In der Brandenburger Provinz beäugen Einheimische kritisch Autos mit Berliner Kennzeichen. Früher waren die Hauptstädter in der „Spargelstadt“ Beelitz zum Start der Erntesaison des Edelgemüses willkommene Gäste. Schleswig-Holstein geht gleich richtig zur Sache: Hamburger müssen draußen bleiben und dürfen nur mit wichtigem Grund einreisen. Die von cleveren Regionalmarketing-Managern erdachte „Spargelstraße“ in dem Land zwischen den Meeren muss in diesem Jahr auf Ausflügler verzichten. Anderswo dürfte es ähnlich kommen oder es ist dort bereits so.
Und in dieser Lage soll Gemüse gepflanzt, demnächst Obst geerntet und jetzt der viel zitierte Spargel gestochen werden. Das geht, oder ging bislang, nur mit den sogenannten „Erntehelfern“. Die Bezeichnung ist irreführend, denn sie suggeriert, jemand unterstütze mal nebenbei die Landwirtschaft. Vielmehr handelt es sich um Knochenjobs, die kaum Einheimische übernehmen wollten oder konnten. Mittlerweile haben sich über Internetportale knapp 20.000 Freiwillige aus der Bevölkerung gemeldet. Über Arbeitslose, Studenten, Kurzarbeiter und Asylbewerber als zusätzliche Unterstützung wird diskutiert. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft beziffert den Bedarf auf 100.000 Saisonkräfte bis Ende Mai. Auf das gesamte Jahr betrachtet, sollen es laut dem Ministerium bis zu 300.000 sein – davon ist die aktuell in Aussicht gestellte Anzahl der Arbeitskräfte weit entfernt.
Für die ausländischen Saisonarbeiter war und ist der Broterwerb in der deutschen Landwirtschaft existenziell. In ihren Heimatländern bestehen für die Arbeitsmigranten keine oder nur wenige Möglichkeiten, ein vergleichbares Einkommen zu erzielen.
Tätige Quarantäne
Die Bundesregierung hat jetzt entschieden, unter strengen Vorgaben im April und Mai jeweils 20.000 Saisonarbeiter einreisen zu lassen. Die Kontingente leben deutschlandweit quasi in „tätiger Quarantäne“. Alle Beteiligten sind gefordert, die Schutzvorschriften strikt einzuhalten. Offen ist jedoch, wie viele Arbeiter überhaupt kommen. In den Heimatländern der Saisonarbeiter bestehen teilweise noch Bedenken bezüglich Infektionsrisiken, wenn die Arbeiter dort wieder einreisen.
Vollkommen gewiss ist: Die Arbeitstruppen aus dem Ausland sind elementar wichtig. Deren Tätigkeit auf den Feldern nimmt eine breitere Öffentlichkeit erst jetzt wahr. Während derzeit über genau diese Arbeit viel berichtet wird, steht ein anderer Einsatzort der meist osteuropäischen Arbeitskräfte weniger oder kaum im Fokus. Sie sind in den Ställen der Landwirte ebenfalls unentbehrlich. Spätestens, wenn landwirtschaftliche Tierhalter, beispielsweise Milcherzeuger, ihre Arbeit nicht mehr allein mit Familien-Arbeitskräften erledigen können, sind mehr fleißige Hände gefragt. Täglich morgens vor 5.00 Uhr zu melken und abends erneut, ist in zahlreichen Betrieben oft ein Job, den Osteuropäer erledigen. Das sollte allen klar sein, die mit Kampfbegriffen wie „Agrarindustrie“ argumentieren. Trotz aller Technik ist anstrengende und schmutzige Handarbeit erforderlich. So ist Realwirtschaft eben. Ohne Pflanzenschutz und andere Technologien müsste noch mehr angepackt werden und die Erträge wären kleiner und unsicherer.
