Mit der drastischen Verkleinerung der Bundeswehr nach dem Ende des Kalten Krieges 1991 wurde auch das Potenzial der deutschen Verteidigungsindustrie reduziert. Exporte von deutschen Rüstungsgütern konnten keinen Ausgleich schaffen, da die europäischen Partnerländer ihre Streitkräfte ebenfalls erheblich verkleinerten. Eine restriktive Handhabung von Exporten in andere Regionen engte die Möglichkeiten zusätzlich ein.
Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wurden globale Einsätze kleiner Einheiten priorisiert, während die Landesverteidigung kein Primärziel mehr war (Bitter 2007). Der Wegfall der Fähigkeit zur Landesverteidigung blieb nicht ohne Auswirkung auf die weiteren Beschaffungen für die Bundeswehr; Panzer und Artillerie wurden zugunsten minenresistenter Fahrzeuge für mobile Einheiten depriorisiert. Die drastische Verringerung des Verteidigungsetats spiegelte die „Schmelze“ des industriellen Potenzials wider: Während 1990 noch 2,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung aufgewendet wurden, waren es 2013 bis 2016 lediglich 1,2 Prozent (Röhl et al. 2022). Mit der Annexion der Krim 2014 und dem von Russland angeheizten Donbas-Krieg schien in Deutschland die Erkenntnis zu reifen, dass die Verteidigungsfähigkeit wieder gestärkt werden müsse. Auf dem NATO-Gipfel 2016 wurde das Zwei-Prozent-Ziel bekräftigt, jedoch fiel die tatsächliche Steigerung des Wehretats in Deutschland verhalten aus. 2021 wurden 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreicht (Röhl et al. 2022). Mit Blick auf die Bestellungen von Rüstungsgütern konnte nicht von einer Kehrtwende gesprochen werden, da auch die Personalausgaben der seit 2011 in eine Freiwilligenarmee umgewandelten Bundeswehr anstiegen.
Der russische Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 war ein Fanal, die verteidigungspolitische Trägheit abzuschütteln. Mit Ausrufung der Zeitenwende durch Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 entstand der Eindruck, dass die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr, die nach Aussage des damaligen Heeresinspekteurs Alfons Mais „blank dastand“ (Der Spiegel 2022), nun zügig erhöht werden solle. Mit einem Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro und Verteidigungsausgaben von „mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts“ sollten die industriellen Voraussetzungen dafür geschaffen werden, das Rüstungspotenzial nachhaltig zu stärken. Doch schon bald setzte Ernüchterung ein. Aufträge zur Stärkung der Bundeswehr und der Industrie waren knapp ein Jahr nach Kriegsbeginn noch nicht in größerem Umfang erteilt; zudem ließ die hohe Inflation den regulären Verteidigungsetat real schrumpfen.
Weiterhin im Friedensmodus
Mit dem Amtsantritt von Boris Pistorius als Verteidigungsminister Ende Januar 2023 stieg die Hoffnung, dass eine grundlegende Neuorientierung mit einer Steigerung der Wehrausgaben, langfristigen Verträgen mit der Industrie über die Produktion neuer Waffensysteme und einen Kapazitätsausbau sowie Maßnahmen zur Sicherung des Zwei-Prozent-Ziels in der Finanzplanung des Bundes nach Auslaufen des Sondervermögens erfolgen würde. Doch ein Jahr nach Amtsantritt des neuen Verteidigungsministers hat sich die Situation kaum verändert: Das Zwei-Prozent-Ziel wird selbst mit den Mitteln des Sondervermögens verfehlt, die Finanzplanung deckelt den Verteidigungsetat trotz hoher Inflation nominal bei 51 Milliarden Euro, und die Industrie wartet auf Verträge, um ihre Kapazitäten ausbauen zu können. Nicht einmal die von der Europäischen Union beschlossene Beschaffung von einer Million Artilleriegranaten für die Ukraine kommt wie geplant voran (Krohn 2023), sodass auch den Munitionsfabriken in Deutschland und Europa keine Anreize zur Kapazitätsausweitung geboten werden. Im Rahmen der bestehenden Kapazitäten haben die begonnenen Beschaffungen, auch für die Ukraine, 2023 immerhin zu einer größeren Auslastung geführt.
