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Angesichts enormer Flüchtlingszahlen sind die Menschen in Ost und West hin- und hergerissen

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Als Bundesinnenminister Thomas de Maizière am 19. August dieses Jahres der Öffentlichkeit mitteilte, dass die Bundesregierung bis zum Jahresende mit 800.000 Asylbewerbern in Deutschland rechne, waren vermutlich nur wenige Menschen überrascht. Zu offensichtlich sind die Folgen der Einwanderung auch im persönlichen Umfeld vieler Menschen. Die bislang höchste Zahl stammt aus dem Jahr 1992, als rund 430.000 Asylbewerber in Deutschland gezählt wurden, also nur et was mehr als halb so viele wie für das laufende Jahr erwartet werden.

Wie gehen die Deutschen mit dieser Situation um? Die Sorge, dass die anfangs geduldige Haltung der Bevölkerung in Abwehr und Aggression um schlägt, ist berechtigt. Seit Monaten häufen sich die Nachrichten über Brandstiftungen in Häusern, die als Asylbewerberheime hergerichtet werden sollen. Mittlerweile gibt es auch die ersten gewalttätigen Proteste, wie im August im sächsischen Städtchen Heidenau, wo 150 Rechtsextremisten vor einer Notunterkunft Asylbewerber angriffen und Polizisten mit Feuerwerkskörpern und Steinen bewarfen.

Es drängt sich der Vergleich mit der Lage Anfang der 1990erJahre auf. Auch damals hatte die Bevölkerung zunächst positiv reagiert, dann aber doch mit zunehmender Nervosität und Abwehr. Im Herbst 1992 sagten 53 Prozent der Befragten einer Allensbacher Repräsentativumfrage, sie seien sehr besorgt darüber, dass einfach nichts gegen den enormen Anstieg von Asylbewerbern getan werde. 72 Prozent gaben zu Protokoll, sie hätten zwar nichts gegen Ausländer, es gebe aber in Deutschland „einfach zu viele“. Immerhin 38 Prozent erklärten, dass sie sich an einer Unterschriftenaktion gegen ein Wohn heim für Asylbewerber beteiligen würden, wenn ein solcher Bau in ihrer Gemeinde geplant würde, und eine nicht ganz unbeträchtliche Minderheit von etwa einem Viertel der Deutschen zeigte sogar ein gewisses Verständnis für Gewalt gegenüber Ausländern.

Doch die heutige Lage ist anders als vor zwei Jahrzehnten. Die Grundstimmung in der Bevölkerung ist weniger von Unmut als von Ratlosigkeit geprägt – zumindest war dies noch Mitte des Jahres 2015 der Fall, als das Institut für Demoskopie Allensbach mehrere Studien diesem Thema widmete. Einige Trendaktualisierungen aus jüngster Zeit deuten darüber hinaus darauf hin, dass sich daran auch im September 2015 noch nichts Wesentliches geändert hat.

Die Nachrichten über die Flüchtlingsströme im Nahen Osten und vor allem über die Bootsflüchtlinge auf dem Mittelmeer haben die Deutschen tief bewegt. Das lässt sich aus den Antworten auf die Frageschließen, über welche Themen man sich in der letzten Zeit öfter mit anderen Menschen unterhalten habe. Die Interviewer überreichten dazu eine Liste mit siebzehn möglichen Gesprächsthemen zur Auswahl.

Ein besonders wichtiger Punkt auf dieser Liste ist stets das Wetter; da rüber wird immer gesprochen. Damit bietet es einen guten Vergleichsmaß stab: Dinge, die die Menschen stark beschäftigen, erkennt man daran, dass über sie ähnlich häufig gesprochen wird wie über das Wetter, und ebendies ist beim Thema Flüchtlinge der Fall. 64 Prozent der Befragten sagten im Mai 2015, also zu einem Zeitpunkt, als die öffentliche Diskussion noch weniger von der Flüchtlingswelle als von der Griechenland-Krise beherrscht war, sie hätten sich in letzter Zeit öfter über das Wetter unterhalten. An zweiter Stelle in der Rangliste folgen, genannt von 62 Prozent, die Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer. Das Thema stand damit noch vor den „klassischen“ Gesprächsinhalten Familie, Gesundheit und Urlaub.

