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Über eine Studie zu rechtsextremistischen Einstellungen in der Mitte

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Die enthemmte Mitte1 lautet der Titel einer Studie einer Arbeitsgruppe um Elmar Brähler und Oliver Decker an der Universität Leipzig, die im Juni 2016 vorgestellt wurde. In der Presse griff teilweise Alarmstimmung um sich, wie schon früher bei ähnlichen Gelegenheiten war von Deutschlands „hässlicher Fratze“ die Rede, und überhaupt vermittelte sich der Eindruck, Deutschland sei voller Rechtsextremer.2 Kaum ein Autor hielt es allerdings für nötig, nach der methodischen Belastbarkeit der Studienergebnisse zu fragen. Dabei findet seit der ersten sogenannten Mitte-Studie3 Vom Rand zur Mitte (2006) eine ausgiebige kritische Auseinandersetzung über die Belastbarkeit der Studie in der wissenschaftlichen Community statt.4 Unter anderem wird der Fragebogen skeptisch betrachtet, auch die Interpretation der Ergebnisse gab Anlass zu Kritik, vor allem aber fehlt ein verlässlicher Maßstab, um festzustellen, ab wann von einem geschlossenen rechtsextremen Weltbild gesprochen werden kann.

Die Entwicklung des Fragebogens ist stets der wichtigste, aber auch der schwierigste Teil jeder Umfrage. Dabei stehen die Forscher bei Langzeitstudien vor der Abwägung, ob sie auf sich jeweils wiederholende und damit einheitliche Frageformulierungen zurückgreifen oder eine Anpassung der Fragen an die aktuellen Entwicklungen vornehmen. Die Autoren der alle zwei Jahre durchgeführten „Mitte-Studien“ haben sich dafür entschieden, seit 2006 dieselben Frageformulierungen zur Messung rechtsextremistischer Einstellungen zu verwenden. Bei einigen ihrer Items tritt damit die Schwierigkeit auf, dass nicht als sicher gelten kann, ob sie tatsächlich (noch) das messen, was sie messen sollen. Das trifft etwa auf den Fragenkomplex zum „Chauvinismus“ zu. Beispielsweise kann ein „Ja“ zur Aussage Wir sollten endlich wieder Mut zu einem starken Nationalgefühl haben wohl spätestens seit der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland kaum als ein klares Indiz für einen „nach außen gerichteten, aggressiven Nationalismus“ gelten, wie die Autoren behaupten.5 Auch die beiden anderen Aussagen dieser Begriffsdimension – Was unser Land heute braucht, ist ein hartes und energisches Durchsetzen deutscher Interessen gegenüber dem Ausland. Das oberste Ziel deutscher Politik sollte es sein, Deutschland die Macht und Geltung zu verschaffen, die ihm zusteht. – verweisen in Zeiten einer starken Rolle Deutschlands beispielsweise bei der europäischen Finanz- und Flüchtlingskrise nicht zwingend auf einen Hang zum Nationalismus/Chauvinismus.

 

Wird gemessen, was gemessen werden soll?

Bei der Ermittlung von Einstellungen zu „Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ wird unter anderem folgende Aussage zugrunde gelegt: Bei der Prüfung von Asylanträgen sollte der Staat nicht großzügig sein. Derjenige, der dieser Aussage zustimmt, muss aber nicht zwingend feindlich gegenüber Asylbewerbern eingestellt sein. Er könnte ja genauso der Meinung sein, dass der Staat weder großzügig noch streng, sondern schlicht nach Recht und Gesetz Asylanträge zu prüfen habe.

Ähnliche Probleme treten bei den weiteren Fragenkomplexen zum Rechtsextremismus und Autoritarismus, zur Gewaltbereitschaft sowie zum Sexismus auf. Ist es unbedingt ein Anzeichen von autoritärer Unterwürfigkeit, wenn ein Befragter der Aussage Menschen sollten wichtige Entscheidungen in der Gesellschaft Führungspersönlichkeiten überlassen zustimmt? Schließlich werden wichtige gesellschaftliche Entscheidungen auch in der Demokratie an durch Wahlen legitimierte Führungspersonen übertragen. Sind es belastbare Kriterien für Sexismus, wenn ein Befragter nicht der Auffassung ist, dass die jetzige Beschäftigungspolitik […] die Frauen benachteilige, oder wenn er die Aussage Die Diskriminierung von Frauen ist in Deutschland immer noch ein Problem ablehnt? Immer wieder fragt man sich bei der Studie: Wird gemessen, was die Autoren zu messen beabsichtigen? Aber nicht nur das: Auch die Interpretation der Messergebnisse erscheint fragwürdig.

Bei den meisten Dimensionen des Rechtsextremismus liegen die Zustimmungswerte im einstelligen Prozentbereich: Fünf Prozent oder weniger bei den Dimensionen „Befürwortung einer Diktatur“, „Antisemitismus“, „Sozialdarwinismus“ und „Verharmlosung des Nationalsozialismus“. Insgesamt kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass 5,4 Prozent der Befragten ein „geschlossenes rechtsextremes Weltbild“ aufweisen. Doch fraglich ist, ob darin ein derart beunruhigender Tatbestand zu sehen sei, wie die Autoren meinen. Umgekehrt bedeuten die Ergebnisse doch auch, dass über 95 Prozent der Befragten gegenteilige Einstellungen besitzen. Ein weit höherer Zustimmungsanteil von 16,7 Prozent wird beim Thema „Chauvinismus“ ermittelt, was angesichts der Unschärfe der Fragen nicht übermäßig überrascht. Ähnliches gilt für das Thema „Ausländerfeindlichkeit“ bei einem Wert von 20,4 Prozent.

Vergleicht man die Ergebnisse der Langzeitstudie, so ergibt sich, dass die Daten insgesamt im Zeitraum der letzten zehn Jahre eher einen Rückgang oder keine Veränderung von rechtsextremistischen Einstellungen verzeichnen. Bei fast allen Dimensionen gibt es nur kleinere Schwankungen im Zeitverlauf, die unter fünf Prozentpunkten liegen. Größere Veränderungen sind die Ausnahme.

 

Alarmismus und echte Sorge

Anders, als es der Titel der aktuellen Studie Die enthemmte Mitte erwarten lässt, wird nicht explizit ausgewiesen, wie verbreitet denn nun rechtsextreme Einstellungen in der Mittelschicht tatsächlich sind. Die Daten einer früheren „Mitte-Studie“ zeigen jedoch, dass die Mittelschicht nicht überdurchschnittlich anfällig ist, stattdessen allerdings die unteren Schichten verstärkt rechtsextreme Einstellungen aufweisen.6

Die Festlegung des Grenzwertes für ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild wurde in der Vergangenheit häufig kritisiert. Generell wird in der Forschung diskutiert, welcher Grenzwert geeignet ist, da die Angabe des Anteils von Rechtsextremisten maßgeblich davon abhängt, ab wann ein Befragter als rechtsextremistisch gilt: Wie vielen Aussagen und wie stark muss man zustimmen, um ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild zu haben?

In der aktuellen Studie reicht die Antwortskala bei achtzehn Einzelaussagen von 1 („lehne völlig ab“) bis 5 („stimme voll und ganz zu“). Das ergibt einen maximalen Zustimmungswert aller Items von neunzig. Ab einem Wert von 63 sprechen die Autoren von einem geschlossenen rechtsextremen Weltbild. Das bedeutet: Wer beispielsweise neunmal mit „stimme überwiegend zu“ und neunmal mit „stimme teils zu, teils nicht zu“ geantwortet hat, besitzt nach Auffassung der Autoren bereits ein geschlossenes (!) rechtsextremes Weltbild.

