Peter R. Neumann: Der Terror ist unter uns. Dschihadismus und Radikalisierung in Europa, Ullstein Buchverlage, Berlin 2016, 304 Seiten, 19,99 Euro.
Fawaz Gerges: ISIS. A History, Princeton University Press, Princeton 2016, 384 Seiten, $ 27,95.
Marc Lynch: The New Arab Wars. Uprisings and Anarchy in the Middle East, Verlag Public Affairs, New York 2016, 304 Seiten, $ 26,99.
Nach jedem Terroranschlag steht die Frage nach dem Täter im Vordergrund. Wer war der Mörder? Wie kann es sein, dass Menschen mit oft gesicherten Lebensperspektiven plötzlich zu Terroristen werden und im Namen einer mörderischen Ideologie unschuldige Opfer aus dem Leben reißen? Um das herauszufinden, durchleuchten Soziologen, Psychologen und Kriminologen individuelle Biographien von Terroristen, zeichnen Radikalisierungsverläufe nach und analysieren gesellschaftliche und familiäre Rahmenbedingungen. Der Terrorismus wird so zu einem Rahmenphänomen individueller Radikalisierungsprozesse von Europäern in Europa. Er wird häufig als einheimisches oder hausgemachtes („homegrown“) Problem beschrieben, das zwar auf transnationale Organisationen und deren Ideologien bezogen ist, dessen Protagonisten, Ursachen und Hintergründe aber in Europa beheimatet sind.
Vieles spricht dafür, dass diese Perspektive zu kurz greift. Die Attentäter mögen „homegrown“ sein, ihre Motive, Mentoren, Netzwerke, Ideologien und nicht zuletzt Lebenswelten sind es in der Regel nicht. Im digitalen Zeitalter sehen sich radikale Islamisten auch in Deutschland als Teil einer grenzüberschreitenden Bewegung, die im nah- und mittelöstlichen Geschehen ihr Zentrum hat. Wer in Recklinghausen oder Reinickendorf am Computer oder im Kreis Gleichgesinnter sitzt, kann sich Raqqa oder Ramallah durchaus näher fühlen als dem Geschehen vor der eigenen Haustür. Wer den Terror verstehen will, darf deshalb nicht allein auf individuelle Biographien, auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen und auf religiöse Bezüge im europäischen Kontext schauen. Er muss auch die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Raqqa und Ramallah ebenso wie in Bagdad, Riad, Teheran und Peschawar kennen. Im nah- und mittelöstlichen Großraum liegen die Referenzen und Bezugspunkte des globalen Dschihadismus. Hier kommt der Terror her.
Der in London lehrende, international bekannte deutsche Terrorismusexperte Peter R. Neumann weist in seinem neuesten Buch über die Hintergründe der dschihadistischen Radikalisierung in Europa auf diese Bezüge hin. Radikalisierungsprozesse, so Neumann, vollziehen sich nicht im luftleeren Raum, sondern reflektieren und potenzieren Entwicklungen und Ereignisse in den nah- und mittelöstlichen Herkunftsregionen. Entgegen landläufigen Vorstellungen spielt hierbei nicht nur das Internet eine wichtige Rolle, sondern oft auch der persönliche Kontakt zu charismatischen Führungspersönlichkeiten, die unmittelbar in nahöstliche Netzwerke eingebunden sind und die in den „Echoräumen“ ihrer europäischen Wirkungsstätten Anhänger um sich scharen. Ein wichtiges Instrument dieser Agitatoren ist die Konstruktion und Betonung der Unterdrückung und Benachteiligung von Muslimen weltweit, die zur Rechtfertigung der eigenen Radikalität und Gewalt dient. Eigene Ausgrenzungs-, Diskriminierungs- und Versagenserfahrungen treffen auf das Mitfühlen mit dem – oft imaginierten und propagandistisch überhöhten – Leiden angeblicher Glaubensgeschwister im Nahen Osten, das gesühnt oder gerächt werden müsse.
Bausteine des Radikalisierungsverlaufs
Es greift also zu kurz, Terroristen oder Attentäter als fehlgeleitete, verwirrte oder geisteskranke Einzeltäter zu klassifizieren. Dafür sind die Geschichten der rund zwei Dutzend jungen Europäer, deren Weg in den Terrorismus Neumann nachzeichnet, zu sehr auf reale politische Entwicklungen und gesellschaftliche Erfahrungen bezogen. Neumann ist erfahren genug, um keine eindeutigen Typologien oder Prognoseinstrumente vorzulegen. Aber er verweist auf wichtige Bausteine des Radikalisierungsverlaufs und – ganz am Schluss seiner Schrift – auf die Krise der islamischen Welt als eine der zentralen Ursachen und Projektionsflächen des dschihadistischen Terrorismus auch in Europa. Aber genau an dieser entscheidenden Stelle endet das Buch.