 

Gesprächsthemen

Die Flucht nach Deutschland beschäftigte die Menschen damals zwar noch etwas weniger als das Schicksal der Bootsflüchtlinge, doch immerhin 53 Prozent sagten, sie hätten sich in letzter Zeit öfter darüber unterhalten. Damit lag dieser Punkt noch vor der Lage in Griechenland und dem Ukraine-Konflikt. In der Zwischenzeit hat das Thema für die Deutschen an Brisanz gewonnen. Auf die Frage „Glauben Sie, dass Deutschland in der Lage ist, noch mehr Flüchtlinge aufzunehmen“, reagierten die Deutschen noch im Mai dieses Jahres gespalten: 31 Prozent meinten, das Land sei dazu in der Lage , fast ebenso viele, 35 Prozent, waren der Ansicht, das sei nicht möglich. Im August 2015 war dagegen eine relative Mehrheit von 45 zu 32 Prozent der Meinung, Deutschland könne keine weiteren Flüchtlinge aufnehmen.

Zumindest im späten Frühjahr waren die Antworten der Deutschen auf die Frage, wie man angesichts der vielen Flüchtlinge reagieren sollte, erkennbar mehr von der Suche nach pragmatischen humanitären Lösungen gekennzeichnet als von dem Bestreben, die nach Europa hereindrängenden Menschen um jeden Preis aus Deutschland fernzuhalten. So stimmte im Mai eine große Mehrheit von 81 Prozent dem Vorschlag zu, die Schlepperbanden stärker zu bekämpfen, 69 Prozent sprachen sich dafür aus, in den Herkunftsländern der Flüchtlinge mehr Entwicklungshilfe zu leisten, 66 Prozent sagten, die europäischen Länder sollten mehr Schiffe im Mittelmeer einsetzen, um weitere Flüchtlingskatastrophen zu verhindern. Den Vorschlag, Flüchtlinge nach einer festen Quote auf die Mitgliedsländer der Europäischen Union zu verteilen, befürworteten 62 Prozent.

55 Prozent sprachen sich für eine Verbesserung der Zustände in den Auffanglagern aus, und auch der unkonventionelle Vorschlag, Flüchtlingen in Deutschland ein Aufenthaltsrecht auf Probe zu gewähren, fand die Zustimmung einer Mehrheit von 53 Prozent. Dass Deutschland in erster Linie die Flüchtlinge aufnehmen sollte, die auf dem Arbeitsmarkt gebraucht werden, meinte dagegen lediglich eine Minderheit von 25 Prozent. Der radikalen Forderung, die Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa abzufangen und zurück zuschicken, schlossen sich nur 17 Prozent an.

Ebenso unpopulär waren allerdings auch Vorschläge, die Einwanderung zu erleichtern. Gerade 20 Prozent fanden, man sollte es Asylbewerbern leichter machen, in Deutschland aufgenommen zu werden. Dass man unter schiedslos alle Flüchtlinge in Europa aufnehmen und ihnen dauerhaftes Aufenthaltsrecht gewähren sollte, meinten nur sieben Prozent der Deutschen. Anders als man angesichts der öffentlichen Diskussion annehmen könnte, unterscheiden sich dabei die Antworten der Ost und Westdeutschen nur wenig voneinander. Zwar sprachen sich die Bürger in den neuen Bundesländern etwas häufiger als die Westdeutschen für eine Abwehr der Einwanderung aus, doch der Abstand betrug bei den meisten Listenpunkten nur wenige Prozent. Das Antwortmuster war in beiden Landesteilen nahezu gleich.

Erfragt man die Einstellung der Bevölkerung gegenüber den Flüchtlingen in Deutschland etwas detaillierter, erkennt man, dass sich die Menschen durchaus erhebliche Sorgen wegen der Auswirkungen der Einwanderung machen. So sagten im Mai 65 Prozent der vom Allensbacher Institut befragten Personen, sie fürchteten, dass Europa dem Flüchtlingsandrang nicht mehr gewachsen sei, wenn es so weitergehe. Fast ebenso viele, 63 Prozent, nahmen an, dass durch die vielen Flüchtlinge die Ausländerfeindlichkeit in Deutschland zunehme. 51 Prozent stimmten der Aussage zu: „Viele Flüchtlinge nutzen unser Sozialsystem aus“, und 50 Prozent machen sich Sorgen, dass viele Flüchtlinge die Konflikte aus ihrer Heimat in Deutschland austragen.

