Sollte Peter Sloterdijk mit dem Gedanken recht haben, dass Macht in dem Vermögen besteht, Tatsachen in die Flucht zu schlagen, dann wären Statistiken ein Machtinstrument par excellence! Den Zahlen nach steht das Bundesland Nordrhein-Westfalen phantastisch da: Von 2006 bis 2012 konnte die Zahl der bestandenen Abiture von 56.681 auf 83.092, die Zahl der Schüler mit der Note 1,0 von 421 auf 1.160 und der Notendurchschnitt von 2,66 auf 2,51 verbessert werden. Im Jahr 2016 waren es circa 91.000 Abiturienten, und der Notendurchschnitt sank laut Auskunft des Ministeriums sogar auf 2,45. Die Note 1,0 haben 1,78 Prozent der Absolventen von Gymnasien und Gesamtschulen erhalten.
Kann es einen eindrucksvolleren Beweis erfolgreicher Bildungspolitik geben? Die eher verschämte und wenig exakte Kommunikation dieser Ergebnisse im laufenden Jahr könnte allerdings ein Hinweis darauf sein, dass man dem eigenen Zahlenwerk nicht mehr recht zutraut, das Realitätsprinzip außer Kraft zu setzen. Sind die inflationär verteilten Zertifikate und guten Noten tatsächlich durch Wissen und Können gedeckt? Oder vertuscht man politisches Versagen hinter einer glänzenden Fassade? Dass das bestandene Abitur in NRW zwar eine Studienberechtigung, aber keine Studienbefähigung mehr bedeutet, beklagen Hochschullehrer seit geraumer Zeit. Inzwischen belegt auch eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung, in der Ausbildungsreife und Studierfähigkeit untersucht wurden, dass viele junge Menschen zwar gute Abschlüsse, aber erhebliche Bildungsdefizite haben.
An dem Beispiel zeigt sich ein grundsätzlicheres Problem der Bildungspolitik – nämlich die Entmündigung der politischen Urteilskraft durch Steuerung über Quoten und Kennziffern. Die Qualität von Bildung kann man nicht quantitativ messen, das Bildungswesen kann nicht sozialtechnologisch Output-orientiert gesteuert werden.
Machtinstrument PISA-Studie
Diese Tendenz ist nicht auf Nordrhein-Westfalen beschränkt, sondern verweist auf den Zugriff durch Akteure, die ohne politisches Mandat Einfluss auf die Bildungspolitik nehmen. Der Sonderforschungsbereich 597 der Universität Bremen forscht mit den Mitteln der empirischen Sozialforschung zum Einfluss nicht-staatlicher Machtgruppen auf die Bildungspolitik und identifiziert internationale Organisationen – zum Beispiel die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) – und private Stiftungen als Urheber politischer Veränderungen: „Obwohl in Deutschland zahlreiche institutionelle Vetopunkte existieren und die traditionellen Prinzipien des deutschen Bildungsverständnisses den von der internationalen Ebene beförderten Idealen diametral gegenüber standen, gelang es beiden internationalen Organisationen bzw. Initiativen (OECD und EU), diese blockierenden Effekte zu umgehen bzw. zu neutralisieren.“
Demokratisch legitimierte Mandatsträger mit Gestaltungsauftrag sowie kulturelle Werte und Normen erscheinen als zu neutralisierende Hindernisse beim Umbau des Bildungswesens. Das föderale Prinzip, nach dem Bildung Ländersache ist, wird demnach ebenso übergangen wie die Ansprüche der christlichen, humanistischen und aufklärerischen Tradition. Insbesondere die PISA-Studie war weniger ein Erkenntnis- als ein Machtinstrument. Sie war zwar von ihrer Anlage her nicht dazu in der Lage, die Leistungsfähigkeit der deutschen Schulen zu erfassen, etablierte aber einen neuen Maßstab von Bildung, orientiert am angelsächsischen Literacy-Konzept, das im besten Fall eine Vorstufe des europäisch-humanistischen Bildungsmodells darstellt. Anstatt jedoch die wissenschaftliche Dürftigkeit der Studie zu kritisieren, stellte man die Errungenschaften des Bildungswesens zur Disposition, nur um im Zahlenwerk der nächsten Studie besser dazustehen.
