George H. W. Bush hatte es nicht leicht mit seiner Partei. Immer wieder vertrat er im Laufe seiner politischen Karriere Positionen, die er selbst eigentlich ablehnte. Hätte er es nicht getan, wäre er nicht weit gekommen und sicher nicht im November 1988 zum 41. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt worden. Als moderater Republikaner blieb ihm in einer Partei, deren Gewicht sich seit den 1960er-Jahren mehr und mehr nach rechts verlagerte, nichts anderes übrig, als den sogenannten „movement conservatives“ den Eindruck zu vermitteln, als teile er ihre Ziele. Dass sie ihm das nicht unbedingt glaubten, erlebte er in den Vorwahlen von 1988, als ihm eine Anhängerin des mit ihm konkurrierenden evangelikalen Fernsehpredigers Pat Robertson bei einer Wahlkampfveranstaltung den Handschlag verweigerte. Konsterniert notierte er später in seinem Tagebuch über die Vertreter der christlichen Rechten: „Sie sind furchteinflößend. Sie sind aus unheimlichen, außerordentlich rechtsgerichteten Motiven dabei. Die Partei ist ihnen gleichgültig. Alles ist ihnen gleichgültig. Sie sind maßlos. Sie könnten Nazis sein, sie könnten Kommunisten sein, sie könnten was auch immer sein. In diesem Fall sind sie religiöse Fanatiker, und sie sind unheimlich. Sie werden die Partei zerstören, wenn man ihnen erlaubt, sie zu übernehmen.“1
Und doch musste er diese unheimlichen Zeitgenossen wie Parteifreunde behandeln. Er war von ihnen durch einen Graben getrennt, musste aber den Eindruck erwecken, als verlaufe der Graben an einer anderen Stelle, nämlich zwischen Republikanern und Demokraten. So einfach war es jedoch nicht; noch waren beide Parteien trotz fortschreitender Ideologisierung in jeder Hinsicht heterogene Wählerkoalitionen. Der große Konflikt, für den sich in den 1990er-Jahren der Begriff culture war in Wissenschaft und Medien durchsetzte, war kein Konflikt zweier klar abgegrenzter Lager, sondern durchzog das Land in einer Zickzacklinie. An seinem Ursprung lagen religiöse Überzeugungen und Gegensätze, aber das war nichts Neues.
H. L. Mencken, einer der in seiner Zeit einflussreichsten Journalisten mit zum Teil recht extravaganten Auffassungen, hatte bereits 1930 geschrieben: „Oberhalb der breiten Masse überlebt vom Christentum heute nicht mehr als eine Art Humanismus, der kaum mehr Übernatürliches beinhaltet, als man in der Mathematik oder der Nationalökonomie findet.“2 Er ist deshalb als ein früher Vertreter der progressiven Seite im späteren culture war bezeichnet worden.3 Doch Menckens moralischer Progressivismus, der sich nicht leugnen lässt, verband sich mit einem an Friedrich Nietzsche geschulten Elitismus und einer tiefen, ziemlich unamerikanischen Skepsis gegenüber der Demokratie. Veränderungen der Gesellschaftsordnung waren dem libertären Konservativen ein Graus, und er hätte sich auf der Seite der heutigen amerikanischen Linken, der Propagandisten von „demokratischem Sozialismus“, Gendertheorie und Identitätspolitik, ganz gewiss nicht wohlgefühlt. Dass er der heutigen Mehrheit der Republikanischen Partei ebenfalls nicht vermittelbar gewesen wäre, zeigt, wie schwer es ist, alle politisch-kulturellen Fragen auf eine einfache Links-Rechts-Dichotomie zu reduzieren.
Diese Einsicht ist auch deshalb wichtig, weil sie die als verbrieftes Wissen geltende Idee, Amerika sei in zwei unversöhnliche Lager gespalten, zumindest infrage stellt. Dass Amerika ein gespaltenes Land sei, konnte man auch nach den Präsidentschaftswahlen im November 2020 wieder allerorten hören. Doch diese Feststellung ist entweder banal oder falsch: Banal ist sie, weil alle liberalen Gesellschaften gespalten sind. Völlige politische oder kulturelle Einheit gibt es nur in totalitären Systemen. Das Ziel des Liberalismus ist es nicht, Unterschiede zu beseitigen, sondern sie für alle erträglich zu machen. Überdies ist ein knappes Ergebnis bei einer Direktwahl, die zu einer Entscheidung zwischen zwei parteipolitisch geprägten Möglichkeiten zwingt, nicht unbedingt ein schlechtes Zeichen. Es führt vielmehr vor Augen, dass nicht eine von beiden Seiten übermächtig ist, dass also Wechsel in die eine oder andere Richtung möglich bleiben.
