Bereits vor mehr als hundert Jahren hat der amerikanische Soziologe William G. Sumner einen Begriff geprägt, der bis heute einen der wichtigsten Beiträge zur Frage der Herausbildung ethnischer „Wir“-Gruppen darstellt. Bei der vergleichenden Untersuchung einiger der damals als „primitiv“ bezeichneten Gesellschaften war er auf ein weltweit verbreitetes Phänomen gestoßen: den Ethnozentrismus. Die Angehörigen dieser kulturell wie sprachlich außerordentlich homogenen und wenig binnendifferenzierten Face-to-Face-Gesellschaften betrachteten ihr eigenes Territorium als Mitte der Welt. Die Schöpfergottheit selbst hatte es für sie geschaffen. Sie waren überzeugt davon, dass ihre Art zu leben die einzig richtige sei. Für die abartigen Sitten und Gebräuche ihrer Nachbarn hatten sie nur Verachtung übrig.
Die ethnozentrische Grundhaltung findet sich nicht nur bei den vermeintlich Primitiven. Vielmehr muss der Begriff „Primitive“ selbst als Ausdruck der Tendenz angesehen werden, Menschen mit Geringschätzung zu behandeln, deren Lebensgewohnheiten sich allzu sehr von den unseren unterscheiden. Der Ethnozentrismus stellt eine Art anthropologische Universalie dar. Stammesgesellschaften ist er ebenso wenig fremd wie großen Nationen. Haben sie sich nicht auch in Europa gern nach ihren jeweils so abwegig anmutenden Essgewohnheiten benannt, wenn sie sich gegenseitig als „Spaghettifresser“, als „frogs“ oder als „krauts“ bezeichneten?
Die mit dem Eurozentrismus verbundenen abwertenden Urteile hängen eng mit der Abgrenzung zwischen „Wir“ und den „anderen“ zusammen. Bemerkenswert ist dabei, wie flexibel die Grenzen sind. Die „Wir“ Gruppe kann ein paar Dutzend nomadisierende Jäger und Sammler umfassen, die untereinander verwandt sind und dieselbe Sprache sprechen. Sie kann aber auch aus vielen Millionen Menschen bestehen, die sich allein für „zivilisiert“ halten und sich ihren „barbarischen“ Nachbarvölkern überlegen dünken. Denn im Prinzip ist auch der Nationalismus nichts anderes als eine Spielart des Ethnozentrismus. Doch woher rührt das Gemeinschaftsgefühl, das sich so gern in der Verachtung der anderen Ausdruck verschafft?
Glaube an die „Blutsverwandtschaft“
Früher war man der Ansicht, dass dieses Gefühl wesentlich auf gemeinsamer Abstammung und Sprache, dem Zusammenleben in derselben eng umgrenzten Region, gemeinsamen Glaubensüberzeugungen und kulturellen Traditionen beruht. Diese Auffassung wird heute aber als essenzialistisch zurückgewiesen. Schon Max Weber hat darauf aufmerksam gemacht, dass das „Wir Bewusstsein“ keineswegs an eine tatsächliche gemeinsame Herkunft gebunden ist. Es sei vielmehr umgekehrt das Zusammengehörigkeitsgefühl, das den Glauben an eine solche „Blutsverwandtschaft“ mitsamt seinen wichtigen Folgen für die politische Gemeinschaftsbildung oft erst erzeugt.1 Heute gibt man daher einem konstruktivistischen Ethnizitätsbegriff den Vorzug, der ethnische Einheiten im Wesentlichen als „imaginierte Gemeinschaften“ (Benedict Anderson) ansieht.