Apropos „Realwirtschaft“: Der Terminus machte auf dem ersten Höhepunkt der Finanzkrise 2008 verstärkt die Runde. In schlechten Zeiten scheint es ein Rückbesinnen auf andere Werte zu geben. Dergleichen vergeht meist leider wieder schnell.
Ein großes Versprechen
Wie während der Finanzkrise ist neben „Realwirtschaft“ derzeit häufig „systemrelevant“ zu hören. Es ist das ökonomische Zauberwort der Corona-Krise. Viele Wirtschaftszweige nehmen es für sich in Anspruch. Die Landwirtschaft hat das nun ebenfalls geschafft, wie unter anderem das Beispiel der Saisonkräfte zeigt. Mit der Landwirtschaft gilt die gesamte Wertschöpfungskette über die Nahrungsmittelindustrie bis zum Lebensmittel-Einzelhandel als „systemrelevant“. Verständlich, denn ohne Essen sinkt nicht nur die Stimmung. Nahrung zählt zu den physiologischen Grundbedürfnissen und die markieren die Basis der Maslowschen Bedürfnispyramide. Deren zweitoberste Stufe beinhaltet soziale Anerkennung.
Wer es sarkastisch mag, könnte sagen, für die Landwirtschaft bilde der Wunsch nach Anerkennung, fast schon ein „Schrei nach Liebe“, den Grundtenor und potenziere sich in Krisenzeiten. Sachlicher betrachtet, muss sich die Landwirtschaft samt ihren Interessenvertretern darüber im Klaren sein: Systemrelevanz eröffnet nicht nur Optionen in der Corona-Krise, sondern stellt ein großes Versprechen dar, und das heißt in erster Linie: lieferfähig zu sein. Dass die Bauern das nicht allein in der Hand haben, leuchtet ein. Was vor der Krise nicht machbar war, ist nun erst recht schwierig bis unmöglich.
Zufrieden mit wenig oder importieren
Deutschland produziert Grundnahrungsmittel wie Fleisch, Milch, Kartoffeln und Getreide laut den Daten (Stand: 2018/19) der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) leicht bis deutlich über dem eigenen Bedarf. Die Spanne reicht je nach Zeitraum von 106 Prozent für Getreide bis zu 128 Prozent für Kartoffeln. Was hierzulande nicht verbraucht wird, geht überwiegend in andere EU-Staaten. Die öffentliche Debatte überschätzt Drittlandmärkte für Agrarexporte. Der deutsche Selbstversorgungsgrad erreicht über alle Nahrungsmittel indexiert 88 Prozent (BLE, Stand 2017/18), aber nur mit importierten Futtermitteln. Ohne sind es 82 Prozent. Für die stets empfohlene Ernährung mit reichlich Obst und Gemüse sieht es dagegen schlecht aus. Nur 14 Prozent des in Deutschland verbrauchten Obstes stammt aus heimischer Produktion. Beim Gemüse sind es 35 Prozent. Allerdings müssen die Saisonarbeiter die Bestände pflanzen, pflegen und ernten. Den Freunden frugaler Mahlzeiten bleibt nichts anderes übrig, als sich mit sehr wenig zufriedenzugeben oder zu importieren. Obst und Gemüse „regional“ oder gar „bio“ der Nachfrage entsprechend erzeugt, ist von der Wirklichkeit weit entfernt.
Strengere Vorschriften zum Einsatz von Pflanzenschutzmitteln setzen den ohnehin unzureichenden deutschen Gemüse- und Obstanbau unter Druck. Die Statistik entlarvt Zauberworte. In der Europäischen Union variiert die Selbstversorgung nach Angaben der EU-Statistikbehörde (Stand 2016, EU-28) für die meisten Grundnahrungsmittel etwa im einstelligen Prozentbereich über 100 Prozent, außer für Obst mit weniger als 80 Prozent. Die Fleischerzeugung in der Europäischen Union ist von Importfuttermitteln abhängig. Der weitaus größte Anteil der benötigten Futtermittel wird innerhalb der Gemeinschaft erzeugt. Importiert wird aus quantitativen und vor allem qualitativen Gründen. Es muss die „Eiweißlücke“ geschlossen werden, denn diese Nährstoffgruppe können weder Deutschland noch die EU ausreichend bereitstellen. Die Erzeugung heimischer pflanzlicher Eiweißfuttermittel wie Raps wird zusätzlich durch immer neue Auflagen erschwert: Aufgrund umweltpolitisch möglicherweise gut gemeinter, aber leider teils praxisferner Pflanzenschutz-Vorschriften nimmt der Rapsanbau in Deutschland drastisch ab.