Einfach gestrickte Ideologieangebote
Wer nun auf gleich hohem Niveau weiterlesen will, sollte zur bereits 2016 erschienenen Studie über die Entstehung der Terrormiliz ISIS vom Fawaz Gerges greifen. Der aus dem Libanon stammende und in London lehrende Politikwissenschaftler Gerges warnte bereits Anfang 2013 vor der Sicherheitsbedrohung durch sogenannte „Foreign Terrorist Fighters“ in Europa. Er war auch einer der Ersten, die die Zusammenhänge zwischen nahöstlichem Staatsversagen und dem Erstarken des dschihadistischen Terrorismus aufzeigten. Gerges zieht die Linie von den Dschihad-Bewegungen der 1980erund 1990er-Jahre über das Erstarken von Al-Qaida in Afghanistan bis hin zu ISIS in Irak und Syrien und gibt wichtige Einblicke in deren ideologische Entwicklungen und Unterschiede. Anders als Al-Qaida präsentiert sich ISIS als konkretes politisches Projekt mit Macher-Attitüde und Malocher-Image; ein Unterschichtenphänomen also. Dementsprechend einfach gestrickt sind die Ideologieangebote von ISIS: Gut gegen Böse, wer mitmacht, ist auserwählt, das Paradies wartet. ISIS war deshalb so erfolgreich, weil er Identitätsangebote mit einer realen Utopie und konkreter Action verbindet.
Nicht die Organisation – Ideen und Personen zählen
Die Organisation ISIS ist demgegenüber nachrangig. In Europa schauen wir also zu sehr auf Gruppierungen und Strukturen. Im Nahen Osten weiß man, dass Ideen und Personen zählen. Gerges wie Neumann halten die Diskussion darüber, ob Terroristen in Europa von ISIS beauftragt oder lediglich inspiriert werden, deshalb für unsinnig. Dass ISIS es immer wieder schafft, europäische Muslime ohne direkten Kontakt allein durch Ideen zu Gewalttaten anzustiften, vergrößert die Bedrohung eher noch. Die Schwächung und sogar Zerschlagung von ISIS als Herrschaftsgebilde – für Gerges schon Anfang 2016 absehbar – ist deshalb kein Grund zur Entwarnung. Die Organisation wird irgendwann zerstört werden, aber die dahinter stehenden Ideen und viele ihrer Akteure werden bleiben; irgendetwas Ähnliches wird wohl unvermeidlich an Stelle von ISIS entstehen. Wenn man etwas aus der Geschichte der dschihadistischen Bewegung lernen kann, dann ihre Anpassungsfähigkeit und Wandelbarkeit.
Gerges’ Buch ist deshalb weit mehr als eine Gesamtdarstellung der Geschichte von ISIS. Es ist eine politikwissenschaftliche Erklärung der Ursachen des dschihadistischen Terrorismus im Nahen Osten, die zugleich wichtige Erkenntnisse zum Verständnis von Radikalisierungsbiographien in Europa liefert. Wenn die These von Gerges und Neumann zutrifft, dass der dschihadistische Terrorismus das Produkt einer organischen Krise der arabisch-islamischen Welt ist, dann stellt sich die Frage, wie es zu dieser Krise kommen konnte.
Antworten liefert Marc Lynchs Studie über das Scheitern des arabischen Staatensystems. Lynch, der in Washington Internationale Beziehungen lehrt, ist einer der profunden Kenner der Region. Für ihn stehen die Hauptschuldigen an der Misere des Nahen Ostens und damit am Erstarken des dschihadistischen Terrorismus fest: die autoritären Regime in der Region. Amerikanische und westliche Politik haben ihren Anteil an der Misere, etwa durch das Verschieben der regionalen Machtbalance im Zuge der US-geführten Intervention im Irak 2003 und durch das Nuklearabkommen mit dem Iran. Aber der Großteil der Probleme ist hausgemacht, genauer gesagt das Ergebnis staatlichen Scheiterns, autoritärer Strukturen und regionaler Rivalitäten.
