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Über die Ziele postkolonialer Dekonstruktion

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Der Abstieg des Westens scheint allgegenwärtig. Bei Handel und Innovationen, in Sicherheitsfragen und bei der Ausgestaltung der globalen Ordnung – allerorten wird Niedergang diagnostiziert. Da verwundert es nicht, dass dem Westen auch ideell der Wind ins Gesicht bläst. Aber anders als während des Ost-West-Konflikts sorgt heute kein alternatives Ordnungsmodell für Verunsicherung. Aktuell wird der Westen grundsätzlich dekonstruiert, kritisiert und nicht selten gänzlich verworfen. Dahinter stehen meist Denkansätze, die unter dem Begriff „Postkolonialismus“ zusammengefasst werden.

Spätestens seit den 1990er-Jahren haben sich auch an deutschen Universitäten Theorien etabliert, die einen Perspektivwandel in der bislang verbreiteten Wahrnehmung von Welt und Geschichte vorantreiben. Mit den Schriften von Frantz Fanon, Michel Foucault, Edward Said und Judith Butler in Händen, wird vor allem in den Sozialwissenschaften die Dekonstruktion vorgeblicher Machtdiskurse betrieben. Verdienste hat dieser Perspektivwandel ohne Zweifel. So sind romantische Verklärungen der Kolonialzeit kaum noch salonfähig. Und auch, dass koloniale Verbrechen durch Landesgrenzen, Abhängigkeitsverhältnisse und nicht zuletzt in den Köpfen nachwirken, ist unbestritten.1

Dennoch zieht der Postkolonialismus immer mehr Kritik auf sich. Der amerikanische Soziologe Vivek Chibber diagnostiziert, der Postkolonialismus verbreite ein klischeehaftes Bild anderer Weltregionen.2 Andere werfen ihm Unwissenschaftlichkeit, mangelnde Kritikfähigkeit und Schwarz-Weiß-Denken vor. Seit dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 steht vor allem der Antisemitismusvorwurf im Raum,3 gleichzeitig nimmt die postkoloniale Gegenwehr zu; ihre Verfechter vermuten Geschichtsrevisionismus am Werk oder wittern eine autoritär-illiberale Kampagne.4 In der Postkolonialismusdebatte wird mittlerweile also „scharf geschossen“.


Diskursverengendes Wissensregime

Eigentümlicherweise spielt in dieser Debatte eines der zentralen Elemente des Postkolonialismus nur eine nachgeordnete Rolle – die Abwertung des Westens. Gerade jüngere Strömungen interessieren sich nur wenig für Geschichte und Nachwirkungen kolonialer Zustände, sondern dehnen die Diagnose und Beschreibung des Fortbestands dieser Zustände immer weiter aus. Nicht dem Kolonialismus als globalem und überzeitlichem Phänomen gilt das Erkenntnisinteresse, sondern einzig dem europäischen Kolonialismus der vergangenen Jahrhunderte. Osmanische Eroberungen, arabischer Sklavenhandel, sowjetischer Imperialismus und vieles andere werden ausgeblendet oder relativiert.5

Zentraler Ausgangspunkt dieser Wandlung vom produktiven Ansatz zum diskursverengenden Wissensregime ist die 1979 von Edward Said in seinem postkolonialistischen Standardwerk Orientalism formulierte Hypothese, dass der Westen den Orient als negative Schablone zur Selbstdefinition benötige. Said lieferte damit das passende Buch in einer Zeit, in der vielen Linken der real existierende Sozialismus peinlich wurde und in der die Revolution im Iran manche falsche Hoffnung weckte. Westliche „Kolonialität“ und die Vorstellung, dass westliche Gesellschaften intrinsisch und letztendlich unüberwindbar rassistisch seien, ersetzten immer öfter den Kapitalismus als Erklärungsgrundlage für die Übel dieser Welt.

Beschleunigt wurde diese Entwicklung durch das Ende des Ost-West-Konflikts und die Terrorangriffe des 11. September 2001. Die offene oder klammheimliche Zustimmung zum Angriff auf die USA seitens mancher westlicher Intellektueller förderte das Bewusstsein für ein Phänomen, das die Postkolonialismus-Kritiker Ian Buruma und Avishai Margalit als „Anti-Westernism“ bezeichneten.6 Dieser sogenannte Anti-Westernismus fand nach der Jahrtausendwende neue Nahrung. Das Scheitern westlicher Bemühungen um Demokratieexport und die Zunahme weltweiter Krisen stützten die postkoloniale Annahme, dass der Westen der Welt eher schade als nutze.

