Großbritanniens Premierministerin Theresa May befand sich auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Ihre Conservative Party erreichte im Frühjahr 2017 in Umfragen zwanzig Prozentpunkte mehr als die Labourpartei, die größte Oppositionspartei des Landes. May selbst war bei den Briten beliebt. Ihre Zustimmungswerte lagen weit über denen von Labour-Chef Jeremy Corbyn, ihres direkten Widersachers.
May erschien derart unangreifbar, dass einige Kritiker von einem „Staatsstreich“ sprachen, als die Premierministerin im April 2017 überraschend vorgezogene Neuwahlen ausrief. Dabei hatte sie diese zuvor mehrfach kategorisch ausgeschlossen. Das Kalkül war nicht zu übersehen: Die Tories würden einen Erdrutschsieg einfahren und May eine gewaltige Mehrheit im Unterhaus erhalten. Labour würde an den Rand der Bedeutungslosigkeit gedrängt werden. Eine effektive Opposition, die May bei ihren Plänen für den Brexit im Weg stehen könnte, würde es nicht mehr geben. Nicht wenige Beobachter warfen May Autoritarismus vor.
Der Wahltag kam – und mit ihm ein politisches Erdbeben: Innerhalb von nur sechs Wochen war es Labour gelungen, die Lücke zu den Tories zu schließen. Jeremy Corbyns Partei gewann dreißig Sitze hinzu. May verlor ihre absolute Mehrheit im Unterhaus. Ihre Autorität als Partei- und Regierungschefin ist seitdem dahin, ihre angeschlagene Regierung hangelt sich von einer Krise zur nächsten. In Umfragen liegt Labour derzeit acht Prozentpunkte vor den Tories. Ein Regierungswechsel erscheint perspektivisch immer wahrscheinlicher.
„Oh, Jeremy…“
Zwar hat Labour von den zahllosen Patzern profitiert, die sich May in den Wochen vor der Wahl geleistet hat. Doch Jeremy Corbyn ist auch ein beinahe perfekter Wahlkampf gelungen. Labours traditionell sozialdemokratisches Wahlprogramm, das zahlreiche Eingaben aus der Parteibasis beinhaltete, kam bei den Wählern gut an. Corbyn verstand es, bei seinen Wahlkampfauftritten Menschenmassen für sich zu begeistern. Immer wieder musste er seine Reden unterbrechen, weil die Menge in „Oh, Jeremy Corbyn“-Sprechchöre ausbrach – ein Trend, der sich während des gesamten Sommers unter jungen Briten fortsetzte. May wirkte dagegen reserviert und kühl. Sie schien den Kontakt zu den Wählern zu meiden.
Ein Schlüssel zu dem überraschenden Wahlerfolg waren auch die unbezahlten Wahlhelfer, die zu Hunderttausenden im gesamten Land von Tür zu Tür gegangen waren, um für Labour zu werben. Viele von ihnen stammten aus der linken Basisorganisation Momentum.
Die Bewegung war 2015 aus der Kampagne hervorgegangen, die den Parteilinken Corbyn bei seiner erfolgreichen Kandidatur für den Labour-Parteivorsitz unterstützt hatte. Heute gibt es 170 lokale Momentum-Gruppen in ganz Großbritannien. Die Voraussetzung für eine Mitgliedschaft ist der Besitz eines Labour-Parteibuchs, die Bewegung ist jedoch nicht Teil der Parteistruktur.
Kritiker warfen der Bewegung schon früh vor, sie sei ein Sammelbecken für Linksextreme, die versuchten, Labour nach links zu drängen. Momentum unterstütze „Entrismus“, also den Versuch von Mitgliedern linksextremer Gruppen, Labour ideologisch zu unterwandern. Rachel Godfrey Wood, die Kampagnenchefin von Momentum, weist diesen Vorwurf zurück. „Man muss sich nur einmal die Zahlen innerhalb dieser Organisationen anschauen: Die haben verschwindend wenige Mitglieder. Wir haben 31.000 Mitglieder und 200.000 Unterstützer“, sagt Wood. Momentum-Aktivisten unterschieden sich von gewöhnlichen Labour-Unterstützern dadurch, dass sie stärker hinter den Ideen von Jeremy Corbyn stünden, glaubt Wood. „Sie unterstützten seine Vision, mit der er die Wahl zum Labour-Parteichef gewonnen hat.“
Vom Linksruck angezogen
Die Wahl des heute 68-Jährigen zum Labour-Vorsitzenden vor zwei Jahren erlebten viele Mitglieder des damaligen Labour-Establishments als Schock. Die Partei hatte unter Tony Blairs New Labour-Projekt Mitte der 1990er-Jahre viele ihrer sozialdemokratischen Positionen zugunsten einer marktfreundlicheren Ausrichtung aufgegeben und war in die politische Mitte gerückt. Die Wahlschlappe Gordon Browns bei den Wahlen 2010 beendete zwar das New Labour-Experiment. Als Corbyn im September 2015 die Führung der Partei übernahm, hatten jedoch noch immer zahlreiche Funktionäre aus der New Labour-Zeit Schlüsselpositionen inne, die befürchteten, dass Corbyn – der während seiner gesamten politischen Laufbahn weit links innerhalb der Partei gestanden hatte – Labour „unwählbar“ machen würde. Sie setzten eine Reihe von Initiativen in Gang, mit denen sie versuchten, Corbyn zu stürzen – ohne Erfolg.
