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Welcher Islam gehört zu Deutschland?

Differenzierungen in einer prominenten Debatte

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„Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.“[1] Mit dieser symbolträchtigen Aussage löste der frühere Bundespräsident Christian Wulff in seiner Rede zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2010 eine kontroverse und überfällige Diskussion über den Stellenwert „des“ Islam in Deutschland aus. Der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, Volker Kauder, positioniert sich ebenfalls eindeutig und stellte in einem Zeitungsinterview fest: „Der Islam ist nicht Teil unserer Tradition und Identität in Deutschland und gehört somit nicht zu Deutschland“, um zeitgleich deutlich herauszustellen: „Muslime gehören aber sehr wohl zu Deutschland. Sie genießen selbstverständlich als Staatsbürger die vollen Rechte.“ [2] Die CDU-Vorsitzende, Bundeskanzlerin Angela Merkel, betonte zuletzt während des Besuchs des türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu Anfang Januar in Berlin: „Der Islam gehört zu Deutschland – und das ist so, dieser Meinung bin ich auch.“ [3] Sie beflügelte mit dieser kategorischen Aussage erneut die Diskussion darüber, ob nun der Islam in seiner gesamten Facettenvielfalt oder nicht vielmehr hier lebende Muslime als deutsche Staatsbürger mit islamischer Religionszugehörigkeit zu Deutschland gehören.

Wie steht es also um die gesellschaftliche Akzeptanz des Islam in der Bundesrepublik, und welche Themen dominieren das derzeitige Islambild in Deutschland? Welche Erscheinungsformen weist der Islam auf, und muss nicht deutlicher zwischen den heterogenen islamischen Strömungen unterschieden werden, um genauer formulieren zu können, welcher Islam tatsächlich zu Deutschland gehört beziehungsweise gehören sollte?

 

Eine Mehrheit fühlt sich bedroht

Im Sommer 2014 sorgte eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa im Auftrag der Wochenzeitschrift stern für Aufsehen, wonach 52 Prozent der Befragten der Meinung seien, der Islam gehöre nicht zu Deutschland, und sich lediglich 44 Prozent der Aussage des früheren Bundespräsidenten Wulff anschlössen. In der Altersgruppe der 14bis 29-Jährigen hingegen betrachteten 61 Prozent der Befragten den Islam als selbstverständlichen Teil Deutschlands, eine womöglich erste Tendenz zu einem sich zukünftig normalisierenden Verhältnis der Deutschen zum Islam.

Aktuelle Ergebnisse über das Verhältnis der nicht-muslimischen Deutschen zum Islam bietet vor allem die Sonderauswertung Islam des Religionsmonitors der Bertelsmann-Stiftung vom Januar 2015. Darin heißt es zusammenfassend: „Obwohl Muslime mittlerweile in Deutschland heimisch geworden sind, lehnt die deutsche Mehrheitsbevölkerung Muslime und den Islam zunehmend ab. Über die Hälfte der Bevölkerung nimmt den Islam als Bedrohung wahr, und ein noch höherer Anteil ist der Ansicht, dass der Islam nicht in die westliche Welt passt. Diese Ablehnung des Islam hat in den letzten zwei Jahren noch deutlich zugenommen.“ [4] Demnach empfinden 57 Prozent der befragten nicht-muslimischen Deutschen den Islam als bedrohlich, für 61 Prozent passt der Islam allgemein nicht zur westlichen Welt. [5] Selbst wenn die Erklärungsmuster für das erkennbar wachsende Gefühl eines gewissen Unbehagens gegenüber dem Islam in den letzten Jahren vielfältig sein dürften, trägt die öffentliche Wahrnehmung eines scheinbar gewaltbereiten Islam wahrscheinlich auch zu dieser steigenden Tendenz der Skepsis gegenüber dem Islam bei.

