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Wie sich die deutsche Nation erfand

Vom Zusammenhang von Kultur- und Staatsnation im 19. Jahrhundert

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Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte sich unter den Deutschen das Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit. Die Überwindung territorialer Zersplitterung und die Gründung eines deutschen Nationalstaates erfolgte – im europäischen Vergleich gesehen – erst spät mit der Proklamation des Deutschen Kaiserreiches am 18. Januar 1871. Der politischen Einigung weit voraus ging die Formierung der „Kulturnation“. Hauptträger nationaler Werte und einer nationalen Kultur im 19. Jahrhundert war das Bildungsbürgertum, das sich im Prozess des Übergangs von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft konstituierte.

Sprache und Schriftlichkeit waren die Hauptmedien für die Herausbildung eines deutschen Nationalbewusstseins seit der Frühen Neuzeit. Die Humanisten führten zunächst in Reaktion auf die Entdeckung des Tacitus-Textes De origine et situ Germaniae liber einen Diskurs über die Herkunft, Eigenschaften und Tugenden der natio Germanorum. Hierbei handelte es sich allerdings um nicht mehr als den Disput von Angehörigen eines äußerst überschaubaren Elitezirkels. Erst mit dem Aufstieg des Bildungsbürgertums in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und der Entwicklung einer bürgerlichen Öffentlichkeit entstand ein breiterer gesellschaftlicher Resonanzraum für die Diskussion von Identitätsmerkmalen des Deutschen. Das Bewusstsein, eine Nation zu sein, blieb dabei jedoch – aus heutiger Sicht gesehen – anfangs bemerkenswert unpolitisch.

 

Am Anfang war die Kulturnation

Im Zentrum der nationalen Idee stand die Kultur der Deutschen. Friedrich Schiller, der bis heute als Vordenker der „Kulturnation“ gewürdigt wird, ordnete in seinem auf das Jahr 1797 datierten Gedichtfragment Deutsche Größe die Nation dem Bereich der allgemeinen Sittlichkeit zu: „Deutsches Reich und deutsche Nation sind zweierlei Dinge. Die Majestät der Deutschen ruhte nie auf dem Haupt seiner Fürsten. Abgesondert von dem Politischen hat der Deutsche sich einen eigenen Wert gegründet und wenn auch das Imperium unterginge, so bliebe die deutsche Würde unangefochten. […] Sie ist eine sittliche Größe, sie wohnt in der Kultur und im Charakter der Nation, die von ihren politischen Schicksalen unabhängig ist.“

Politisiert wurde die deutsche Kulturnation erst durch den Widerstand gegen die französische Besetzung während der Befreiungskriege gegen Napoleon (1813–1815). Die patriotische Mobilisierung der Bevölkerung in den territorial zersplitterten deutschen Einzelstaaten gab die Initialzündung für die weitere Verbreitung des nationalen Gedankens.

 

Vorbild Frankreich

Die Nationalbewegung des frühen 19. Jahrhunderts verband erstmals in der deutschen Geschichte die nationale Idee mit der Forderung nach dem politischen Selbstbestimmungsrecht der Deutschen in einem einheitlichen Staat. Vorbilder hierfür waren die Amerikanische und die Französische Revolution. In Artikel III der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der französischen Nationalversammlung vom 26. August 1789 hieß es: „Der Ursprung jeder Souveränität ruht letztlich in der Nation. Keine Körperschaften, kein Individuum können eine Gewalt ausüben, die nicht ausdrücklich von ihr ausgeht.“ Obwohl also die deutsche Nationalbewegung seit ihren Anfängen von starken antifranzösischen Reflexen geprägt war, bezog sie sich in ihren politischen Idealen – der Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und nach individuellen Freiheitsrechten – klar auf das französische Vorbild. Es war Frankreich, von dem aus der moderne Nationalstaat seinen weltweiten Siegeszug antrat. Die Konzentration auf die nationalistischen Exzesse der Deutschen im 20. Jahrhundert verstellte oftmals den Blick auf die gemeinsame Geschichte von nationaler Idee und Demokratie.

 

Produkt gesellschaftlicher Kommunikation

Der Erfolg der Nationalbewegung und ihre Ausweitung zu einem Massenphänomen verdankte sich nicht zuletzt der enormen Verbesserung und Intensivierung der Kommunikationswege in der Zeit nach 1800. Man spricht in diesem Zusammenhang von der „Kommunikationsrevolution des 19. Jahrhunderts“. Gemeint sind damit die Herausbildung eines gemeinsamen deutschen Marktes und die Expansion der Buch- und Zeitschriftenproduktion. Nachgefragt wurden gedruckte Werke vor allem von den Angehörigen des Bürgertums. Lesegesellschaften, die nach 1800 in zahlreichen Städten gegründet wurden, verbanden Lektüre und bürgerliche Geselligkeit. Überhaupt führte gerade die Ausweitung des bürgerlichen Vereinswesens zu einer massenhaften Verbreitung des nationalen Gedankens. Zu denken ist hier beispielsweise an die Männergesangvereine und die von Friedrich Ludwig Jahn geprägte Turnbewegung. Gesang- und Turnvereine bildeten nahezu das Fundament der deutschen Nationalbewegung in den Jahren vor der Revolution 1848. Neben den Vereinen fungierten die Museen, die nun in zahlreichen

Städten als Produkte bürgerlicher Initiativen entstanden, die Theater und die Oper als zentrale Foren der öffentlichen Kommunikation. Die Institutionen stadtbürgerlicher Kultur, die im 19. Jahrhundert entstanden sind, sind noch heute Rückgrat der deutschen Kulturnation. Nation, verstanden als „gesellschaftlich umfassender Kommunikationsprozess“ (Dieter Langewiesche), wurde erst vor dem Hintergrund der Konstituierung einer bürgerlichen Öffentlichkeit möglich.

