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Wahrheit und Freiheit im Erzählen von Husch Josten, Literaturpreisträgerin der Konrad-Adenauer-Stiftung 2019

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Was um Himmels willen hat Ludwig Wittgenstein in einem Roman verloren? Thomas Bernhard hat es in Wittgensteins Neffe (1982) getan, zuletzt David Markson in Wittgensteins Mätresse (1988/2013). Der Philosoph ist dabei offenbar mehr als nur eine Figur, die die logische Ordnung einer sprachlich konstruierten Welt erkennt und erklärt. Wittgenstein kommt aus der „Zeit der Zauberer“ (Wolfram Eilenberger, 2018), die in den 1920er-Jahren das Denkgeheimnis einer überforderten Moderne vorformuliert haben. Dass die Welt durch „Tatsachen“ bestimmt ist, durch das, „was der Fall ist“: Das formuliert fast 100 Jahre später Husch Josten in Hier sind Drachen. Das berühmte Wittgenstein-Zitat in ihrem Roman ist ein Schlüssel, aber keiner zur Philosophie. Er dient zum politischen Verständnis unserer Gegenwart und erinnert an die enorme Bedeutung von Lesen und Erzählen im Informationszeitalter, auf die im Januar 2019 die Stavanger Erklärung von E-READ (Evolution of Reading in the Age of Digitisation), einer interdisziplinären, internationalen Vereinigung von 130 Wissenschaftlern, hingewiesen hat. Mithilfe von Wittgenstein, der 1929 seinen Doktorvätern in Cambridge ins Gesicht sagte, sie würden seine Thesen ohnehin nie verstehen, verteidigt Husch Josten die Freiheit und Wahrheit des Erzählens, und das kritisch genug, um sich an den Herausforderungen unserer Epoche durch Fundamentalismus und Terrorismus messen zu lassen.

Hildegard „Husch“ Josten wurde 1969 in Köln geboren. Sie studierte Geschichte und Staatsrecht in ihrer Heimatstadt und in Paris, volontierte als Journalistin bei der Kölnischen Rundschau und arbeitete unter anderem bei Burda. In Köln, Paris und London schrieb sie für verschiedene Tageszeitungen und Magazine. Zeitgleich entstand ihr Romandebüt In Sachen Joseph, das 2011 bei Berlin University Press (bup) erschien und für den aspekte-Literaturpreis nominiert war. 2012 legte sie, gefördert von dem Verleger und langjährigen Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Gottfried Honnefelder, ihren zweiten Roman Das Glück von Frau Pfeiffer vor, im Frühjahr 2013 den Kurzgeschichtenband Fragen Sie nach Fritz. Im September 2014 wurde (ebenfalls bei bup) ihr dritter Roman Der tadellose Herr Taft veröffentlicht. Mit ihren Romanen Hier sind Drachen (März 2017) und Land sehen (zweite Auflage 2018) wechselte Husch Josten in den Berlin Verlag, eine Tochter des Piper Verlags.

In Interviews hat Husch Josten, die im Alter von fünf Jahren ihre erste Schreibmaschine bekam, immer wieder ihre Leidenschaft zum Schreiben betont. Unterdessen ist die Reporterin längst zur Erzählerin geworden, die in der Linie des literarischen Journals (Heinrich Heine, Theodor Fontane, Thomas Mann) nach dem Sitz im Leben von Geschichten und nach deren zeitdiagnostischem Gehalt fragt. Es sind Geschichten von Politik und Medien, von Krieg und Terror, von Liebe und Religiosität, um die es ihr geht. „Geschichten wählten Autoren, bestünden darauf, erzählt zu werden“, heißt es einmal. In einem Interview mit Laurie Durand, Masterstudentin an der École normale supérieure de Lyon, vom 22. Juni 2018 erläutert sie ihren Umgang mit den Genres so: „Der Journalismus hat sich sorgfältigst um Objektivität und Wahrheit zu bemühen, hat so sachlich wie möglich zu bleiben, hat die Pflicht, ein Geschehnis von allen Seiten zu beleuchten. Der fiktive Roman darf, was er möchte – erfinden, hinzufügen, abziehen; unsachlich, emotional, subjektiv, einseitig sein. Ich mag es sehr, die Genres durchaus verwirrend zu verbinden. Die Fakten in meiner Fiktion müssen stimmen. Der Rest nicht.“

 

Sinnsuchromane mit Sitz im Leben

 

Husch Jostens Figuren sind strauchelnde, oft agnostische Sinnsucher, die Wahrheiten begradigen, beschönigen oder nicht wahrhaben wollen und die – in Ermangelung eines erkennbaren Zusammenhangs – Erinnerungen, Erklärungen und Beziehungen in der Welt verfolgen. In ihrem ersten Roman In Sachen Joseph ermittelt die Hauptfigur, eine Bibliothekarin, die Lebenswahrheit ihres exzentrischen Freundes Joseph, indem sie Erinnerungen von seiner Mutter und seinem Sohn an ihn nachforscht. „Mit Husch Josten gibt es eine recht eigenwillige Schriftstellerin kennenzulernen. Sie schreibt einen Roman aus dem Geist der Romantik, der dem Alltag ein Schnippchen schlägt, indem er der Phantasie die Herrschaft überträgt. Und die erschafft sich eine Freundschaft nach Gutdünken“, schrieben die Salzburger Nachrichten (6. August 2011).