 

Islamismus gehört nicht zu Deutschland

Die Menschen sind irritiert, wenn in den Medien nahezu täglich über Grausamkeiten von islamistischen Terrororganisationen wie der Shabaab-Miliz in Somalia, der Boko Haram in Nigeria, den Muslimbrüdern in Ägypten, der Hamas im Gaza-Streifen, der Hisbollah im Libanon, der Al Kaida auf der arabischen Halbinsel und schließlich von deren jüngster Abspaltung, dem „Islamischen Staat“ (IS), berichtet wird. Sie fragen sich, was Unterdrückung, Vergewaltigung, Mord und Barbarei mit dem Islam zu tun haben, und meinen, aus den Reihen der islamischen Geistlichkeit eine lautere und eindeutigere Stimme der Ablehnung dieser Taten und einer Distanzierung von ihnen vernehmen zu müssen. Die Antwort sollte unmissverständlich sein: Der Islam wird von Islamisten für deren ideologische Zwecke instrumentalisiert und muss sich zeitgleich fragen (lassen), weshalb das geschehen kann. Es verwundert und beängstigt Menschen außerdem, dass sich den schätzungsweise 30.000 Kämpfern der IS-Terrororganisation mindestens 3.000 aus Europa stammende Islamisten angeschlossen haben, darunter mehr als 600 aus Deutschland. Die islamistisch motivierten Terroranschläge von Paris und Kopenhagen im Januar und Februar verunsichern verständlicherweise zusätzlich, da der Terror im Namen des Islam auch in europäischen Hauptstädten angekommen ist.

 

Historisch-kritische Lektüre

In islamischen Quellen – wie in denen anderer Religionen auch – existieren durchaus Passagen, die zur Legitimation von Gewalt herangezogen werden können. Wer behauptet, es gebe im Koran keinerlei zu Gewalt aufrufende Suren und der Islam sei ausschließlich eine Religion des Friedens, übersieht die Textstellen in den islamischen Quellen, die durchaus als gewaltlegitimierend missbraucht werden können. Nur wer die Offenbarungsschrift der Muslime historisch-kritisch in den Kontext ihrer Entstehungsgeschichte einbettet, kann sich von den teilweise Gewalt legitimierenden Suren lösen. [6]

Zur größeren Anerkennung des Islam in Deutschland würde daher auch beitragen, wenn muslimische Theologen und Vertreter von Islamverbänden nicht reflexartig nach jedem islamistischen Anschlag beteuern würden, solche Taten hätten nichts mit dem Islam zu tun. Vielmehr sollten sie offensiv und kritisch die Diskussion darüber mitgestalten, weshalb irregeleitete Extremisten sich auf ihre Religion berufen. Muslime könnten viel selbstbewusster betonen, dass die überwältigende Mehrheit der 1,6 Milliarden Anhänger des Islam friedlich ihrer Religionsausübung nachgehen und nur weniger als ein Prozent einem fundamentalistischen Gedankengut Folge leistet.

 

Absurde Pauschalisierung

Zeitgleich sollte immer wieder daran erinnert werden, dass das eine Phänomen Islamismus ebenso wenig existiert, wie es auch nicht die eine monolithische Form des Islam gibt. Islamismus und Islam sind jeweils als eigene konstitutive Welten vielschichtig und komplex. Die Begrifflichkeit Islam ist vielseitig und beschreibt neben einer Religion ebenso eine Weltanschauung, ein Rechtssystem und ein Wirtschaftsdenken. Neben verschiedenen Denominationen, wie Sunniten und Schiiten, umfasst der Begriff auch unterschiedliche Rechtsschulen und Gedankenwelten. Nur ein differenzierender Ansatz kann den Islam verstehen und führt jede Pauschalisierung ad absurdum, da sie seiner Komplexität nicht gerecht wird. Es gibt nicht „den“ Islam.

Ein Blick auf die Situation in Deutschland verdeutlicht bereits die Vielfalt muslimischen Lebens: In Deutschland leben zwischen 3,8 und 4,3 Millionen Muslime, davon besitzt etwa die Hälfte die deutsche Staatsangehörigkeit. 63 Prozent der in Deutschland lebenden Muslime haben einen türkischstämmigen Hintergrund, 74 Prozent bekennen sich zur sunnitischen und sieben Prozent zur schiitischen Glaubensausrichtung im Islam. Dreizehn Prozent gelten als Aleviten. Außerdem zählt die Ahmadiyya-Gemeinde circa 30.000 Mitglieder in Deutschland und ist neben Hessen seit 2014 auch in Hamburg als einzige islamische Gemeinschaft in Deutschland als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt. Der muslimische Anteil an der Gesamtbevölkerung beträgt demnach zwischen 4,6 und 5,3 Prozent. In den vier großen Islamverbänden organisieren sich maximal fünfzehn bis zwanzig Prozent der in Deutschland lebenden Muslime, die überwältigende Mehrheit praktiziert ihren Glauben ohne Anbindung an einen der ethnisch-kulturell geprägten Interessenverbände.