 

Legitimierung autoritärer Politiken

Die Abwertung des Westens fand ihre Entsprechung in der Aufwertung des Südens. Der Journalist Jens Balzer erklärt diesen Trend mit der Idee vom „Indigenen“ als Leitmotiv postkolonialen Denkens. Plötzlich seien Volk, Nation und Tradition wieder hochgeschätzte Werte – solange sie von als nicht westlich eingeordneten Personen vertreten werden.7 Zur Heimat dieser nicht westlichen Personen wurde der sogenannte Globale Süden erklärt. Auch dieser schillernde Begriff ist seit Langem in der Diskussion, ohne dass bislang geklärt ist, wer genau dazugehört und was damit gemeint ist. Der Globale Süden reduziert sich so zum Kampfbegriff, der für alles Mögliche in Stellung gebracht werden kann. Für den Politologen Wolfgang Kraushaar dient er primär zur Diskreditierung des Westens und „hilft nicht weiter, wenn man die Folgen des Kolonialismus verstehen will“.8

Konjunktur hat das Reden über den Globalen Süden auch deshalb, weil die antiwestliche Selbstkritik ein wichtiger Verbündeter für die machtpolitischen Gegenspieler westlicher Demokratien ist. Bereits im Februar 2017 forderte der russische Außenminister Sergej Lawrow auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine „post-westliche Weltordnung“ und sucht seither den Schulterschluss mit Gleichgesinnten. Der ultranationalistische russische Philosoph Aleksandr Dugin bemüht das Bild der Dekolonialisierung ebenso wie Hindunationalisten, chinesische Machtpolitiker und iranische Mullahs. Überall auf dem Globus werden Identitätskonzepte angeblicher Subalternität aktiviert, um autoritäre, reaktionäre und ethnonationalistische Politiken zu legitimieren.

Als Erste machten sich dies Islamisten nutzbar. Seit rund einhundert Jahren propagieren sie den Islam (und nicht den Westen) als Lösung aller Probleme. Der Kampf gegen Demokratie, Menschenrechte und Säkularismus, aber auch gegen Frauen, ethnische Minderheiten, Homosexuelle und Andersgläubige wird als indigene „muslimische Perspektive“ verbrämt. Wie die realpolitische Umsetzung einer solchen Perspektive aussehen kann, lässt sich im Iran, in Afghanistan und Gaza beobachten. Vor allem bei den Islamisten der Hamas und anderen Israelfeinden sind postkoloniale Diskurse und die in diesen vertretenen Diffamierungsvokabeln (Genozid, Apartheid, Kolonialstaat) hochwillkommen. Noch am Tag des Massakers vom 7. Oktober 2023 feierte die Boykottbewegung Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) den Angriff als Reaktion der „indigenen Palästinenser“ auf ethnische Säuberungen von „Apartheid Israel“ und des „kolonialistischen Westens“.9

Ob der Postkolonialismus generell antisemitisch oder der in seinen Reihen geäußerte Antisemitismus lediglich Ausdruck und Folge eines antiwestlichen Weltbildes ist, müsste diskutiert werden. Für den Publizisten Yascha Mounk lässt sich beides kaum noch trennen. In den intersektionalen Diskursen der Postkolonialisten seien Israel und damit die israelischen Juden dem abzulehnenden Westen zuzurechnen und deshalb ebenfalls abzulehnen.10 Postkoloniale Denker werden damit oftmals zu den nützlichen Idioten jener, die Menschenrechte, Demokratie, Freiheit oder Israel abschaffen wollen. Unklar ist, warum sich große Teile der postkolonialen Forschung dem selbstkritischen Diskurs hierüber immer noch verweigern.

Eine selbstkritische Reflexion verdient auch die Tatsache, dass postkoloniales Denken die Grundlagen einer regelbasierten internationalen Ordnung infrage stellt. Wenn anknüpfend an Michel Foucault Aussagen über die Welt nur noch als machtpolitische Sprecherpositionen begriffen werden, gibt es keine objektiven Wahrheiten mehr. Globale Ordnungs- und Regelungssysteme, internationale Organisationen und Regime und letztendlich das Völkerrecht werden so (zumindest in ihren derzeitigen Ausprägungen) zu Konstruktionen einer kolonialen, westlichen Unterdrückungsordnung. Die diesen Systemen zugrunde liegenden menschen- und völkerrechtlichen Prinzipien werden nicht länger als universell gültig, sondern als zeit- und kontextspezifische „eurozentrische“ Perspektiven angesehen.11 Die realpolitischen Folgen dieses Perspektivwechsels sind bereits überall sichtbar: Globale Institutionen und Regelwerke werden unterlaufen, diskreditiert und konterkariert.