Allein die historische Erfahrung, wenn nicht der gesunde Menschenverstand, sagt uns, dass sich nicht alle Wähler, wie suggeriert wird, aus Überzeugung für den einen oder anderen Kandidaten entschieden haben. Zahlreiche individuelle Motive sind für die eine oder andere Wahlentscheidung denkbar, und die Demoskopen können sich ihnen allenfalls annähern. Gewiss, das ändert nichts an der Tatsache, dass sich die amerikanische Wählerschaft seit den 1960er-Jahren immer stärker polarisiert hat. Dabei folgte die Entwicklung der Parteien derjenigen der Gesellschaft und nicht umgekehrt. Aber die Vereinigten Staaten sind keine ganz und gar „zweigeteilte Nation“, wie der amerikanische Politikwissenschaftler James Campbell gezeigt hat. Es sei zwar ein Mythos, dass Amerika im Kern eine „gemäßigte Nation“ sei, schreibt er in seinem Buch Polarized, aber diejenigen Amerikaner, die sich als moderates bezeichneten, seien zumindest eine gewichtige Minderheit.4
Warum herrscht dann in den Vereinigten Staaten nach allgemeiner Ansicht ein culture war, ein Kulturkampf? Oder anders gefragt: Wer kämpft eigentlich gegen wen? Zum einen zwingt die parteipolitische Polarisierung auch die Gemäßigten dazu, sich entweder dauerhaft oder von Fall zu Fall für eine der beiden Parteien zu entscheiden; zum anderen dominieren ideologische Motive den medialen und wissenschaftlichen Diskurs. Moderate Stimmen gehen im Kampf der Fernsehanstalten, Radiosender und politisierten Geisteswissenschaften unter. Weil dieser ideologische Konflikt aus ihrer Sicht die amerikanische Nation strukturiert, sprechen viele Politikwissenschaftler, Soziologen, aber auch Journalisten und Politiker von einem culture war oder von culture wars. Kategorien wie Rasse, Klasse oder der Unterschied von Stadt und Land spielten darin nur noch eine untergeordnete Rolle. Im Kulturkampf, dessen Beginn viele im Aufstieg der „Gegenkultur“ der 1960er-Jahre sehen, andere schon in der Zeit der Progressive Era zwischen 1890 und 1920, seien „Werte“, moralisches Empfinden und der Lebensstil bestimmend. Abtreibung, Homosexualität, Pornographie, Drogenkonsum – das waren die Themen, die seit den 1960er-Jahren ins Zentrum des Kulturkampfes rückten.
Nicht nur aus „liberaler“ Sicht haben die Linken bei diesen Themen längst gewonnen, hat sich also die „Gegenkultur“ durchgesetzt. Deswegen streben die linken „Kulturrevolutionäre“ heute nach Höherem, nach der Kontrolle der Sprache und des Denkens, nach der umfassenden Umgestaltung der Gesellschaft auf der Grundlage tatsächlicher oder imaginierter Identitäten. Das Bewusstsein bestimmt dabei das Sein, und das persönliche Empfinden wird zum Maßstab. Das ist, wie der amerikanische Soziologe Mark Lilla geschrieben hat, nichts anderes als eine Abdankung des alten, zentristischen amerikanischen Liberalismus. Der Liberalismus des 21. Jahrhunderts habe den Sinn dafür verloren, was ein „gemeinsamer way of life“ sein könnte.5 Die politische Rechte reagiert darauf ebenso ideologisch wie ihre „liberalen“ Gegner und hat sich mit mehr als zweifelhaften Verbündeten am rechten Rand der amerikanischen Gesellschaft und Politik eingelassen. Ein Großteil der amerikanischen „Konservativen“ versteht nicht, dass die Politische Korrektheit zwar eine Ideologie sein kann, dass der erbitterte Kampf gegen sie aber nicht minder ideologische Züge trägt. Ähnliches gilt für die alten Streitpunkte Abtreibung und gleichgeschlechtliche Ehe, bei der sich die Linke von postmodernen Phantasien und die Rechte von einem fundamentalistischen Verständnis des Christentums leiten lässt. Eine einseitige Polarisierung gibt es nicht. Das Ergebnis der Präsidentschaftswahl von 2016 ist deshalb als Folge eines wechselseitigen Radikalisierungsprozesses anzusehen, den sich der nur als „Konservativer“ maskierte Demagoge Donald Trump zunutze machte.