 

Rechtsschulen und Strömungen

Entscheidend ist, dass es auch unter den Muslimen in Deutschland keine zentrale oder gar legitimierte Sprachinstanz gibt und sich das Islamverständnis nach der jeweiligen Lehrtradition (madhhab) richtet. Im Allgemeinen lassen sich heute acht unterschiedliche Rechtsschulen im Islam kategorisieren: Neben der besonders strengen Auslegung der Zahiriya, die heutzutage praktisch keine Unterstützer mehr findet, und der Ibadiya, die lediglich im Oman noch als Mehrheitsislamauslegung fungiert, sind besonders die zwei schiitischen (Dschafariya und Zaidiya) und die vier sunnitischen (hanafitisch, malikitisch, schafiitisch, hanbalitisch) Rechtsschulen von Relevanz. Etwa die Hälfte der Sunniten weltweit folgt der hanafitischen Rechtsschule der sunnitischen Islamtradition, die daher als die dominierende Lehrschule gilt. Die in Deutschland lebenden sunnitischen Muslime mit mehrheitlich türkischstämmigem Hintergrund folgen ebenso dieser Islamauslegung, die neben Koran und Sunna auch die Suche nach einem Konsensus islamischer Rechtsgelehrter und die Abwägung durch Analogieschlüsse (qiyas) impliziert.

Ohne auf die vielfältigen Besonderheiten der unterschiedlichen Rechtsschulen im Detail einzugehen, können folgende Beispiele aus der praktizierten Auslegung ausgewählter islamischer Rechtsschulen dazu dienen, sich ein differenzierteres Bild über die Vielfalt des Islam zu machen. Gehört zum Beispiel die dschafaritische Islamtradition, wie sie in der Islamischen Republik Iran praktiziert wird, bei der Homosexuellen die Todesstrafe droht und göttliches über weltlichem Recht steht, zu Deutschland? Zählt die kleinste Rechtsschule der Hanbaliten, wie sie im wahhabitisch geprägten Königreich Saudi-Arabien praktiziert wird und in deren Namen bei Ehebruch die Steinigung und bei Diebstahl das Abtrennen von Gliedmaßen droht, zu Deutschland? Und passt selbst die als liberal geltende hanafitische Rechtsschule, die unter anderem in der Türkei zur Geltung kommt, auch dann bedingungslos zu Deutschland, wenn der oberste Geistliche der Türkischen Republik wiederholt Frauen dazu aufruft, sich nicht zu freizügig zu kleiden, ein keusches Leben zu führen und fromme Mütter zu sein?

So selektiv die Beispiele auch erscheinen mögen, so nachweisbar repräsentieren sie eine ebenfalls praktizierte Islamauslegung. Die Beispiele verdeutlichen, warum eine pauschale Aussage wie „Der Islam gehört zu Deutschland“ bei vielen negative Assoziationen aufkommen lässt und sich viele fragen, welcher Islam nun eigentlich zu Deutschland gehört.

Die Antworten können vielfältig und kontrovers sein. In einer offenen Debatte zwischen Muslimen und der nicht-muslimischen Bevölkerungsmehrheit muss angesprochen werden, dass sich Muslime in Deutschland selbst und islamische Verbände im Allgemeinen kritische Fragen stellen und kritische Äußerungen zulassen können sollten. Elementare Grundrechte wie Meinungs-, Kunst-, Glaubens- und Pressefreiheit sind wesentliche Bestandteile der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland und im Zweifel nicht verhandelbar. Diesen Grundrechten muss sich ein in Deutschland gelebter Islam selbstverständlich anpassen (können).

 

Der Konfrontation ausweichen?

Es könnten nun zahlreiche Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit angeführt werden, die als Belege einer bisher stellenweise unbefriedigenden Integration des Islam in Deutschland verstanden werden könnten. So echauffierte sich Ende 2014 etwa ein aus Osnabrück kommender Muslim über einige Aussagen des Kabarettisten Dieter Nuhr und bezichtigte den Künstler aufgrund der Aussage „Wenn man nicht wüsste, dass der Koran Gottes Wort ist, könnte man meinen, ein Mann hätte ihn geschrieben“ der Hetze und der Verletzung religiöser Gefühle. Obschon das Ermittlungsverfahren gegen Nuhr eingestellt wurde, zeigt der Vorfall doch eine wiederkehrende Symptomatik in der Debatte über den Stellenwert des Islam in Deutschland. Sie erscheint auch in der Weigerung deutscher Medienhäuser, die Karikaturen des dänischen Zeichners Kurt Westergaard, der 2005 mit Zeichnungen des islamischen Propheten Mohammed international für Aufregung sorgte, abzubilden, oder bei der Absetzung von Mozarts Oper „Idomeneo“ in einer Art vorauseilendem Gehorsam gegenüber etwaigen Bedenken muslimischer Verbände in Berlin 2006.