 

„Südverbindungen“ statt „Globaler Süden“

Wie aber lassen sich westliche und universelle Werte in Zeiten zunehmender globaler Unübersichtlichkeiten bewahren? Der vieldiskutierte schottische Historiker Niall Ferguson plädiert für eine Neuerfindung und Selbstvergewisserung des Westens.12 Wer das für zu ambitioniert hält, sollte bei den westlichen Schlüsselinstitutionen beginnen. Allen voran die Europäische Union und die NATO, aber auch die G7 und die OECD sind heute notwendiger denn je. Die wichtigste Antwort auf die zunehmende Westkritik liegt in der Stärkung des Westens im Sinne einer institutionellen Weiterentwicklung und Stärkung westlicher Bündnisse sowie Kooperationsstrukturen. Und ebenso wie zu Zeiten der Entspannungspolitik, als die Westbindung durch „Ostverbindungen“ ergänzt wurde, spricht heute vieles für eine Ergänzung der Westbindung durch eine Intensivierung von „Südverbindungen“.

Die Lösung globaler Konflikte und Krisen besteht nicht in einer postkolonialen Umdeutung der Geschichte, sondern in der Stärkung kooperativer Elemente und konkreter Problemlösungen. Postkoloniales Denken wird weder die Konflikte im Nahen Osten oder in der Ukraine beenden noch für globalen Wohlstand sorgen, zu mehr Gleichberechtigung von Frauen führen oder dem Klimawandel entgegenwirken. Hierzu sind Allianzen, Bündnisse und Diplomatie notwendig. Bei der deutschen Außen- und Entwicklungspolitik ist diese Erkenntnis zu wenig präsent. Nach wie vor werden dort postkoloniale Begriffsumdeutungen und Annahmen unbekümmert übernommen. Oder man verkündet, „auf Augenhöhe“ mit Partnern aus Afrika und Asien verhandeln zu wollen, und ahnt nicht die Hybris einer solchen Formulierung. Wenn sich Entwicklungsministerin Svenja Schulze zur „Überwindung struktureller Machtungleichgewichte“13 in den globalen Beziehungen bekennt, wünscht man sich deshalb zumindest ein kritisches Nachdenken darüber, wie solche Äußerungen in China und Russland wahrgenommen werden.
 

Andreas Jacobs, , geboren 1969 in Kleve, Stellv. Leiter der Hauptabteilung Analyse und Beratung, Konrad-Adenauer-Stiftung.


1 Vgl. hierzu Monika Albrecht: „Erinnerungspolitische Transformationen und koloniale Gewalt. Aus der Perspektive der Critical Post-Colonial Studies“, in: Axel Dunker / Michael Hofmann / Serge Yowa (Hrsg.): Postkoloniale Germanistik und Konflikte im globalen Kontext. Möglichkeiten und Ausblicke im 21. Jahrhundert, Berlin/Boston 2023, S. 130–163.
2 Vgl. Vivek Chibber: Postcolonial Theory and the Specter of Capital, London 2013.
3 Vgl. hierzu Ingo Elbe: Antisemitismus und postkoloniale Theorie. Der „progressive“ Angriff auf Israel, Judentum und Holocausterinnerung, Berlin 2024.
4 Für eine aktuelle Kritik an der Postkolonialismus-Kritik vgl. Sebastian Conrad: „Postkolonialismus und Israel. Anklage eines Ansatzes“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.02.2024, S. N3.
5 Vgl. Albrecht, a. a. O., S. 134, siehe En. 1.
6 Vgl. Ian Buruma / Avishai Margalit: Okzidentalismus. Der Westen in den Augen seiner Feinde, München 2005.
7 Vgl. Jens Balzer: „Rettet den Postkolonialismus. Warum es höchste Zeit ist, die linke Denkschule vor ihren eigenen Irrtümern zu schützen“, in: Die Zeit, 08.05.2024, S. 46.
8 „Latent antisemitische Denkmuster”, Interview mit Wolfgang Kraushaar, in: Süddeutsche Zeitung, 16.11.2023, S. 9.
9 Zit. nach BDS-Kampagne: Westliche Mitschuld an Apartheid Israels brutaler Gewalt stärkt palästinensischen Widerstand und internationale Solidarität, http://bds-kampagne.de/westliche-mitschuld-an-apartheid-israels-brutaler-gewalt-verstaerkt-palaestinensischen-widerstand-und-internationale-solidaritaet/ [letzter Zugriff: 17.09.2024].
10 „Zu welcher Gruppe gehörst du?“, Interview mit Yascha Mounk, in: Welt am Sonntag, 28.01.2024, S. 39.
11 Exemplarisch für eine solche Perspektive vgl. Dipesh Chakrabarty: Provincializing Europe, Princeton 2000; Gayarti Chakravorty Spivak: A critique of postcolonial reason, Cambridge 1999.
12 Vgl. Niall Fergusson: Der Westen und der Rest der Welt. Die Geschichte vom Wettstreit der Kulturen, Berlin 2011.
13 Vgl. Rede von Bundesministerin Svenja Schulze zur Eröffnung der Lateinamerika-Karibik-Woche am 27.03.2023, zit. nach „Koloniale Kontinuitäten in der Entwicklungspolitik überwinden“, www.bmz.de/de/themen/postkolonialismus [letzter Zugriff: 17.09.2024].