Agrarpolitik auf den Prüfstand
Was steht für die deutsche und europäische Landwirtschaft während der Krise und einer hoffentlich baldigen Zeit danach an? Eigentlich das Gleiche wie immer: Genügend Nahrungsmittel, respektive deren Rohstoffe, produzieren. Obschon es sich grundsätzlich verbietet, aus der globalen Bedrohung durch das Corona-Virus politisch oder gar wirtschaftlich Kapital zu schlagen, ist es angebracht, den agrar- und umweltpolitischen Forderungskatalog auf den Prüfstand zu stellen. Zwar ist es um den Klimawandel, ein Zauberwort mit vielleicht sinkender politischer Wirkung, stiller geworden, doch die landwirtschaftliche Tierhaltung steht wegen der vom Vieh emittierten „Klimagase“ als bedeutender „Klimasünder“ da.
Wiederum hilft ein Blick in die Statistik. Die landwirtschaftliche Nutzfläche in Deutschland beträgt laut Statistischem Bundesamt 16,7 Millionen Hektar. Davon werden etwa 70 Prozent als Acker genutzt, rund 28 Prozent entfallen auf „Dauergrünland“ und weniger als zwei Prozent tragen „Dauerkulturen“ (Weinstöcke, Obstbäume und anderes mehr). „Dauergrünland“, so fasst die landwirtschaftliche Terminologie Wiesen und Weiden zusammen, weist eine geringe natürliche Ertragsfähigkeit auf. Ackerbau lohnt an solchen Standorten nicht. Immerhin wächst dort Gras. Und das verwerten nur Wiederkäuer wie Kühe oder Schafe und „veredeln“ es zu Nahrungsmitteln.
Die Anzahl der Kühe zu reduzieren oder am besten gleich größtenteils abzuschaffen und dann das nicht mehr benötigte Grünland „klimafreundlich“, gern als naturnahen Mischwald, aufforsten, lautet ein Vorschlag. Dafür wäre Geduld erforderlich, denn sechzig Jahre dauert es mindestens, bis aus dem Wald ein brauchbarer Holzbalken entsteht, vorausgesetzt, es wurde eine dafür taugliche Baumart gepflanzt.
Verbraucher informieren statt erziehen
Woher die Milch während dieser Zeit kommt, lassen die Anhänger solcher Theorien unbeantwortet. Vielleicht, wie beim Fleisch empfohlen, einfach viel weniger konsumieren? Freudlose Aussichten. Oder erst mal weniger kaufen. In der Krise kann das jeder üben. Es ist zwar genug da, aber an der Supermarktkasse geht die Zwölferpackung Milch nicht mehr durch. Viele Märkte limitieren die Menge pro Einkauf. Hamsterkäufe gilt es zu verhindern, aber es stellt sich die Frage, ab welcher Menge der Hamsterkauf beginnt. Vor der Corona-Krise wurde mehr als die Hälfte aller Mahlzeiten außer Haus eingenommen. Das ist jetzt nicht mehr möglich, denn die Angebote in Schulen und Kindergärten fallen aus, Kantinen und andere „Systemgastronomie“ sind heruntergefahren. Verbraucher orientieren sich neu. Zu Hause wird jetzt durchschnittlich wesentlich mehr gegessen – und das vielfach in Haushalten, die auf dreierlei nicht vorbereitet waren: Vorräte strukturiert anzulegen, für mehrere Tage sämtliche Mahlzeiten zu planen und selbst zu kochen.
