bewusstsein zu stärken. Während aus der Erfahrung des Scheiterns der Weimarer Demokratie in der „alten Bundesrepublik“ der antitotalitäre Grundkonsens der Gründergeneration für Eliten wie Wählerschaft verbindlich schien, werden heute populistische, extremistische und auch rassistische Vorstellungen an den politischen Rändern wieder artikuliert und von Teilen der Wählerschaft als Alternative zur etablierten Politik goutiert.
Es gibt viele gute Gründe, die Leistungen der ersten deutschen Demokratie und ihr heute vergessenes Erbe zu würdigen, die die Strukturen der Bundesrepublik viel stärker geprägt haben, als uns meistens bewusst ist. Eine dieser Traditionslinien ist die katholische Soziallehre. Sie ist als tragendes Element der „Sozialen Marktwirtschaft“ Teil der unter den demokratischen Parteien heute unumstrittenen Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik. Formuliert wurden wesentliche Bestandteile der katholischen Soziallehre in der Zeit der Weimarer Republik; der Diskurs um ihre Ausgestaltung und der Einfluss eines ihrer bedeutendsten Vordenker, des Jesuiten Oswald von Nell-Breuning, werden in einer bemerkenswerten Dissertation untersucht.
Der Titel, der eine Biographie vermuten lässt, ist etwas irreführend – aber in Zeiten, in denen die Rezeption einer wissenschaftlichen Arbeit auch von ihrem Ranking bei Google abhängig ist, verzeihlich. Es geht nicht um Nell-Breunings Lebenslauf und auch nicht um die Schilderung einer außergewöhnlichen Persönlichkeit, die mir – wie allen, die ihm noch persönlich begegnet sind – mit Hochachtung in Erinnerung bleibt, sondern um seine Rolle im Diskurs über das Korporatismuskonzept des christlichen Solidarismus in der Weimarer Republik. Nachge zeichnet wird dabei die Entstehung von Nell-Breunings Gedankengebäude, einem „freiheitlichen Korporatismus“. Die Arbeit ergänzt sich thematisch mit der exzellenten, 1992 erschienenen Untersuchung von Wolfgang Schroeder über Katholizismus und Einheitsgewerkschaft, die unter anderem Nell-Breunings Rolle in der Gewerkschaftsfrage beleuchtet hat.
Der Verfasser gliedert den Diskurs innerhalb der katholischen Soziallehre in klar nachvollziehbare Diskussionsschritte, wodurch die thematisch und inhaltlich komplexe Meinungsbildung in den Jahren der Weimarer Republik anschaulich und nachvollziehbar wird. Deutlich wird, wie sich das freiheitliche Korporatismuskonzept von Nell-Breunings Solidarismus herausgebildet hat und wie es sich von anderen Ansätzen, etwa von Fritz Naphtali oder Othmar Spann, unterscheidet. Immer im Blick bleiben dabei nicht nur die Mitdenker auf katholischer Seite, sondern auch sozialdemokratische Theoretiker. Inhaltlich ist dies durchaus angemessen, da sich Nell-Breuning später in der Bundesrepublik mit manchen Anliegen näher bei der SPD als bei der Union wiederfand. Erkennbar wird, auf wie vielen Feldern die gedankliche Leistung Nell-Breunings die Fundamente für das Wirtschafts- und Sozialmodell der Bundesrepublik gelegt hat. Sowohl die solidarische Sozialversicherung als auch das konsensorientierte bundesdeutsche Modell der Arbeitsbeziehungen sind kaum denkbar ohne die gedankliche Vorarbeit des christlichen Solidarismus. Gleiches gilt auch für den fein austarierten Eigentumsbegriff des Grundgesetzes mit seiner Sozialbindung. Wirkmächtigkeit entfalteten Nell-Breunings Gedanken insbesondere über seinen Einfluss auf die Formulierung der päpstlichen Enzyklika Quadragesimo anno Anfang der 1930er-Jahre. Zwar entsprechen einzelne Gedanken wie die Ablehnung aller Formen des Sozialismus nicht seinen Grundpositionen, doch das theoretische Konstrukt mit den Grundprinzipien der Solidarität und der Subsidiarität, die dem Einzelnen Freiräume sichern soll, der schon erwähnten Bindung des Eigentums sowie das Zusammenwirken von Arbeit und Kapital als Gegenmodell zum Marxismus tragen unverkennbar seine Handschrift.