 

Vergangenheitsbezug der Nationalbewegung

Den Boden für die patriotisch nationale Neuorientierung der Deutschen im 19. Jahrhundert bereitete die Erfahrung des Umbruchs der bislang bestehenden politischen Ordnung durch die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und die territoriale Neuordnung durch die Franzosen.

Veränderungen, wie die Auflösung der Zünfte, die Bauernbefreiung, die Industrialisierung und das rasante Wachstum der Bevölkerungszahlen bedeuteten eine Abkehr von jahrhundertealten Gemeinschaftsbindungen und gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen. Dies war der sozialgeschichtliche Hintergrund dafür, dass die Idee der Nation seit 1800 für weite Teile der Bevölkerung zu einem zentralen Wert avancierte.

 

„Eine Nation ist eine Seele“

Die Attraktivität des nationalen Gedankens in dieser Situation bestand darin, dass er sowohl einen Brückenschlag zur Vergangenheit ermöglichte und somit stabilisierend wirkte als auch Hoffnungen und Erwartungen bündelte, die sich auf eine verbesserte Zukunft richteten. Ernest Renan, ein an der Pariser Sorbonne lehrender Religionswissenschaftler, Orientalist, Schriftsteller und geistiger Vater der modernen Nationalstaatsforschung, beschäftigte sich 1882 in einem Vortrag mit der Frage, was eine Nation ausmacht. Seine Antwort lautete: „Eine Nation ist eine Seele, ein geistiges Prinzip. Zwei Dinge, die in Wahrheit nur eins sind, machen diese Seele, dieses geistige Prinzip aus. Das eine ist der gemeinsame Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen, der andere das gegenwärtige Einvernehmen, der Wunsch, zusammenzuleben, der Wille, das Erbe hochzuhalten, welches man ungeteilt empfangen hat.“

Der Vergangenheitsbezug der nationalen Idee schlug sich in der Zeit nach 1800 in Deutschland zuerst in der ästhetischen Kultur nieder. Das Mittelalter, das bis dahin als dunkle und verworrene Zeit geschmäht worden war, wurde nun als vermeintliche Ära „nationaler Größe“ beschworen. Vor allem Bauwerke und Literatur zeugen hiervon. In der Architektur wurde die Gotik – wie die Kunsthistoriker später herausfanden, eine französische Erfindung – zur „deutschen Bauweise“ stilisiert. Moralische Zuschreibungen, die sich mit ihr verbanden, waren „Gemütstiefe“ und „Innerlichkeit“. Angeblich kündete die Gotik von der besonderen christlichen Gesinnung der Deutschen: Auch deutsche Dichter und Literaten bezogen sich nach 1800 während der so bezeichneten Stilepoche der Romantik bevorzugt auf Motive der Sagen- und Mythenwelt des Mittelalters. Vordergründig stand die Romantik der prosaischen Realität der gesellschaftlichen Verhältnisse diametral entgegen, mit ihrem radikalen ästhetischen Subjektivismus zeugte sie nichtdestotrotz von der Durchsetzung des bürgerlichen Lebensentwurfs. Die Verbindung von Mittelalterbegeisterung und Nationalismus kulminierte schließlich am 4. September 1842 bei der Grundsteinlegung zum Weiterbau des Kölner Doms. Dom und Dombau wurden von den Teilnehmern des Dombaufestes als nationale Symbole gefeiert, die Vollendung des Bauwerkes sollte ein Zeichen für die politische Vereinigung der Deutschen setzen.

Die liberalen Wurzeln der deutschen Nationalbewegung waren bei dieser Gelegenheit längst in den Hintergrund getreten; stattdessen nutzte der preußische König Friedrich Wilhelm IV. den Anlass zur symbolischen Vereinigung von Volk und Monarchie mittels des nationalen Gedankens.

 

Europäische statt nationale Integration

Der Blick in die Geschichte zeigt, dass Nationalstaaten und Nationalismus nicht naturgegeben, sondern historische Phänomene sind. Erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts galt die Idee der Nationalstaaten als Richtschnur für die politische Gestaltung des europäischen Kontinents. Bereits seit dem Ersten Weltkrieg, verstärkt aber erst nach 1945, setzten dann Bemühungen zur Überwindung des nationalen Prinzips in Europa ein. Dem Europa der rivalisierenden Nationalstaaten die Idee des vereinten Europa entgegenzusetzen, hierfür steht in Deutschland an erster Stelle der Name Konrad Adenauers.

Für die Zukunft der europäischen Idee mag es wichtig sein, daran zu erinnern, dass Nationalstaaten, historisch gesehen, jung sind. Der oben bereits zitierte Ernest Renan äußerte in seinem Vortrag „Qu’est ce qu’une nation?“ an der Pariser Sorbonne 1882: „Die Nationen sind nichts Ewiges. Sie haben einmal angefangen, sie werden enden. Die europäische Konföderation wird sie wahrscheinlich ablösen.“ Ein wesentlicher Grund für den anhaltenden Erfolg der Nationsidee besteht darin, dass sie einen Ankerpunkt in der Halt- und Bindungslosigkeit der Moderne darstellt. Ob nationale Zuordnungen künftig von europäischen abgelöst werden, wird nicht zuletzt davon abhängen, welche kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Identifikationsmöglichkeiten und Beteiligungsrechte die Europäische Union für ihre Mitglieder bereithält.

 

Christine Bach, geboren 1970 in St. Ingbert/Saar, wissenschaftliche Referentin, Wissenschaftliche Dienste /Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung.