Es gibt viele gute Gründe, in Deutschland im Jahr 2024 pessimistisch zu sein: Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat bei vielen Menschen Kriegsängste ausgelöst, die lange überwunden schienen. Hinzu kommt, dass die Wirtschaftslage in Deutschland so schlecht ist wie in keinem anderen entwickelten Land. Ein entfesselter Verwaltungsapparat vertreibt Unternehmer und Investoren. Ein Bekannter sagte mir kürzlich, es sei ähnlich wie bei König Midas: Was immer die Politik in Deutschland anfasse, verwandele sich in Bürokratie. Beispiele seien das Lieferkettengesetz und, ganz aktuell, das Tariftreuegesetz. Er ist Jurist und sitzt in den Aufsichtsräten mehrerer mittelständischer Unternehmen. Sein Rat an diese Unternehmen ist derzeit: Weg hier! Rette sich wer kann, raus aus dem Land, so schnell es irgend geht! Eine solche Stimmung in der Wirtschaft bleibt auch von den Bürgern nicht unbemerkt. Auf die Frage „Glauben Sie, dass es mit unserer Wirtschaft in den nächsten zwölf Monaten bergauf oder bergab geht?“ antworteten in einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach vom Juli 2024 lediglich dreizehn Prozent der Befragten, ihrer Meinung nach werde es mit der Wirtschaft bergauf gehen. Eine klare relative Mehrheit von 39 Prozent antwortete, es werde mit der Wirtschaft bergab gehen. Die Deutschen haben jedoch eine noch tiefere Beziehung zum Pessimismus, die sich nicht allein mit den Sorgen angesichts der aktuellen Probleme im Land erklären lässt. Seit vielen Jahrzehnten ist die Überzeugung weit verbreitet, die Bildung, die guten Sitten, die öffentliche Moral, gleich das ganze Land oder gar die ganze Welt seien im Niedergang begriffen. Besonders sorge die moderne Zivilisation dafür, dass die Menschen abstumpften und ihren Sinn für das Schöne, Edle, Erhabene verlören. Es ist eine selbstzweiflerische, gleichzeitig aber auch hochmütige Attitüde, denn derjenige, der eine solche Position einnimmt, stellt sich auch über andere: Die Menschen würden immer dümmer und sittenloser; man selbst sei davon natürlich nicht betroffen, beobachte und beklage dies jedoch.
Pessimismus mit ausgeprägter Technikskepsis
Solche kulturpessimistischen Denkmuster ziehen sich durch die ganze Geschichte. Sie finden sich ebenso in den Theorien der marxistisch geprägten Linken wie bei bürgerlichen Philosophen. Sie durchziehen die Ökologiebewegung und die aktuellen rechtspopulistischen Bewegungen („Deutschland schafft sich ab“). Oftmals geht eine kulturpessimistische Haltung mit ausgeprägter Technikskepsis einher. Die Klage über eine „naive Technikgläubigkeit“ ist fester Bestandteil der intellektuellen Gesellschaftskritik. Auf manchen Gebieten droht sogar die gesellschaftliche Isolation, wenn man nicht eine pessimistische Perspektive einnimmt. Anfang 2020 schrieb der Wissenschaftsjournalist David Böcking im Spiegel mit Blick auf eine Rede des damaligen amerikanischen Präsidenten beim Wirtschaftsgipfel in Davos unter Verweis auf den Klimawandel von „perversem Optimismus“.1
Es wird häufig angenommen, dass eine kulturpessimistische Grundhaltung ein besonderes Merkmal der deutschen Gesellschaft sei. Der Historiker Fritz Stern hat aus gutem Grund darauf hingewiesen, dass es in den 1920er- und 1930er-Jahren in vielen Ländern verbreitetes Unbehagen an den demokratischen Institutionen gegeben habe; allerdings sei in Deutschland anders als in Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten die Kritik an den politischen Zuständen in eine fundamentale Ablehnung des freiheitlichen Systems umgeschlagen. Stern machte die kulturpessimistische Attitüde vieler Deutscher als Ursache für diese Entwicklung mitverantwortlich.2
Nun ist es theoretisch möglich, dass sich die Gesellschaft tatsächlich seit Jahrzehnten im Niedergang befindet und Wissen, geistige Leistungsfähigkeit und kulturelle Leistungen abnehmen. Der Gedanke ist nicht so abwegig, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Allein die Alterung der Gesellschaft als Folge der seit Jahrzehnten niedrigen Geburtenraten könnte sich in diesem Abstieg niederschlagen. Auch die massiven Veränderungen im Mediennutzungsverhalten, die weiter wachsende Dominanz audiovisueller Medien zulasten des Lesens von Zeitungen, Zeitschriften und Büchern könnten ein erheblicher Faktor sein.
Fortschrittsoptimismus und gesellschaftliche Moden
Alles in allem deuten die Umfrageergebnisse des Instituts für Demoskopie Allensbach jedoch nicht auf einen langfristigen kulturellen oder intellektuellen Substanzverlust hin. Bei – zugegebenermaßen punktuellen – Wissenstests zeigen sich seit Jahrzehnten gleichbleibende Leistungen. Auf die Frage „Hat Luther vor dem Dreißigjährigen Krieg gelebt oder nach dem Dreißigjährigen Krieg?“ gaben im Dezember 1957 54 Prozent der Befragten die richtige Antwort, im Juli 2019 waren es ebenfalls 54 Prozent. Die Metamorphose eines Schmetterlings – Ei, Raupe, Puppe, Schmetterling – konnten im August 2017 sogar deutlich mehr Befragte (52 Prozent) vollständig beschreiben als im Juli 1998 (38 Prozent). Die kleine Rechenaufgabe „1/2 + 5/10“ lösten im Dezember 1957 74 Prozent der Befragten korrekt, im Juli 2019 waren es 78 Prozent.
So sind kulturpessimistische Tendenzen in der Gesellschaft bis auf Weiteres kaum mit Hinweisen auf einen realen Niedergang zu begründen. Als mögliche andere Ursachen kommen Zeitgeistphänomene in Betracht, gleichsam Modewellen des Kulturpessimismus, sowie eine Art „anthropologische Konstante“, wonach Menschen allgemein dazu neigen, die Vergangenheit zu verklären; eine Orientierung an der Vergangenheit, in der man angesichts einer ungewissen Zukunft Halt sucht. Tatsächlich lassen sich in den Allensbacher Umfragen Hinweise auf beide Ursachen finden.
Dass die Tendenz zu kulturpessimistischen Ansichten zum Teil von gesellschaftlichen Moden abhängig ist, wird erkennbar an den Antworten auf die Frage „Glauben Sie an den Fortschritt, ich meine, dass die Menschheit einer immer besseren Zukunft entgegengeht, oder glauben Sie das nicht?“. Im Jahr 1967, als diese Frage zum ersten Mal gestellt wurde, sagten 56 Prozent, dass sie an den Fortschritt glaubten, fünf Jahre später waren es sogar noch vier Prozent mehr. Danach aber änderten sich die Antworten drastisch: Bereits 1977 war der Anteil derer, die diese Antwort gaben, auf 39 Prozent gesunken, in den frühen 1980er-Jahren sank der Wert auf ein Drittel der Bevölkerung. 1983 sagte eine relative Mehrheit von 47 Prozent, sie glaube nicht an den Fortschritt. Nach der Jahrtausendwende nahm der Fortschrittsoptimismus wieder etwas zu, um in jüngster Zeit wiederum zurückzufallen (Grafik 1).