Als wegweisend für die Entwicklung dieses Begriffs gilt das Werk des norwegischen Ethnologen Fredrik Barth, der seit den 1950er-Jahren im afghanisch pakistanischen Grenzgebiet forschte.2 Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht der Begriff der ethnischen Grenze. Barth wies mit Nachdruck darauf hin, dass die Selbstdefinition einer ethnischen Gruppe stets in einem Prozess der Abgrenzung erfolgt. Zur Herausbildung des ethnischen „Wir-Bewusstseins“ bedarf es notwendig der Interaktion und Friktion mit einer anderen sozialen Gruppe. Welche Züge als differierende Merkmale angesehen werden, hängt dabei von der jeweils besonderen Situation ab. Bei seinen Feldstudien hatte Barth so zum Beispiel beobachten können, dass zwischen den benachbarten Stammesgruppen der Paschtunen und Belutschen gewaltsam ausgetragene Streitigkeiten zwar an der Tagesordnung waren, die beiden Gruppen sich aber gegenseitig unterstützten, sobald es zu einem bewaffneten Konflikt mit einer entfernteren dritten Gruppe kam. Das Solidaritätsfeld erweiterte sich beträchtlich, wenn es sich bei den Mitgliedern der fremden Stammesgruppe um Anhänger der Schia handelte. In einem solchen Fall betrachteten sich alle sunnitischen Afghanen als deren erklärte Gegner. Ethnische Einheiten formieren sich mithin immer in Opposition zu anderen, ähnlich strukturierten Gruppen. Dabei gilt: „Über Zugehörigkeit und Solidarität entscheidet immer das jeweilige Gegenüber.“3
Alte und neue Solidaritätslinien
Doch wir müssten uns gar nicht erst ins ferne Afghanistan begeben, um solche Vorgänge näher zu untersuchen. Auch für die neuere europäische Geschichte sind sie vielfach belegt. Bismarck brach einen Krieg gegen Frankreich vom Zaun, um das deutsche Volk „in seinen Stämmen“ (wie es noch in der Weimarer Reichsverfassung hieß) zu vereinen. Kaiser Wilhelm II. versuchte sich desselben simplen Mechanismus zu bedienen, als er wenige Wochen vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs erklärte: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.“ In der politischen Propaganda der Nationalsozialisten sollten solche Appelle an das Gemeinschaftsgefühl schließlich zu festen Wendungen werden. Den Zweiten Weltkrieg konnten sie auf diese Weise als unvermeidliche Reaktion auf eine von allen Seiten kommende Bedrohung erscheinen lassen.
Nach der erfolgten Aussöhnung mit den Kriegsgegnern im Westen wurden dann allerdings auch die Zugehörigkeits- und Solidaritätslinien neu definiert. Sie verliefen nun zwischen dem kommunistischen Ostblock und der politisch militärischen Allianz, zu der sich die USA mit den europäischen Staaten des freien Westens zusammengetan hatten. Als die alte Sowjetunion zusammenbrach, ein osteuropäischer Staat nach dem anderen das Joch der Fremdherrschaft abschüttelte und die Europäische Gemeinschaft sich von einem wirtschaftlichen Zweckverband in einen politischen Staatenbund verwandelte, formierten sich die Grenzen nochmals neu. Die EU blieb zwar weiterhin ein Teil des Westens, doch begannen die wechselseitigen Zugehörigkeitsgefühle der einzelnen Mitglieder der Union nun stärker zu werden als die seit Jahrzehnten gepflegten Beziehungen zu den USA. Die alte Einheit des Westens, die sich der Frontstellung gegenüber dem kommunistischen Osten verdankt hatte, drohte zu zerbröckeln.
War es ein Zufall, dass in genau dieser historischen Situation der radikale Islamismus die Rolle des feindlichen Gegenübers übernahm, dessen es Fredrik Barth zufolge für die Herausbildung des ethnischen Identitätsbewusstseins immer bedarf? Hätte er dies nicht freiwillig getan, so hätte man ihn wohl eigens erfinden müssen. Im Islamismus kann der nach wie vor durch christliche Werte geprägte Westen sein identitäts- und gemeinschaftsstiftendes Band finden. Mit der Erneuerung des alten Gegensatzes zwischen Orient und Okzident leben auch alte Stereotypen wieder auf, die man in Europa seit der Aufklärung mit der muslimischen Lebenswelt verband: politischer Despotismus, Unterdrückung der Frau, religiöser Fanatismus, drakonische Körperstrafen und vieles mehr. Zugleich formieren sich rechtsradikale Gruppierungen, die sich der Verteidigung des christlichen Europa gegen den Islam verschrieben haben.
Bemerkenswert an dieser jüngsten Entwicklung ist nun allerdings, dass sich heute in den Niederlanden, in Frankreich und nahezu allen osteuropäischen Staaten eine von populistischen Parteien getragene islamfeindliche Stimmung ausgebreitet hat, von der sich bisher in Deutschland nur eine kleine Minderheit hat anstecken lassen. Man hat sich zwar von der Illusion einer multikulturellen Gesellschaft inzwischen gelöst, aber es bleibt doch umso erstaunlicher, dass bei uns eine „Willkommenskultur“ von Bürgern aller Schichten getragen wird. Sofern sie ihr Gegenüber im religiös motivierten Terrorismus des „Islamischen Staates“ suchen, sind die Deutschen sicher auch nicht frei von ethnozentrischen Stereotypen. Doch differenziert man bei uns inzwischen sorgfältig zwischen den radikal islamistischen Tätern und ihren muslimischen Opfern: Menschen, denen wir unsere Unterstützung nicht versagen dürfen.