Viele dieser „Blairites“ blickten mit wachsender Sorge auf die große Zahl von Corbyn-Sympathisanten, die nach dessen Wahl zum Parteichef begannen, Labour beizutreten. Die Zahl der Mitglieder hat sich seitdem verdreifacht: Hatte Labour 2015 noch 200.000 Mitglieder, geht deren Zahl heute auf die 600.000 zu. Offenbar fühlen sich vor allem viele junge Briten von dem Linksruck angezogen, den die Partei in den vergangenen zwei Jahren vollzogen hat.
So auch Nabila Ahmed aus Watford nordwestlich von London. Sie sei vor rund einem Jahr Labour-Mitglied geworden, „um Jeremy Corbyn zu unterstützen“, räumt die 25-Jährige, die einen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften hat, unumwunden ein. Ein halbes Jahr später schloss sie sich auch Momentum an. Labour habe sich in den 1990er-Jahren „von seinen sozialdemokratischen Werten wegbewegt“, glaubt Ahmed, und kehre unter Corbyn wieder zu diesen zurück.
Die jungen Menschen in Großbritannien seien „reingelegt“ worden, sagt sie. „Wir sind die erste Generation, der es schlechter gehen wird als den Eltern. Alle unsere Hoffnungen sind zerstört worden. Alles, was uns erzählt wurde, als wir jung waren, tritt nicht ein: dass uns ein guter Universitätsabschluss einen guten Job sichern werde und wir ein glückliches, gesichertes Leben im eigenen Haus führen würden.“ Im Neoliberalismus wandere immer mehr Geld nach oben, während die Möglichkeiten für einfache Menschen zurückgingen, kritisiert die junge Aktivistin.
Mit ihrer New Labour-Politik habe sich die Partei ein Stück weit obsolet gemacht, meint Nabila Ahmed. Das Erstarken rechtsextremer Parteien und der Brexit seien direkte Folgen dieser Entwicklungen. Jeremy Corbyn werde versuchen, das umzukehren, falls er Premierminister werden sollte, glaubt Ahmed. „Das hat mich zu Labour gezogen.“ Momentum sei „zu hundert Prozent“ eine Basis-Bewegung, die von den Mitgliedern getragen werde, erklärt Ahmed. Ihre Gruppe in Watford etwa treffe sich einmal im Monat; alle Entscheidungen würden gemeinsam getroffen. Die Momentum-Zentrale in London unterstütze die lokalen Gruppen.
Unterstützung durch Sanders-Leute
„Momentum funktioniert ganz gut als Eingangstor zur Labourpartei für junge Leute“, sagt Joe Todd, zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit der Organisation. „Wir sind, denke ich, offener, interessanter und mehr auf die Jugend ausgerichtet, als Labour es allein ist.“ Jeremy Corbyn habe es zudem geschafft, viele junge Briten zu mobilisieren, und sie dazu gebracht, sich politisch zu engagieren, fügt er hinzu. Dabei betont Todd, dass Momentum von seinen Mitgliedern finanziell getragen werde: „Wir finanzieren uns beinahe ausschließlich aus kleinen Spenden und Mitgliedsbeiträgen. Unsere Mitglieder zahlen im Schnitt siebzehn Pfund im Jahr. Wir haben keine großen Spender.“ Die Gewerkschaften, die sich Momentum angeschlossen hätten, kämen nur für einen geringen Teil der Kosten auf. „Wir haben wenige Mitarbeiter“, erklärt Joe Todd weiter. „Das, was wir machen, geht nur, weil die Mitglieder viel übernehmen.“
So seien einige der technischen Hilfsmittel, die Momentum während des Wahlkampfs im Sommer erfolgreich eingesetzt habe, von Mitgliedern entwickelt worden. „Etwa unsere Telefon-App: Die hat die Gruppe in Bristol entwickelt. Die kam gar nicht aus der Zentrale.“ Diese App habe es Labour-Aktivisten ermöglicht, sich während des Wahlkampfs zu koordinieren, erklärt Todd. Zehntausende Labour-Aktivisten haben laut Momentum während des Wahlkampfs auch auf die Momentum-Website mynearestmarginal.com zugegriffen. Über diese hätten Wahlhelfer schnell sehen können, wo sich in ihrer Nähe Wahlkreise befinden, in denen es zu einem besonders knappen Rennen kommen würde.
Dabei habe Momentum viel von der Kampagne von Bernie Sanders in den USA übernommen, erzählen Mitarbeiter der Organisation. Auch dort hätten Aktivisten technische Neuerungen genutzt, um effektiver politisch arbeiten zu können. Und tatsächlich hat es zwischen beiden Wahlkämpfen Berührungspunkte gegeben: Einige Mitarbeiter der Bernie Sanders-Kampagne haben im Vorfeld der Parlamentswahlen im Juni 2017 Momentum-Aktivisten in Wahlkampfstrategien geschult. In der Momentum-Zentrale in London gehen die Überlegungen unterdessen einige Schritte weiter. „Im Moment fühlt es sich ja danach an, dass gar nicht mehr die Frage besteht, ob Labour an die Regierung kommen wird, sondern wann“, sagt Joe Todd. Dabei wäre es „beispiellos in einem großen westeuropäischen Land“, dass eine sozialdemokratische Partei mit einem so weit links ausgerichteten Programm die Regierung übernähme, fügt er hinzu. „Das wird definitiv schwierig werden“, sagt Todd über den Widerstand, der einer Corbyn-Regierung aus vielen Richtungen entgegenschlagen dürfte. „Über solche Sachen denken wir gerade nach.“
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Sascha Zastiral, geboren 1977 in der Schillerstadt Marbach am Neckar, Journalist und Autor. Von 2010 bis Anfang 2016 war er für die Weltreporter in Bangkok. Seit Februar 2016 schreibt er aus London.