Die Stärke der deutschen Verteidigungsindustrie zeigt sich in einem Produktspektrum, das von Flugzeugen über Panzer bis hin zu Kriegsschiffen, Waffen und Munition reicht. In den letzten dreißig Jahren sind die Auslieferungen und damit einhergehend die Produktionskapazitäten allerdings drastisch zurückgefahren worden. Der Großteil des Verteidigungssektors entfällt wertmäßig auf den Bereich der Luftfahrzeuge, während Marineschiffe und Landfahrzeuge weniger Umsatz generieren. Waffen und Munition machen den kleinsten Anteil aus. Der Krieg in der Ukraine zeigt, dass Munition und die Fähigkeit zu ihrer Massenproduktion von erheblicher militärischer Bedeutung sind. Trotz Einlagerung großer Munitionsmengen aus Sowjetzeiten war die Ukraine schnell auf westliche Lieferungen angewiesen. Der Nachschub aus Europa und den USA läuft aber nach wie vor schleppend, da Deutschland und die anderen NATO-Länder selbst über nur unzureichende Munitionsbestände verfügen.
Vorsichtige Trendwende
Beschäftigtenzahlen und Umsätze in den Sparten der Rüstungsindustrie lassen sich oft nur auf Basis von Unternehmensangaben schätzen, da sie vom Statistischen Bundesamt aus Datenschutzgründen nicht ausgewiesen werden (Röhl et al. 2022). Der Umsatz in den Bereichen militärische Luft- und Raumfahrt, Marineschiffbau, Waffen und Munition sowie Kampffahrzeuge lag 2022 ohne Zulieferer bei etwa 10,8 Milliarden Euro. Er fiel damit trotz Zeitenwende etwas geringer als 2020 aus. Gegenüber 2015 – direkt nach der Krim-Invasion – sank er sogar um circa acht Prozent. Auch die Beschäftigung in den Zweigen der Rüstungsindustrie war bis 2022 Schätzungen zufolge leicht rückläufig.
Erst seit dem zweiten Halbjahr 2023 suchen Firmen wie Rheinmetall und das Rüstungsunternehmen Krauss-Maffei Wegmann (KMW) neue Mitarbeiter, und es scheint sich eine Trendwende anzubahnen. Dies betrifft bislang jedoch nur Fahrzeug- und Munitionshersteller, die auch von Aufträgen für die Ukraine profitieren, während im Luftfahrzeug- und Marineschiffbau größere Bestellungen ausstehen. Eine Ausnahme bildet der Einstieg von Rheinmetall in den Luftfahrtbereich mit der Beteiligung am F-35-Programm, für das Rumpfmittelteile in einer neuen Fabrik in Weeze gebaut werden sollen (Der Spiegel 2023). Deutschland hat im vergangenen Jahr 35 dieser Maschinen geordert, um einen Teil der veralteten Tornado-Flotte zu ersetzen. Die übrigen Tornados sollen durch Eurofighter ersetzt werden; ohne zusätzliche Exporte ist dennoch nicht absehbar, wie das Potenzial der Luftfahrtindustrie bis zum Fertigungsbeginn des deutsch-französischen Systems Future Combat Air System (FCAS) – circa 2040 – gesichert werden kann. Die deutschen Exportrestriktionen wirken sich für die militärische Luftfahrtindustrie besonders negativ aus, denn die Partner des Eurofighter-Typhoon-Programms drängen auf eine Lieferung an Saudi-Arabien, um Industriefähigkeiten in diesem Bereich zu erhalten (Hein/Záboji 2023).