Kulturkampf heute und gestern
Wenngleich die Schauplätze dieser Auseinandersetzung die längst zur Domäne der Linken gewordenen Eliteuniversitäten, die Schulen und die Medien sind, geht sie doch die gesamte amerikanische Gesellschaft an. Der amerikanische Kulturkampf ist, dem demokratischen Charakter der Gesellschaft entsprechend, ein umfassendes Phänomen. Verglichen damit war der Kulturkampf der „liberalen Ära“ des Deutschen Kaiserreichs allenfalls ein blasser Abglanz eines echten Kulturkampfs. Der deutsche Kulturkampf von 1871 bis 1878 fand zwar auch in der Öffentlichkeit statt, berührte mithin die gesamte Gesellschaft und das Leben der Menschen – das aber in weit schwächerem Maße als der amerikanische culture war. Das lag zum einen an den nicht vorhandenen beziehungsweise geringer ausgeprägten medialen und partizipatorischen Möglichkeiten, zum anderen aber auch daran, dass der deutsche Kulturkampf kein Konflikt zwischen sich feindlich gegenüberstehenden Teilen der Gesellschaft war, sondern ein Zusammenprall des modernen Staats und des Liberalismus auf der einen und der Katholischen Kirche auf der anderen Seite.
Das war keine deutsche Besonderheit, sondern eine gesamteuropäische Angelegenheit. Auch in Italien und Frankreich suchte der Staat die Auseinandersetzung mit der Kirche, vor allem in Frankreich sogar mit weit größerer Schärfe und über einen längeren Zeitraum als im Deutschen Reich. Denn im weitgehend katholischen Frankreich, wo nicht nur Juden, sondern auch Protestanten eine Minderheit waren, handelte es sich um eine ähnlich strukturelle Spaltung, wie wir sie heute in den Vereinigten Staaten beobachten können: Dort standen den antiklerikal und agnostisch, wenn nicht atheistisch, gewordenen Katholiken die gläubigen, der Kirche verbundenen Katholiken gegenüber. Die republikanisch-antiklerikale Seite zwang den konservativen Katholiken im Jahr 1905 das Gesetz über die Trennung von Kirche und Staat auf. In Deutschland dagegen wandte sich Otto von Bismarck zwar gegen die politische Macht der ultramontan, antimodern und integristisch gewordenen Katholischen Kirche sowie gegen die von ihm als verlängerter Arm der Kirche missverstandene Zentrumspartei. Unterstützt wurde er von den eigentlich nicht antireligiös eingestellten, aber antikatholisch gewordenen Liberalen. Aber Bismarcks Motive waren rein politischer Natur. Trotz eines gewissen protestantischen Überlegenheitsgefühls war er immerhin konservativ genug, um zu erkennen, dass er in gesellschaftspolitischen Fragen mit der Katholischen Kirche mehr gemeinsam hatte als mit den Liberalen.
Bismarck brach den Kulturkampf 1878 ab, als ihm klar wurde, dass er seine Ziele nicht erreichen konnte. Das Zentrum war nicht in die Knie gegangen, sondern sogar stärker geworden, und Bismarck, der sich von den Liberalen abwandte, strebte nun ein Bündnis aus protestantischen Konservativen und dem Zentrum zu seiner Unterstützung an. 1887 legten das Deutsche Reich und der Vatikan den Konflikt offiziell bei. Was waren seine Ergebnisse? Mehr noch als Bismarck hatten die Liberalen das Gegenteil von dem erreicht, was ursprünglich angestrebt war: Das katholische Milieu ließ sich nicht aufbrechen, auch nicht von der Kirche trennen, sondern ging gefestigt aus dem Konflikt hervor. Und die Stärkung des Zentrums verhinderte dauerhaft die Entstehung einer großen liberal-konservativen Sammlungspartei von Protestanten und Katholiken, die erst 1945 mit der CDU gegründet wurde. Gleichwohl hatten Protestanten und Katholiken im Kaiserreich trotz unterschiedlicher Lebenswelten keinen dauerhaften Konflikt, in dem die eine der anderen Seite ihre „Werte“ aufzwingen wollte. Sie koexistierten mehr, als dass sie konfligierten. Überdies bestand Deutschland nicht nur aus ultramontanen Katholiken und liberalen Protestanten. Es gab andere, ebenso wichtige Gräben zwischen verschiedenen Gruppen von Deutschen.