Eigene Erfahrungen und Willkommenskultur
Zum Verständnis dieses Vorgangs muss man sich vergegenwärtigen, dass es in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg zu der größten Bevölkerungsverschiebung gekommen war, die Europa je gesehen hat. Auf die Millionen von Vertriebenen, die aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten in den Westen geflohen waren, folgte der Exodus aus der DDR. Nachdem der Bau der Mauer diese Entwicklung gestoppt hatte, ergab sich ein erneuter Zuzug, denn der stetig zunehmende Bedarf an Arbeitskräften musste durch Anwerbungen im Ausland gedeckt werden. Den Gastarbeitern aus dem Süden folgten bald schon ihre Familien nach: Gäste, die blieben. Bereits im Vorfeld des Zusammenbruchs der Sowjetunion kam es wiederum zur großen Aussiedlerwellen aus dem Osten. Wahrscheinlich gibt es im Gebiet der früheren Bundesrepublik nur wenige Familien, die keine Erzählungen von näheren oder entfernteren Verwandten vorweisen können, die entweder als Flüchtlinge, als Arbeitsmigranten oder als Aussiedler ins Land kamen.
Einen weiteren und nicht weniger wichtigen Faktor stellt die radikale Abkehr von allen rassistischen und menschenfeindlichen Ideologien dar, zu der die systematische Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit bei der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten geführt hat. Wer in den 1960er-Jahren groß geworden ist, wird sich noch gut daran erinnern, wie man sich auf den ersten Auslandsreisen der Herkunft aus dem verfemten Land schämte. Die lange verschwiegenen Untaten des eigenen Volks wurden den Angehörigen der ersten Nachkriegsgeneration erst durch die Auschwitzprozesse bewusst. Für viele wirkten sie wie ein Schock. Während sie sich von allem distanzierten, was auch nur entfernt an „Deutschtum“ erinnerte, nahmen sie begierig auf, was aus England, Frankreich und den USA nach Deutschland kam. Als Angehörige dieser Generation in der ersten rot grünen Koalition politische Schlüsselpositionen übernahmen, erschien ihnen die Utopie einer multikulturellen Gesellschaft als ein Allheilmittel gegen das, was man damals als alte deutsche Übel ansah: Autoritätshörigkeit und Untertanengeist, aber auch die spöttisch als „preußisch“ bezeichneten Sekundärtugenden. Der Ablehnung des Eigenen entsprach die Zuwendung zum Fremden. Alles wollte man sein, nur nicht deutsch.
Bewährungsprobe der Toleranz
Seither haben sich die Einstellungen zwar erneut gewandelt. Wenn schon nicht auf Deutschland selbst, so glaubt man doch stolz darauf sein zu können, dass wir heute in einer toleranten und humanitären Idealen verpflichteten Gesellschaft leben. Die eigentliche Bewährungsprobe stand aber bisher noch aus. Der Flüchtlingsstrom gibt Deutschland heute die Gelegenheit, der Welt zu zeigen, wie grundlegend es sich seit dem Ende der Nazi Herrschaft geändert hat.
Auf diese Weise ist ein in der Geschichte transkultureller Beziehungen einmaliges Phänomen entstanden: Während in vielen Ländern Europas eine „Das-Boot-ist-voll-Mentalität“ um sich greift und alte Ressentiments wieder erwachen, lässt sich in Deutschland beobachten, wie der klassische Ethnozentrismus sich in sein Gegenteil verkehrt. An die Stelle der Abgrenzung tritt die Anerkennung. Vielleicht hat man den Ethnozentrismus zu früh zur Universalie erklärt. Zumindest bei uns greift heute die Erkenntnis um sich, dass wir auch immer die anderen und die anderen auch immer wir sind.
Karl-Heinz Kohl, geboren 1948 in Fürth, Professor emeritus für Kultur- und Völkerkunde und Direktor des Frobenius-Instituts an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
1 Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., Tübingen 1976, S. 237 (219).
2 Vgl. Barth, Fredrik (Hrsg.): Ethnic Groups and Boundaries: The Social Organization of Culture Difference, Bergen/Oslo 1969.
3 Streck, Bernhard: „Die Stiftung von Gruppenidentität als ethnologisches Problem“, in: Sociologus 42,2 (1992), S. 101.