Bei der Studie Die enthemmte Mitte sind Zweifel an der Eignung des Messinstrumentes angebracht. Die Interpretation der Ergebnisse ist zudem nicht immer von den tatsächlich gemessenen Daten gedeckt und kann teilweise als alarmistisch bezeichnet werden. Deshalb sollten die Ergebnisse vorsichtig verwendet werden. Ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild findet sich in den Daten tatsächlich nur in geringem Umfang. Dennoch ist ein Anstieg rechtsextremer Gewalttaten zu verzeichnen, der durchaus Besorgnis erregen kann. Allein die Zahl der Anschläge auf Flüchtlingseinrichtungen stieg von 199 im Jahr 2014 auf 1027 in 2015.7

Zudem zeigt die Studie, dass es derzeit eine weit verbreitete Skepsis vor allem gegenüber Muslimen gibt. Auch dies gibt sehr wohl Anlass zur Sorge. In Anbetracht der vielen muslimischen Flüchtlinge, die 2015 nach Deutschland gekommen sind, kann nur eine schnelle und gute Integration die Skepsis der deutschen Bevölkerung abbauen.


Sabine Pokorny, geboren 1981 in Wesel, Koordinatorin Empirische Sozialforschung, Hauptabteilung Politik und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung.


1 Decker, Oliver / Kiess, Johannes / Brähler, Elmar: Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellungen in Deutschland, Gießen 2016.
2 Siehe exemplarisch Spiegel Online: „Deutschlands hässliche Fratze“, von Benjamin Schulz; www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/rechtsextremismus-studie-die-enthemmte-mitte a-1097321.html [Zugriff am 15.08.2016].
3 Folgende Studien sind bisher erschienen: Zick, Andreas / Klein, Anna: Fragile Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2014, Bonn 2014; Decker, Oliver / Kiess, Johannes / Brähler, Elmar: Die stabilisierte Mitte. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2014, Leipzig 2014; Decker, Oliver / Kiess, Johannes / Brähler, Elmar: Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012, Bonn 2012; Decker, Oliver / Weißmann, Marliese / Kiess, Johannes / Brähler, Elmar: Die Mitte in der Krise. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2010, Bonn 2010; Decker, Oliver / Brähler, Elmar: Bewegung in der Mitte. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2008, Berlin 2008; Decker, Oliver / Brähler, Elmar / unter Mitarbeit von Geißler, Norman: Vom Rand zur Mitte. Rechtsextreme Einstellungen und ihre Einflussfaktoren in Deutschland, Berlin 2006; Decker, Oliver / Brähler, Elmar: „Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 42/2005, S. 8–17; Brähler, Elmar / Niedermayer, Oskar: Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland. Ergebnisse einer repräsentativen Erhebung im April 2002, Arbeitshefte aus dem Otto-Stammer-Zentrum, Nr. 6, Berlin/Leipzig 2002.
4 Vgl. u. a. Kreis, Joachim: „Zur Messung von rechtsextremer Einstellung: Probleme und Kontroversen am Beispiel zweier Studien“, in: Arbeitshefte aus dem Otto-Stammer-Zentrum, Nr. 12, Berlin 2007, S. 87–103; Jesse, Eckhard: „Mitte und Extremismus“, in: Backes, Uwe / Gallus, Alexander / Jesse, Eckhard (Hrsg.): Jahrbuch Extremismus und Demokratie, Baden-Baden 2013, S. 13–35.
5 Decker, Oliver / Kiess, Johannes / Brähler, Elmar: Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellungen in Deutschland, Gießen 2016, S. 32.
6 Decker, Oliver / Weißmann, Marliese / Kiess, Johannes / Brähler, Elmar: Die Mitte in der Krise. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2010, Bonn 2010.
7 Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg; https://www.lpb-bw.de/fremdenfeindlichkeit.html [Zugriff am 15.08.2016].

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