Ebenso fragwürdig erscheinen die Einflüsterungen der Bertelsmann Stiftung aus Gütersloh. Seit Ministerpräsident Johannes Rau 1992 die Bildungskommission NRW unter dem Namen „Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft“ eingesetzt hatte, nimmt die Stiftung durch ihre Kooperationen mit der Landesregierung maßgeblich Einfluss auf die Landespolitik, wie in der Antwort der Landesregierung auf eine Große Anfrage der Piratenpartei deutlich geworden ist.5 Obwohl es hinreichend pädagogische wissenschaftliche Expertise an den Hochschulen des Landes geben sollte, schließt die Landesregierung beispielsweise einen Kooperationsvertrag für Lehrerfortbildungen mit der Bertelsmann Stiftung. Auch das wenig erfolgreiche Programm „Kein Kind zurücklassen“ wurde gemeinsam mit der Stiftung aufgelegt. Kritiker sehen darin eine unzulässige Privatisierung hoheitlicher Aufgaben und einen Interessenkonflikt zwischen dem Medienkonzern und dem verfassungsmäßigen Auftrag, dem das Bildungswesen verpflichtet ist.
Auflösung der Lehrerrolle
Neben der seit Jahrzehnten schwärenden Wunde der Schulformfrage, die hinter dem Pflaster des Schulfriedens weiter pocht (Haupt- und Realschulen werden auf dem Wege eines Kannibalisierungswettbewerbs abwickelt), sind die Schulen des Landes erheblichen Veränderungen ausgesetzt worden, die ihren pädagogischen Auftrag ins Mark treffen. Herauszuheben sind insbesondere die Kompetenzorientierung und die Auflösung der Lehrerrolle als pädagogische, fachliche und menschliche Autorität. Schulbücher, Lehrpläne, Aufgabenformate und Unterricht sind nicht mehr an Bildung und an dem Erwerb von Wissen und Können im Medium der Fachlichkeit ausgerichtet, sondern an unzähligen Kompetenzen gemäß der OECD-Doktrin. Das führt dazu, dass eine Leistungskursaufgabe im Fach Biologie auch von einer unvorbereiteten neunten Klasse erfolgreich zu bewältigen ist, wie der Biologiedidaktiker Peter Klein in einem Experiment nachgewiesen hat.
Der Lehrer soll – so steht es im Koalitionsvertrag – fortan Lernbegleiter sein. Didaktische und organisatorische Aufgaben werden dem Schüler aufgelastet, der isoliert und selbstorganisiert an Computern oder Arbeitsblättern sogenannte Lernumgebungen lernen soll. Dies setzt den Autodidakten als Prototyp voraus und ignoriert weitgehend, dass Lernen vor allem in Beziehungen geschieht. Gerade Kinder, denen häusliche Unterstützung fehlt, werden so zu Verlierern.
Abwicklung der Förderschulen
Die politische und gesellschaftliche Partizipation von Menschen mit Behinderung ist ein notwendiges sozialpolitisches Ziel. Unter Berufung auf das „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ der Vereinten Nationen betreibt die Landesregierung die Abwicklung des Förderschulwesens, ohne für adäquat gute räumliche, personelle und organisatorische Gegebenheiten in den Regelschulen zu sorgen.