Faustformel der Autokraten
Bereits seit Jahrzehnten nutzen die Autokraten der Region die Faustformel „Wir oder der Terror“ zur Sicherung des eigenen Überlebens und als Rechtfertigung zur Ausgrenzung und Unterdrückung von Kräften des politischen Islam. Die gewaltbereiten Radikalen unter diesen Kräften fühlten sich dadurch in ihrem Argument bestätigt, dass nur der bewaffnete Kampf zum erhofften Gottesstaat führe. Nicht der Arabische Frühling war also Auslöser und Ursache der jüngsten dschihadistischen Terrorwelle, sondern das Versagen von Staatlichkeit, gepaart mit der Zerschlagung gemäßigt islamistischer Gruppierungen und der externen Einflussnahmen vor allem regionaler Akteure. Der syrische Bürgerkrieg hat außerdem einen „Gewaltmarkt“ geöffnet, auf dem sich unter Rebellengruppen eine Art Fundraising-Wettlauf etablierte. Zugespitzt formuliert: Lange Bärte und fromme Sprüche versprachen Geld aus den Golfstaaten und erklären die Islamisierungsspirale der syrischen Szene. Verstärkt wurde dieser Trend durch die Zerschlagung der Muslimbruderschaft nach dem Militärputsch in Ägypten Mitte 2013. Spätestens jetzt war das Projekt einer legalen islamistischen Option innerhalb bestehender politischer Ordnungen gescheitert.
Düsterer Ausblick
Lynch bietet keine leichte Kost, und sein Ausblick ist düster. Die arabischen Staaten haben nicht einmal damit begonnen, die Ursachen der Konflikte in der Region zu beseitigen. Im Gegenteil: Autoritarismus, Unterdrückung und staatliche Gewalt sind fast überall auf dem Vormarsch. Die nächsten Massenaufstände in der Region sind für Lynch nur noch eine Frage der Zeit. Aber anders als 2011 wird die kommende Protestwelle blutiger, undemokratischer und konfessioneller sein. Europa und die USA haben darauf weniger Einfluss, als die omnipräsenten Prediger westlichen Totalversagens in der Region glauben machen. Aber der Westen kann durchaus etwas tun. Genau wie Neumann und Gerges plädiert Lynch für einen fairen und gerechten Umgang mit den Muslimen in westlichen Gesellschaften als das vermutlich beste Mittel im Kampf gegen den Terror. Dschihadisten brauchen das Narrativ vom globalen Kreuzzug gegen den Islam. Wenn Europa und die USA deutlich machen, dass in ihren Gesellschaften Platz für Muslime und den Islam ist, gehen den Hasspredigern die Argumente aus.
Was lehrt uns die Zusammenschau dreier unterschiedlicher Bücher zu drei vordergründig verschiedenen Themen? Sie lehrt uns, dass wir eine multidimensionale Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Terrorismus brauchen. Soziologen und Psychologen können aufzeigen, warum sich bestimmte Personen radikalisieren. Nahost- und Politikwissenschaftler können erklären, auf welche Ideologien sich diese Personen berufen und auf welche politischen Verhältnisse und Strukturen diese Ideologien reagieren. Islam- und Kulturwissenschaftler können schließlich deutlich machen, in welchem Bezug diese Ideologien zu Glaubenspraxis, Theologie und Sprachgebrauch stehen.
Wie wir den Terror „verstehen“
Wer verstehen will, woher der dschihadistische Terror kommt und wie man ihn bekämpft, kommt um diese Gesamtschau nicht herum. Das hat auch sehr praktische Konsequenzen für die Aufklärungs- und Präventionsarbeit. Es gibt in Deutschland viele engagierte Pädagogen, Polizisten und Juristen, die aber oft nur unzureichend wissen, was im Nahen und Mittleren Osten passiert. Nahost- und Islamwissenschaftler hingegen sehen den Dschihadismus eher als regionalwissenschaftliches Forschungsobjekt und haben wenig Einblick in konkrete Radikalisierungsverläufe und Gefährderprofile in Europa. Deutschland stellt zurzeit erhebliche Mittel für De-Radikalisierungsprogramme und die Terrorabwehr bereit. Es wäre gut beraten, ebenfalls in die gegenwartsbezogene und politikberatende Nah- und Mittelostforschung zu investieren.
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Andreas Jacobs, geboren 1969 in Kleve, Koordinator Islam und Religiöser Extremismus in der Hauptabteilung Politik und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung, von 2013 bis 2016 Research Fellow am NATO Defense College in Rom.