Verwerfungen im „culture war“
Der Kulturkampf blieb zwar im kollektiven Gedächtnis der deutschen Katholiken haften – im Übrigen auch bei vielen Protestanten –, aber nur als eine Episode der deutschen Geschichte, als ein zeitlich begrenztes Phänomen, das man Bismarck anlasten konnte. Eine dauerhafte Polarisierung der deutschen Gesellschaft folgte daraus nicht, und angesichts des Verblassens der Erinnerung daran wird der Begriff „Kulturkampf“ in Wissenschaft und Medien mehr und mehr mit anderen Ereignissen und Konstellationen verbunden. So ist etwa der amerikanische culture war schon seit Längerem vor allem über die Universitäten in anderen westlichen Staaten angekommen, zunächst in den angelsächsischen Ländern, dann auch in Deutschland und Skandinavien, zuletzt in romanischen Ländern. Ohne bislang dieselben politischen Folgen zu haben, führt der Import dieses Konflikts zu ähnlichen kulturellen und gesellschaftlichen Phänomen, zum Aufeinanderprallen einer sich aufgeklärt fühlenden Avantgarde in Wissenschaft, Medien und Politik, die die menschliche Natur neu erfinden will, und den Verteidigern traditioneller „Werte“. Man sollte sich freilich nicht zu sicher fühlen: Auch in anderen Ländern des Westens kann diese Entwicklung zu ähnlichen politischen Verwerfungen führen wie in den Vereinigten Staaten.
Das ist umso bedauerlicher, als dieser Kulturkampf im Innern des Westens davon ablenkt, dass es andere, innere und äußere Konflikte und Bedrohungen gibt, die mehr Aufmerksamkeit verdient hätten. Das westliche Zivilisationsmodell wird nicht nur an den Folgen der COVID-19-Pandemie lange zu tragen haben, sondern sieht sich mit China durch eine Großmacht mit einer „totalitären Machtstruktur“6 herausgefordert. Auch das Problem des Islamismus, das gerade Vertreter der hegemonial gewordenen linken „Gegenkultur“ gern vergessen würden, hat sich mit der Enthauptung des französischen Lehrers Samuel Paty im Oktober 2020 und einigen anderen Anschlägen in Frankreich, Deutschland und Österreich mit Macht zurückgemeldet. Manche sprechen in diesem Zusammenhang bereits von einem neuen Kulturkampf. Aber ein Kulturkampf wäre es nur, wenn die Unterscheidung zwischen dem Islam an sich und dem Islamismus als politischer Ideologie verloren ginge. Wer an der Unterscheidung festhält, sieht, dass es sich nicht um einen Kulturkampf handelt, sondern um die Verteidigung des liberalen Westens gegen einen neuen terroristischen Totalitarismus. Aus französischer Sicht handelt es sich dabei längst um einen Krieg.
Angesichts dessen wäre es zu begrüßen, wenn zwischen den beiden Kulturen des Westens, an deren Konflikt, wie gesagt, eine große Zahl von Menschen ohnehin gar nicht teilnimmt, zumindest so etwas wie Waffenstillstand herzustellen wäre. Die amerikanische Historikerin Gertrude Himmelfarb hat schon 1999 in ihrem Buch One Nation, Two Cultures festgestellt, dass beide Kulturen koexistieren müssten, wenn Amerika eine einige Nation bleiben solle.7 Joe Bidens Rede am Abend seines Wahlsiegs erinnerte an die Rede, die George Bush 1989 bei seiner Amtseinführung gehalten hatte. Wie Bush vor ihm nahm Biden für sich in Anspruch, die Nation mit sich selbst versöhnen zu wollen. Daran, ob es ihm gelingt, könnte nicht nur die Zukunft Amerikas hängen, sondern diejenige des gesamten Westens.
Matthias Oppermann, geboren 1974, Stellvertretender Leiter Wissenschaftliche Dienste /Archiv für Christlich-Demokratische Politik und Leiter Zeitgeschichte, Konrad-Adenauer-Stiftung, Privatdozent für Neuere Geschichte, Universität Potsdam.
1 Zit. nach Jon Meacham: Destiny and Power. The American Odyssey of George Herbert Walker Bush, New York 2015, S. 325.
2 H. L. Mencken: Treatise on the Gods, Nachdruck der zweiten Aufl. von 1946, Baltimore 2006 (erstmals 1930), S. 252.
3 Vgl. D. G. Hart: Damning Words. The Life and Religious Times of H. L. Mencken, Grand Rapids, Michigan 2016, S. 236 f.
4 James E. Campbell: Polarized. Making Sense of a Divided America, Princeton/Oxford 2016, S. 2.
5 Mark Lilla: The Once and Future Liberal. After Identity Politics, London 2018.
6 Wolfgang Schäuble: „Aus eigener Stärke“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.07.2020.
7 Vgl. Gertrude Himmelfarb: One Nation, Two Cultures, Paperback-Ausgabe, New York 2001 (erstmals 1999).