Ob diese Maßnahmen zur Emanzipation von Menschen mit Behinderung beitragen oder aus Kostengründen eher zum Schaden aller Schülerinnen und Schüler unnötigen Stress im System verursachen, muss kritisch geprüft werden. Es ist ein typisches Kennzeichen von Ideologien, die Wirklichkeit zugunsten von Verheißungen auszublenden, als ob schon das hehre Ziel davon entlasten würde, nach geeigneten Mitteln zu seiner Verwirklichung zu suchen. Die duale Ausbildung ist seit Jahrzehnten ein Garant für sozialen Aufstieg gewesen und hat zur Sicherung einer Mittelschicht auf dem Wege der beruflichen Bildung gesorgt. Sie leistet neben der konkreten Qualifikation auch allgemeine Menschenbildung und stiftet so gesellschaftlichen Zusammenhalt. Nicht zuletzt im Zuge der Akademisierungstendenzen ist dieser starke Zweig des Bildungswesens jedoch bedroht. Dies schlägt sich in einer systematischen Benachteiligung gegenüber den allgemeinbildenden Schulen im Hinblick auf die Ressourcenzuweisung nieder.
Insbesondere im Bereich der gewerblich-technischen Fächer besteht erheblicher Lehrermangel, der nicht – etwa auf dem Wege der Mangelfachzulage – behoben wird. Die beruflichen Gymnasien werden unter Konkurrenzdruck gesetzt. Insbesondere private Hochschulen akquirieren ihre Klientel in diesem Sektor. Die Wissenschaftsministerin des Landes fordert: „Studieren ohne Abitur muss eine Selbstverständlichkeit werden.“7 Sogar Kindererziehung oder die Pflege von Angehörigen nach einer Ausbildung wird als Äquivalent einer dreijährigen Berufspraxis anerkannt und öffnet den Weg zu nicht zulassungsbeschränkten Studiengängen.
Universitäten produzieren Absolventenzahlen
Die Universitäten des Landes sind im Zuge der Hochschulgesetzgebung, von Akkreditierung und Drittmittelsteuerung, der Umstellung auf Bachelor- und Masterstudiengänge und der Akademisierungswellen bis zur Unkenntlichkeit transformiert worden. Die Unabhängigkeit der Forschung ist durch den Zwang, im Wettbewerb Geldquellen aufzutun, externer (ideologischer oder ökonomischer) Einflussnahme ausgeliefert. Die Beschäftigungssituation für Wissenschaftler im Mittelbau und in der Qualifikationsphase ist prekär. Gut qualifizierte Nachwuchsforscher werden in Drittmittelanwerbung, Lehr- und Prüfverpflichtungen verschlissen. Die Abkehr vom Fachprinzip in der Diversifikation der Studiengänge zu mehreren Tausenden von Abschlüssen stellt die Einrichtungen vor einen erheblichen organisatorischen Ressourcenaufwand. Viele Studiengänge sind trotz teurer Akkreditierung überreguliert, fachlich inkonsistent und deshalb kaum sinnvoll studierbar, geschweige denn berufsqualifizierend oder gar persönlichkeitsbildend. Akademische Lehre steht oft vor dem Problem einer nicht hinreichend studierfähigen Hörerschaft. Die Niveaueinbußen und die Noteninflation aus den Schulen setzen sich an den Hochschulen fort, da diese bei nicht angemessener Ausstattung angehalten sind, „Drop-out-Quoten“ wie die Zahl der Studienabbrecher zu senken und Absolventenzahlen zu produzieren.
Die schlaglichtartige Umschau offenbart fundamentale politische Verfehlungen, die unbedingt einer kritischen Revision unterworfen werden sollten, um Schaden von Kultur, Demokratie und Wirtschaft abzuwenden. Eine wesentliche Forderung besteht zunächst in einer kulturellen Rückbesinnung und demokratischen Emanzipation der Entscheidungsträger von Thinktanks und internationalen Kampagnen wie PISA und Bologna.
Matthias Burchardt, geboren 1966 in Unna, Akademischer Rat am Institut für Bildungsphilosophie, Anthropologie und Pädagogik der Lebensspanne an der Universität zu Köln.