Verteidigungskooperation stärkt europäisches Rüstungspotenzial
Kooperationen können ein Mittel sein, die Verteidigungsfähigkeit Europas durch gemeinsame Beschaffung zu stärken und die Potenziale der europäischen Industrie besser auszunutzen, indem die Vielfalt der Modelle reduziert wird und die jeweiligen Kompetenzen gestärkt werden (Röhl 2022). Angesichts der kleinteiligen Struktur der europäischen und speziell der deutschen Rüstungsindustrie wächst durch Kooperationen die Chance, mit den größeren US-Konzernen konkurrieren zu können. Neben wirtschaftlichen Vorteilen spielt mit Blick auf die Einigung Europas die politische Dimension eine Rolle. Der Teufel steckt allerdings im Detail. Die angestrebten Kooperationsvorteile werden nur selten erreicht. Selbst erfolgreiche Projekte wie die Produktion der Kampfflugzeuge Tornado und Eurofighter waren durch erhebliche Budget- und Zeitüberschreitungen gekennzeichnet. Zudem hat sich Frankreich seit dem deutsch-französischen Alpha Jet, einem Projekt aus dem Jahr 1970, nicht an europäischen Kampfflugzeugkooperationen beteiligt, sondern eigenständige Projekte verfolgt.
Derzeit planen Deutschland, Frankreich und Spanien das gemeinsame Future Combat Air System (FCAS), ein Luftkampfsystem der sechsten Generation, bestehend aus einem radarunsichtbaren Flugzeug und Drohnen, das im Zentrum der europäischen Verteidigungskooperation stehen soll. Die Abstimmung der Konzerne Dassault und Airbus gestaltet sich bereits in der Frühphase schwierig. Zudem ist ein einsatzfähiges Produkt erst nach 2040 zu erwarten, was den Vorsprung der US-Industrie verfestigt: Der Bomber B21, der auch unbemannt einsetzbar ist, hat als erstes Kampfflugzeug der sechsten Generation kürzlich seinen Erstflug absolviert. Die Entwicklung eines neuen Kampfpanzers (Main Ground Combat System, MGCS), des Gegenstücks für die Landstreitkräfte, leidet ebenfalls unter Differenzen zwischen der deutschen und der französischen Seite.
Die europäische Verteidigungskooperation bleibt also konfliktbehaftet. Dazu tragen auch die unterschiedlichen Exportregeln der Partnerländer bei: Hersteller anderer europäischer Länder werben inzwischen mit German free, da für Länder außerhalb der Europäischen Union und der NATO (plus Japan, Südkorea, Australien, Neuseeland) nur schwer Exportgenehmigungen der Bundesregierung zu erwirken sind. Die restriktive Ausfuhrpolitik für Rüstungsgüter stellt ein großes Hindernis für Kooperationsprojekte dar, denn nur mit ausreichenden Stückzahlen können die Entwicklungskosten gedeckt werden.
Zwei-Prozent-Ziel bleibt unerreicht
Die angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine von Bundeskanzler Olaf Scholz ausgerufene Zeitenwende hat bislang keinen Niederschlag in der langfristigen Mittelausstattung der Bundeswehr gefunden. Das Zwei-Prozent-Ziel bleibt unerreicht, und der Verteidigungsetat ohne Sondervermögen wird real sogar sinken, da in der Haushaltsplanung ein Inflationsausgleich fehlt. Mit dem Auslaufen des Sondervermögens von 100 Milliarden Euro in etwa vier Jahren deutet sich eine finanzielle Misere an, die in der nächsten Legislaturperiode bei gleichzeitig ansteigenden Zuschüssen des Bundes an die Rentenkasse und für Gesundheitsausgaben nur schwer zu lösen sein wird (Bardt 2023): Der bei etwas über 51 Milliarden Euro gedeckelte Verteidigungsetat wird dann weniger als ein Prozent der Wirtschaftsleistung ausmachen. Auch mit den hinzuzurechnenden circa sieben Milliarden Euro aus anderen Haushaltsposten werden es nicht mehr als 1,1 Prozent sein, da das Bruttoinlandsprodukt bereits im laufenden Jahr auf 4.100 Milliarden und bis 2024 voraussichtlich auf 4.250 Milliarden Euro ansteigt. Immerhin wurde der Verteidigungsetat im Sparhaushalt für 2024 von Kürzungen ausgenommen, ebenso die Ukrainehilfe in Höhe von acht Milliarden Euro, die zu einem Großteil der heimischen Rüstungsindustrie zugutekommt.