Diesen Sorgen stand eine ganze Reihe positiver Aspekte gegenüber, die von nicht viel weniger Befragten genannt wurden. So stimmten 53 Prozent der Aussage zu, die Tatsache, dass so viele Flüchtlinge nach Deutschland wollten, zeige doch, dass Deutschland attraktiv sei; 49 Prozent betonten, ihnen gehe die schlimme Situation der Flüchtlinge nahe. Ebenso viele glaubten, dass die meisten Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, auch gerne hier arbeiten möchten. Stark negative Klischees, wie die Annahme, dass Flüchtlinge besonders oft Straftaten begingen, die deutsche Kultur bedrohten oder Deutschen die Arbeitsplätze wegnähmen, wurden nur von vergleichsweise kleinen Minderheiten vertreten.

Hier allerdings fielen die Unterschiede zwischen den alten und neuen Bundesländern deutlicher aus. So glaubten nur 25 Prozent der Westdeutschen, aber 39 Prozent der Ostdeutschen, dass Flüchtlinge oft Straftaten begingen. Das Meinungsklima gegenüber Flüchtlingen ist im Osten merklich unfreundlicher als im Westen, doch auch hier ist es nur eine Minderheit von etwa einem Fünftel der Bevölkerung, die sich scharf ablehnend äußert.

 

Das Bild der Flüchtlinge

Man bekommt den Eindruck, dass die Deutschen angesichts der Herausforderung durch die Flüchtlingsbewegung hin und hergerissen sind. Sie möchten den Betreffenden helfen, sind auch überwiegend bereit, ihnen gute Absichten zu unterstellen, doch gleichzeitig regt sich ein erhebliches Unbehagen, das letztlich zu einer gewissen Unschlüssigkeit führt. Eine Frage lautete: „Sollte Deutschland bereit sein, so viele Flüchtlinge aufzunehmen, wie man hier unterbringen und versorgen kann, oder sollte Deutschland eher versuchen, möglichst wenig Flüchtlinge aufzunehmen?“ 31 Prozent sprachen sich bei dieser Frage dafür aus, möglichst viele Flüchtlinge aufzunehmen, 33 Pro zent meinten „Möglichst wenige“, 36 Prozent waren unentschieden.

 

Meinungsbildung ist noch nicht abgeschlossen

In der Demoskopie ist dieses Antwortverhalten gut bekannt: Wenn sich bei einer Frage mit zwei Antwortmöglichkeiten rund ein Drittel der Befragten für die eine, das zweite Drittel für die andere Möglichkeit und das letzte Drittel für die Antwort „Unentschieden“ entscheidet, ist das ein in aller Regel sicheres Zeichen für verbreitete Orientierungslosigkeit. Der Prozess der Meinungsbildung zu diesem Thema ist noch lange nicht abgeschlossen.

Festzuhalten ist in jedem Fall, dass der aggressive Unterton, der sich aus vielen Antworten der Jahre 1992 und 1993 herauslesen ließ, im Westen kaum noch, im Osten immerhin weniger spürbar ist als damals. Stattdessen scheint die Bereitschaft, auf die Flüchtlinge zuzugehen und sich auch öffentlich für sie einzusetzen, zuzunehmen. Im Juni 2014 stellte das Allensbacher Institut die folgende Frage: „Einmal angenommen, hier in der Gemeinde soll ein Wohnheim für Asylbewerber entstehen. Nach Protesten gegen das Wohn heim gibt es auch eine Bürgerinitiative, die sich gegen diese Proteste wendet und den Bau des Wohnheimes befürwortet. Würden Sie eine solche Bürger initiative, die sich für den Bau des Asylbewerberwohnheims einsetzt, mit ihrer Unterschrift unterstützen, oder würden Sie das nicht tun?“ Damals sagten 24 Prozent der Befragten, sie würden eine solche Initiative unterstützen, ein Jahr später waren es 31 Prozent, seitdem ist der Wert noch um einige weitere Prozentpunkte angestiegen.

Alles in allem kann man in diesen Zahlen durchaus beachtliche Ansätze der in der öffentlichen Diskussion oft geforderten „Willkommenskultur“ in Deutschland erkennen. Es ist jedenfalls sehr bemerkenswert, wenn wach sende Teile der Bevölkerung trotz ihrer offensichtlich großen Ängste und Bedenken bereit sind, die ins Land kommenden Menschen in ihrem persönlichen Umfeld zu akzeptieren.

Thomas Petersen, geboren 1968 in Hamburg, Projektleiter am Institut für Demoskopie Allensbach.

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