Auch Das Glück von Frau Pfeiffer ist ein Sinnsuchroman mit Sitz im Leben. Handlungsort ist das bürgerliche London zur Zeit der Finanzkrise. Ein tendenziell neurotisches Paar fragt sich, was wohl das Glück einer 99-jährigen Frau ausmachen kann. Glück: Das ist hier weniger ein praktisches Resultat aus Psychologie, Ökonomie, Sozialforschung, Bio- oder Neurowissenschaft, sondern eine Suchbewegung zwischen Masseneudämonie und Zufallsglück, „bonheur“ und „béatitude“, „pursuit of happiness“ und „good luck“, gelingendem und durchkreuztem Leben. Dass die „Welt des Glücklichen“ eine „glückliche Welt“ sei, hat wiederum Wittgenstein in seinen Tagebüchern notiert und damit auf den Welterschließungsanspruch des Glücks hingewiesen. In den Staatsrechtsprinzipien der Neuzeit ist dies mehrfach verankert – das Streben nach Glück, welches man bekanntlich am Schopfe fassen muss, ist in vielen demokratischen Verfassungstexten zentral verankert. Und während in Jostens Roman die Aktienpakete platzen und die Weltwirtschaftsordnung zugrunde gerichtet wird, findet Aurora Pfeiffer, für die Heimat noch ein Fait accompli ist – kein Bekenntnis –, ihren Weg zurück nach Frankreich. Dort kommt sie her, dort hat sie wegen der Hitler-Besatzung Teile ihrer Familie verloren, dort geht sie nun arglos über Friedhöfe, und es war, heißt es an ihrem Lebensende, „nichts Sentimentales, Schwermütiges an ihr zu entdecken, keine Furcht, kein Bedauern, nichts von der Depression des Todes“.

Die Glücksthematik wird in Jostens Prosasammlung Fragen Sie nach Fritz in kleinen Formen durchgespielt. Es kommt zu merkwürdigen Begegnungen: Ein Antiquar wird von einem des Lesens überdrüssigen Hippie überfallen, ein Hypochonder will das Kind seiner Cousine großziehen, eine junge Frau trifft, unerkannt, nach zwanzig Jahren Fritz wieder, den Vater ihrer Freundin aus Kindertagen. Die Geschichten „Über kurz oder lang“ und „Le Coup de Foudre“ wurden vorab veröffentlicht – ins Englische übersetzt von Shelley Frisch – in den Ausgaben 75 (2012) und 80 (2014) von Agni, dem Literaturmagazin der Universität Boston, in dem auch Adam Zagajewski, Literaturpreisträger der Konrad-Adenauer-Stiftung 2002, publiziert hat.

Um Alltagserlösung und Augenblickserleuchtung, Orientierungsverlust und Verwahrlosung in zu viel Freiheit geht es in dem Roman Der tadellose Herr Taft. Der Titelheld ist ein Ideensammler, der nach einem „Liebesverrat“ (Peter von Matt) sein Talent nutzbar macht: Er verkauft sinnsuchenden Menschen sogenannte Themenkarten, zum Stückpreis von 3,50 Euro. Darauf steht oft nur ein einzelnes Wort wie „Zerinnerung“ oder „Mut“. Diese Ideenregister vermitteln „Illusionen von Gedankenfreiheit“, wie es die Autorin formuliert, aber zugleich sind sie Inschriften einer Annäherung an Glück und Wahrheit, im persönlichen Leben wie im gesellschaftlichen und globalen Miteinander.

 

Terror und die Logik des Zufalls

 

Der Durchbruch in der Kritik gelang Husch Josten mit ihren jüngsten Romanen, 2017 und 2018 erschienen. Sie erhielten fast durchgehend glänzende Kritiken, mit großem Zuspruch in den Onlineforen mit Laienrezensionen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung lobte das weltläufige Erzählen und die wache Sprache: „klar, mit Temperament und warmer Intelligenz“.

Der Roman Hier sind Drachen ist ein politisch-philosophisches Kammerspiel. Ort der Handlung ist der Londoner Flughafen Heathrow. Am Terminal 2 sitzt die Erzählerin, eine anthropologisch geschulte Journalistin, wegen eines Terroralarms fest. Es ist Vormittag, der 14. November 2015. Sie selbst sollte nach Paris fliegen, zu Recherchen über das tatsächliche Attentat, das sich dort am Vortag ereignet hat. Jetzt sitzt ihr ein Mann gegenüber, vertieft in Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus. Sie kommen ins Gespräch über die Logik des Zufalls und die Erklärungsmodelle für Terror – und damit ins Fadenkreuz der Sicherheitsbeamten am Flughafen, an dem sich dann – hier ist die Erzählung Fiktion – ein weiteres Attentat ereignet.