Das Planziel für die Verteidigungsausgaben von zwei Prozent wird ab 2028 ohne einen Kurswechsel der Politik nur noch zur Hälfte erfüllt. Dies schlägt sich angesichts wachsender Personal- und Betriebsausgaben der Bundeswehr in fehlenden Investitionen in neue Waffensysteme nieder. Eine nachhaltige Investition in das Potenzial der deutschen Rüstungsindustrie durch langfristige Aufträge, wie sie in den USA üblich sind, findet aufgrund der aktuellen Abdeckung nahezu aller Beschaffungen über das einmalige Sondervermögen nicht statt. Die Aussage des Bundesverteidigungsministers von Anfang November 2023, dass Deutschland wieder „kriegstüchtig“ werden müsse, wird finanziell und industriell nicht unterfüttert. Die deutsche Politik ignoriert die wachsenden Sicherheitsrisiken aus den veränderten globalen und europäischen Rahmenbedingungen (Masala 2023) weiterhin.
Klaus-Heiner Röhl, geboren 1968 in Buchholz, promovierter Volkswirt, Senior Economist für Mittelstandspolitik und Regionalpolitik im Hauptstadtbüro Berlin des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) Köln.
Literatur
Bardt, Hubertus: „Haushaltspolitik im Zeichen der Zeitenwende – auf was müssen wir zugunsten der Verteidigung verzichten?“, in: ifo Schnelldienst, Nr. 7, München 2023, S. 3–6.
Bitter, Alexander: „‚Lessons Learned‘ auf dem Weg zur Armee im Einsatz“, in: Mair, Stefan (Hrsg.): Auslandseinsätze der Bundeswehr. Leitfragen, Entscheidungsspielräume und Lehren, SWP-Studie, S 27, September 2007, S. 61–67.
Der Spiegel: „Bundeswehr steht aus Sicht von Heeresinspekteur ‚mehr oder weniger blank da‘“, 24.02.2022, www.spiegel.de/politik/deutschland/ukraine-invasion-bundeswehr-steht-laut-heeresinspekteur-mehr-oder-weniger-blank-da-a-e5bdc1f4-e9d3-472f-9ed7-beed5aa02eb0 [letzter Zugriff: 15.11.2023].
Der Spiegel: „Rheinmetall will Teile für F-35-Kampfjet in Weeze fertigen“, 05.07.2023, www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/rheinmetall-ruestungskonzern-will-teile-fuer-f-35-kampfjet-in-weeze-fertigen-a-9ee64bad-44f8-4778-a6e9-ef584fbef580 [letzter Zugriff: 15.11.2023].
Greive, Martin / Holzki, Larissa / Koch, Moritz et al.: „Verteidigung: Kampf gegen die Knappheit“, in: Handelsblatt, Nr. 25, 03.02.2023.
Hein, Christoph / Záboji, Niklas: „Hersteller bangen um den Eurofighter“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.10.2023.
Krohn, Knut: „Weniger Munition für die Ukraine – Europa verfehlt selbst gesetztes Lieferziel“, in: Tagesspiegel, 15.11.2023, S. 1.
Masala, Carlo: Bedingt abwehrbereit. Deutschlands Schwäche in der Zeitenwende, München 2023.
Röhl, Klaus-Heiner: „Kooperationen in der europäischen Verteidigungswirtschaft. Stand, Chancen und Probleme“, IW-Report, Nr. 64/2022.
Röhl, Klaus-Heiner / Bardt, Hubertus / Engels, Barbara: „Zeitenwende für die Verteidigungswirtschaft? Sicherheitspolitik und Verteidigungsfähigkeit nach der russischen Invasion der Ukraine“, IW-Policy Paper, Nr. 4/2022.
Zwerger, Patrick: „Airbus drängt auf nächste Eurofighter-Generation“, in: FlugRevue, 08.03.2023, www.flugrevue.de/militaer/druck-auf-die-politik-airbus-will-die-neue-eurofighter-generation-bauen/ [letzter Zugriff: 15.11.2023].