Diese Haltung ist besorgniserregend und obendrein unfair. Weshalb sollten Muslime weniger Kritikfähigkeit besitzen als Anhänger anderer Religionsgemeinschaften? Weshalb sollten für die überwältigende Mehrheit der Muslime nicht auch die Presse- und Meinungsfreiheit, die Freiheit der Kunst und der Glaubensausrichtung von höherem Wert sein als die fanatische Minderheitenposition mancher Fundamentalisten? Der CDU-Bundestagsabgeordnete Jens Spahn mahnte in der Debatte um Nuhr im Herbst 2014 zu Recht: „Der Islam gehört erst wirklich dann zu Deutschland, wenn man über ihn Witze machen darf, ohne angezeigt oder bedroht zu werden.“ In beiden Fällen wurde präventiv eine Beschneidung der Meinungs- und Kunstfreiheit vorgenommen, um möglichen Konfrontationen mit Muslimen vorbeugend aus dem Weg zu gehen. Die Absage des Karnevalsumzugs in Braunschweig im Februar dieses Jahres aufgrund einer konkreten islamistischen Anschlagsplanung ist ebenfalls ein herber Rückschlag für das Recht auf Versammlungsfreiheit.

 

Multiplikatoren fehlen

Die Lehrstühle für Islamische Theologie an deutschen Universitäten tragen eine große Verantwortung bei der Klärung der Frage, welcher Islam zu Deutschland gehört; sie sollten die Chance der aktiven Mitgestaltung nutzen, um durch eine historisch-kritische Koranexegese diese Debatte mit Leben zu füllen. Die Vielfältigkeit islamischer Strömungen ist evident und verallgemeinernde Feststellungen – auch rhetorischer Natur – sind wenig zweckdienlich. Der Journalist Mehmet Ata formulierte in einem Artikel für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung unlängst fünf Thesen für einen deutschen Islam. Ata betont: „Unter Muslimen herrscht eine Scheu, über einen deutschen Islam zu diskutieren“, und schlägt zugleich vor, dass ein deutscher Islam deutschsprachig sein, die Gedanken der Freiheit und Toleranz in sich tragen und die spezifisch deutsche Geschichte mitdenken müsse.[7] Interessant ist, dass eine große Anzahl der in Deutschland lebenden Muslime diese Ansprüche bereits erfüllt, es allerdings jenseits der etablierten Interessenverbände noch zu wenige wahrnehmbare Multiplikatoren für diesen gelebten deutschen Islam gibt.

Wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt und die freiheitlich-demokratische Grundordnung akzeptiert, zählt ohne jeden Zweifel zu Deutschland. In einem säkularen Rechtsstaat darf die religiöse Orientierung eines Menschen im Grunde keine Rolle spielen. In einem säkularen Rechtsstaat gilt die Treue zur Verfassung und nicht die zu einer Religion.

Thomas Volk, geboren 1986 in Waldkirch, Koordinator Islam und Religionsdialog, Hauptabteilung Politik und Beratung, Konrad-Adenauer-Stiftung.
 

[1] www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Christian-Wulff/Reden/2010/10/20101003_Rede.html (28.10.2014).
[2] www.welt.de/politik/deutschland/article106201159/Der-Islam-gehoert-nicht-zu-Deutschland.html (28.10.2014).
[3] www.zeit.de/politik/deutschland/2015-01/angela-merkel-islam-deutschland-wulff (16.02.2015).
[4] www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/51_Religionsmonitor/Zusammenfassung_der_Sonderauswertung.pdf (16.02.2015).
[5] www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/51_Religionsmonitor/Zusammenfassung_der_Sonderauswertung.pdf, Seite 8. (16.02.2015).
[6] Ausschnitt aus dem Artikel „Islam-Islamismus“.
[7] Ata, Mehmet (2015): Fünf Thesen für einen deutschen Islam, www.faz.net/aktuell/politik/inland/fuenf-thesen-fuer-einen-deutschen-islam-13402218.html (02.02.2015).
 

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