Wittgenstein am Flughafen, Wittgenstein à l’aéroport ist der Titel der französischen Übersetzung von Jostens Roman im Januar 2018. Der Philosoph liefert hier jedoch keine Blaupause für eine kritische Romanlektüre wie bei Thomas Bernhard, Lea Singer, Raouf Khanfir, David Markson. Der Titel ist vielmehr ein Lesezeichen für den Spannungsbogen zwischen Politik und Privatsphäre, der durch Jostens Erzählen geht. Mit Wittgenstein geht es immerhin um die Frage nach der Sagbarkeit des Unsagbaren; seine Sprachphilosophie wird poetologisch gewendet: Wie kann man vom Terror erzählen? Und auch dazu findet der Roman eine bemerkenswerte Anordnung: den Blick von London auf Paris. Der Terror strahlt von der Wirklichkeit in die Fiktion aus, an einen anderen Ort, er wird auf der „Rückseite der Dinge“ zur Erzählung. Husch Josten findet hier eine Formel für die Übereinkunft zwischen Zeitgeschichte und literarischem Erzählen: „In Geschichten und in der Historie geht es darum, die Zeit zu ordnen. […] Ziel der Erzählung ist niemals, eine endgültige Lösung für die Konflikte zu finden, sondern sie aushaltbar zu machen. Erträglich.“

Husch Jostens Themen sind Globalisierungsverluste und Liberalismusskepsis, die Identitätskraft und der „Unmöglichkeitssinn“ einer Geschichte, der Weg zu einer universellen Moral und die riskante Erkundung neuer Wahrheiten wie auf vorneuzeitlichen Landkarten, auf denen unbekannte Gegenden mit der Inschrift „Hic sunt dracones“ markiert waren. In Spiegel online heißt es: „Es ist ein Buch, das auf allerengstem Raum existenzielle Fragen thematisiert, die Wirklichkeit aufspießt, analysiert und hinterfragt“ (10. März 2017).

 

Religiöse Wahrheitssuche

 

Der Roman Land sehen (2018) ist eine Geschichte von Wahrheitssuche auf religiösem Gebiet. Unversehens, nach Jahrzehnten der Funkstille, meldet sich bei dem Erzähler, einem Bonner Literaturprofessor, sein Onkel Georg zurück. Der Siebzigjährige ist nach einem wechselvollen Leben bei den traditionalistischen Piusbrüdern eingetreten. Er wird von seinem Orden, der in das Nordeifeler Kloster Reichenstein eingezogen ist, zu einer späten Promotion zur Theologie nach Bonn geschickt. Georg, als Bruder Athanasius, bringt Räume, Menschen und Geschichten in Bewegung. Die plötzliche Konfrontation und Provokation des Unerwarteten hält zum weiteren Fragen an: nach Begründungen des Glaubens und dem Kernpunkt der persönlichen Identität.

In einem größeren Zusammenhang hat Husch Josten einen Roman über individuellen Glauben in einer religiös indifferenten und wertepluralistischen Mehrheitsgesellschaft geschrieben. Es geht um existenzielle Fragen des Glaubens und des christlichen Menschenbildes, um die Ansprüche an Kirche, Wahrheit und Frömmigkeit, um Figuren von Güte und Großzügigkeit, um Erinnerungsgräber und Familiengeheimnisse, die abgrundtief in die Zeit des Nationalsozialismus zurückreichen.

 

Geglückte Kombination

 

Heikel sind die Themen der Gegenwart, die Husch Josten aufgreift, allemal: Terror und Krieg, Globalisierungsangst und Glaubensmut, Freiheit des Gewissens und Menschenwürde. Ihre Romane glücken in der Kombination politischer Fakten mit literarischen Fiktionen. Sie erzählt mit der Kernprägnanz moderner Novellen: anschaulich, spannend, dicht.

In den Romanen Hier sind Drachen und Land sehen stellt sie einen völlig unmissionarischen Zusammenhang zwischen Freiheit als Sinn von Politik (Hannah Arendt) und der Freiheit zum Glaubensbekenntnis her. Ihre Bücher vereinen das Bedürfnis nach Erkenntnis mit der Notwendigkeit einer moralischen Zeitzeugenschaft. Am 16. Juni 2019 wird Husch Josten im Weimarer Musikgymnasium Schloss Belvedere mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet.

 

Michael Braun, geboren 1964 in Simmerath, Leiter des Referates Literatur der Konrad-Adenauer-Stiftung und außerplanmäßiger Professor für Neuere Deutsche Literatur und ihre Didaktik an der Universität zu Köln.

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