Aus den Nahrungsmittelunternehmen wie etwa Molkereien ist zu vernehmen, dass die erhöhte Nachfrage im Lebensmitteleinzelhandel gegenwärtig die weggebrochenen Absatzmengen für Großverbraucher und Gastronomie ausgleicht. Der kleine Joghurt im Supermarktregal ist begehrt, die Gebinde mit fünf Kilogramm stehen in den Lagern der Milchindustrie. Sollte die Krise länger anhalten, so wird immer wieder seitens der Lebensmittelbranche und der Politik betont, seien genügend Nahrungsmittel vorhanden. Das stimmt wohl, jedoch nicht alle Rezepturen lassen sich unbegrenzt erfüllen: Fehlt der Nachschub für Fruchtzubereitungen, wird auch zu Joghurt ohne Fruchtzusatz gegriffen.
Abhängigkeiten verringern und intelligenter vernetzen
Für „Lehren“ aus der Corona-Krise mag es noch zu früh sein, aber wohlfeile Ratschläge zur Zukunft der Landwirtschaft kommen bereits aus allen Ecken. Etwas verzweifelt wirken jene, die als Umweltorganisationen ein auf Spenden ausgerichtetes Geschäftsmodell betreiben, indem sie die (Land-)Wirtschaft mit Dauerkritik überziehen. Auf deren Botschaften will keiner mehr richtig hören, angesichts flächendeckender Kurzarbeit und einer drohenden schweren Rezession. Nachdenken sollten die Veranstalter der traditionellen Großdemo in Berlin zum Auftakt der jährlichen Agrar- und Ernährungsmesse, der „Internationalen Grünen Woche“. Das Protestmotto („Wir haben es satt“) der Gegner der konventionellen Landwirtschaft gerät zum Hohn. Höchstwahrscheinlich endet bald die Zeit des Überflusses an importierten Nahrungsmittelrohstoffen; zumindest wird es teurer werden.
Unabhängig von der Corona-Krise muss der Rahmen für die Landwirtschaft primär agrar- und nicht umweltpolitisch gestaltet werden. Das ist keine Absage an ökologische Kriterien, allerdings war Landwirtschaft zu lange allein ein „Problemfall“ im dominierenden ökologischen Masterplan einiger westlicher Gesellschaften. An dessen Ende stört selbst der Mensch irgendwie. Das darf nicht sein. Die Subsidiarität taugt als wirtschaftspolitisches Grundmodell: den Bedarf an Nahrungsmitteln im wörtlichen Sinn „verbrauchernah“ – auf Flächen und in Ställen hierzulande – erzeugen. Das verringert Abhängigkeiten und erhöht die Resilienz. Für den darüber hinausgehenden Bedarf vernetzt sich die Land- und Ernährungswirtschaft hoffentlich international intelligenter.
Der weltweite Agrarhandel übernimmt eine Doppelrolle. Einerseits kann er Ertragsschwankungen ausgleichen, wenn denn die Logistik krisenfest ist. Andererseits müssen sich importierte Rohstoffe und Nahrungsmittel deutlicher an den hiesigen Umwelt- und Sicherheitsstandards messen lassen. Soll das bisherige Wohlstandsniveau einigermaßen gehalten werden, sind Importe unabdingbar. Alle, die „Autarkie“ für das Gebot der Stunde halten, sollten realisieren, dass diese ihren Preis hätte. Zauberworte machen niemand satt.
Dietrich Holler, geboren 1966 in Herborn, Agrarwissenschaftler, Journalist, Redaktionsbüro „vox viridis“ („Grüne Stimme“), Berlin.
Dieser Artikel ist als „Zwischenruf“ für „Die Politische Meinung“ im April 2020 verfasst worden.