In der Gesamtwürdigung von Nell-Breunings Position wird seiner Haltung zum Nationalsozialismus große Bedeutung beigemessen. Während ihm selbst keinerlei Nähe zum NS-System unterstellt werden kann – er wurde sogar in einem politisch motivierten Prozess wegen Devisenvergehen zu einer Zuchthausstrafe verurteilt, die er allerdings nicht mehr antreten musste –, geht es vor allem um seine Stellungnahme zum 1933 abgeschlossenen Reichskonkordat. NellBreuning begrüßte das Konkordat grundsätzlich, koppelte diese positive Wertung jedoch an versteckte Vorbehalte.
Die Passagen in der vorliegenden Arbeit, die allzu unkritisch den umstrittenen Artikel Ernst-Wolfgang Böckenfördes „Der deutsche Katholizismus im Jahr 1933. Eine kritische Betrachtung“ aus dem Jahr 1961 referieren, können nicht über zeugen: Die Frage der Entstehungsbedingungen des Reichskonkordates gehört mittlerweile zu den besterforschten Ab schnitten der kirchlichen Zeitgeschichte; die Kontroverse darüber zwischen dem evangelischen Kirchenhistoriker Klaus Scholder und dem kürzlich verstorbenen Bonner Doyen der katholischen kirchlichen Zeitgeschichte, Konrad Repgen, waren eine Sternstunde des bundesdeutschen Wissenschaftsdiskurses. In der Dissertation findet man sie weder im Haupttext noch im Literaturverzeichnis. Wertungen wie die, dass die katholische Kirche 1933 eine „devote Position“ (S. 432) gegenüber dem NS-Regime eingenommen habe, werden seit Jahrzehnten von der Forschung infrage gestellt. Es gab klare Fehleinschätzungen seitens der katholischen Bischöfe und auch des Kardinalstaatssekretärs Eugenio Pacelli, des späteren Papstes Pius XII., in Bezug auf den grundsätzlichen Charakter des NS-Regimes, aber ein Einknicken gegenüber dem Nationalsozialismus lässt sich nicht ernsthaft feststellen.
Generell ist festzuhalten, dass der Arbeit eine kritische historische Durchsicht gutgetan hätte. Nicht nur bei der Behandlung des Reichskonkordates wird die um fangreiche Forschungsdiskussion ignoriert; Gleiches gilt etwa für den Begriff des „katholischen Milieus“. Seit M. Rainer Lepsius’ begriffsprägendem Aufsatz über „Parteiensystem und Sozialstruktur“ im Jahr 1966 hat es dazu einen umfangreichen Diskurs in der Katholizismusforschung gegeben. Der Milieubegriff, seine Ausdeutung und Operationalisierung waren der vielleicht fruchtbarste Ansatz der kirchlichen Zeitgeschichte in den letzten Jahrzehnten. Die Rezeption dieser Forschungsergebnisse über den ursprünglichen Begriff hinaus hätte die vorliegende Arbeit an etlichen Punkten bereichert.
Insgesamt jedoch handelt es sich um eine beachtliche Analyse, deren Lektüre zwar Konzentration und Mitdenken verlangt, aber auch lohnt. Sie ist eine Auseinandersetzung, die sich der Entstehung der geistigen Ordnungselemente unseres Staates widmet. Sie verdeutlicht, in welchem Ausmaß wesentliche handlungsleitende Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft im Diskurs der katholischen Soziallehre in der Zeit der Weimarer Republik entstanden und welchen Anteil Nell-Breuning persönlich daran hatte.
Norbert Lammert, geboren 1948 in Bochum, Sozialwissenschaftler, 1998 bis 2002 kultur- und medienpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, 2005 bis 2017 Präsident des Deutschen Bundestages, seit 2018 Vorsitzender der Konrad-Adenauer Stiftung.