Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine ist die größte Bedrohung für die europäische Sicherheitsordnung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Seit Februar 2022 hat Russland in der Ukraine zehn Millionen Menschen vertrieben, Zehntausende Soldaten und Zivilisten getötet und zivile Infrastruktur in großem Umfang zerstört – und Russland eskaliert weiter. Als Reaktion darauf hat die Bundesregierung eine verteidigungspolitische „Zeitenwende“ ausgerufen, die sich inhaltlich auf drei Eckpfeiler stützt. Erstens: Russland gilt nicht mehr als Wirtschaftspartner, sondern als Sicherheitsbedrohung. Zweitens: Der Hauptauftrag der Bundeswehr ist nicht länger das internationale Krisenmanagement, sondern die Landes- und Bündnisverteidigung in Europa. Drittens: Zur Auftragsbefähigung soll die Bundeswehr finanziell und personell gestärkt werden.
Nach Auffassung von Bundeskanzler Olaf Scholz spiegelt der eingeleitete verteidigungspolitische Kurswechsel „ein neues Bewusstsein auch in der deutschen Gesellschaft wider. Heute ist eine große Mehrheit der Deutschen der Ansicht, dass unser Land eine Armee mit der Fähigkeit und der Bereitschaft braucht, Gegner abzuschrecken und sich sowie seine Verbündeten zu verteidigen“ (Scholz 2022). Gibt es eine solche „Zeitenwende in den Köpfen“ tatsächlich? Repräsentative Bevölkerungsbefragungen können hierauf eine Antwort geben. Die größte Umfragestudie und längste Zeitreihe zu verteidigungspolitischen Einstellungen in Deutschland ist die seit 1996 jährlich im Auftrag des Bundesministeriums der Verteidigung durchgeführte Bevölkerungsbefragung des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw).
Für die Datenerhebung wird im Rahmen einer öffentlichen Ausschreibung ein professionelles und unabhängig zertifiziertes Meinungsforschungsinstitut beauftragt. Die Daten werden in persönlichen computergestützten Interviews erhoben. Die Befragung im Jahr 2022 fand vom 13. Juni bis 17. Juli statt. Der Fragebogen umfasst circa dreißig Seiten mit bis zu fünfzig Fragen (und Hunderten zu bewertenden Einzelaussagen).
Die Interviewdauer beträgt im Durchschnitt etwas weniger als eine Stunde. Die Teilnahme ist freiwillig, anonym und erfolgt ohne Vergütung. Die Auswahl der Befragten erfolgt durch eine mehrfach geschichtete Zufallsstichprobe. Die Befragung beziehungsweise die Stichprobe ist repräsentativ für die deutschsprachige und in Privathaushalten lebende Bevölkerung ab sechzehn Jahren. In jedem Erhebungsjahr wurden mindestens 2.000 Personen befragt (2022: 2.741). Die Auswertung der Daten erfolgt ausschließlich durch das ZMSBw. Die Forschungsberichte stehen auf der Website des ZMSBw kostenlos zur Verfügung. Die Forschungsfreiheit gilt auch für die Ressort- und Grundlagenforschung am ZMSBw. 2022 erfolgte eine Evaluation des ZMSBw durch den Wissenschaftsrat, die mit einem äußerst positiven Ergebnis abgeschlossen wurde. Die nachfolgende Analyse basiert auf diesen Daten.
Russland bedroht unsere Sicherheit
Freund, schwieriger Partner, Herausforderung oder Bedrohung? Bis zu Russlands Invasion der Ukraine im Februar 2022 existierte in der deutschen Bevölkerung ein eher diffuses Russlandbild, das heißt, nahezu alle Aspekte der deutsch-russischen Beziehungen wurden zu ähnlich großen Teilen positiv, negativ oder ambivalent bewertet (Graf 2023). Höchstens ein Drittel erkannte in Russland eine Bedrohung. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat diesbezüglich für Klarheit gesorgt: Russlands militärisches Vorgehen in der Ukraine (65 Prozent Zustimmung; +31 Prozentpunkte im Vergleich zu 2021) und seine Außen- und Sicherheitspolitik (66 Prozent Zustimmung; +31 Prozentpunkte) werden inzwischen von einer klaren Mehrheit der Deutschen als Bedrohung für die Sicherheit Deutschlands wahrgenommen (vgl. Abbildung 1).
Parallel dazu ist die Bereitschaft, die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland einzuschränken, massiv gestiegen (67 Prozent; +40 Prozentpunkte). Das ehemals ambivalente Russlandbild ist der Erkenntnis gewichen, dass Russland eine Bedrohung für unsere Sicherheit darstellt.
Andere Umfragen kommen zu ähnlichen Ergebnissen, wie zum Beispiel der ARD-Deutschlandtrend vom Februar 2023, der Sicherheitsreport 2023 des Instituts für Demoskopie Allensbach, das Deutsch-polnische Barometer des Deutschen Polen-Instituts, der Berlin Pulse der Körber-Stiftung, die Transatlantic Trends des German Marshall Fund und das Global Attitudes Project des Pew Research Center in den USA.
Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine beeinträchtigt auch das persönliche Sicherheitsgefühl der Menschen in Deutschland. Der Anteil derjenigen, die sich durch Krieg in Europa persönlich bedroht fühlen, hat sich im Vergleich zu 2021 verdreifacht – von 15 auf 45 Prozent (vgl. Abbildung 2).
Eine Mehrheit von 60 Prozent fühlt sich durch die Spannungen zwischen dem Westen und Russland bedroht (+37 Prozentpunkte). Und auch die Sorge vor einem weltweiten militärischen Wettrüsten hat mit dem Krieg in der Ukraine deutlich zugenommen (44 Prozent; +16 Prozentpunkte im Vergleich zu 2021). Es zeichnet sich hier eine Zeitenwende in der Bedrohungswahrnehmung ab, denn in den Vorjahren spielten diese sicherheitspolitischen Risikofaktoren lediglich eine nachgeordnete Rolle für das persönliche Sicherheitsgefühl; jetzt beeinträchtigen sie es sehr stark.
Russland hat den Krieg zurück nach Europa gebracht. Die Mehrheit der Deutschen empfindet Russland deshalb als Bedrohung für die nationale und persönliche Sicherheit. Diese Wahrnehmung unterscheidet sich zwischen den soziodemografischen Gruppen in der deutschen Bevölkerung nicht signifikant – allerdings ist das Russlandbild in Ostdeutschland nicht ganz so negativ (aber immer noch mehrheitlich negativ) wie in den übrigen Regionen der Republik. Im Osten ist dafür die Kriegsangst etwas größer. Diese eher geringfügigen Unterschiede in der Ausprägung einzelner Wahrnehmungen sollten jedoch nicht überbewertet werden, das heißt, es gibt in Ost- und Westdeutschland beim Thema „Russland“ keine Meinungslager, die sich unversöhnlich gegenüberstehen. Anderslautende Behauptungen spielen einzig den Populisten an den politischen Rändern und russischen Desinformationskampagnen in die Hände.
Abbildung 3: Bündnisverteidigung
Rückkehr zur Landes- und Bündnisverteidigung
Infolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hat sich auch die Haltung der Bürgerinnen und Bürger zur Bündnisverteidigung an der NATO-Ostflanke verändert: Ein vormals ambivalentes Meinungsbild ist einer mehrheitlichen Zustimmung gewichen (vgl. Abbildung 3).
So plädiert inzwischen eine absolute Mehrheit (53 Prozent; +22 Prozentpunkte im Vergleich zu 2021) dafür, dass Deutschland die baltischen Staaten militärisch unterstützen sollte, damit sich diese gegen Russland wehren können, 16 Prozent lehnen dies ab, und 27 Prozent haben eine ambivalente Haltung. Zudem sprechen sich 49 Prozent (+13 Prozentpunkte) dafür aus, dass die NATO ihre Präsenz in Osteuropa verstärken sollte, 22 Prozent lehnen dies ab, und 24 Prozent sind unentschieden. Auch die Missionen der Bundeswehr an der NATO-Ostflanke werden mehrheitlich unterstützt (Enhanced Forward Presence Litauen: 51 Prozent; +14 Prozentpunkte; Baltic Air Policing: 48 Prozent; +12 Prozentpunkte).
Weiterführende Analysen verdeutlichen, wie stark die öffentliche Zustimmung zur Verteidigung der NATO-Ostflanke von der wahrgenommenen Bedrohung durch Russland abhängt: Befragte, die Russland als Bedrohung für die Sicherheit Deutschlands wahrnehmen, stimmen allen oben genannten Aspekten der Verteidigung der NATO-Ostflanke im Durchschnitt sehr viel stärker zu (75 Prozent) als Befragte, deren Bedrohungswahrnehmung ambivalent (42 Prozent) oder nur schwach bis gar nicht ausgeprägt ist (34 Prozent).
Im Vergleich zu den Missionen an der NATO-Ostflanke erfahren die Auslandseinsätze der Bundeswehr im Rahmen des internationalen Krisenmanagements im Durchschnitt sehr viel weniger Zustimmung und werden vereinzelt sogar überwiegend abgelehnt (zum Beispiel im Irak oder in Niger). Die letzten zwanzig Jahre galt: „Die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt“, wie es der ehemalige Verteidigungsminister Peter Struck im Kontext des Afghanistaneinsatzes der Bundeswehr formuliert hatte. Diese Epoche der deutschen Sicherheitspolitik ist Geschichte. Inzwischen sind alle großen Auslandseinsätze der Bundeswehr beendet. Die Sicherheit Deutschlands und ganz Europas wird jetzt an der NATO-Ostflanke verteidigt. Dafür braucht es eine „kriegstüchtige“ Verteidigungsarmee.
Verteidigungsfähige Streitkräfte
Die Wiederherstellung der vollen Einsatzbereitschaft der Bundeswehr ist erklärtes Ziel der Politik. Dieses Vorhaben wird viel Geld kosten, denn um die Ausrüstung der Bundeswehr ist es bekanntermaßen nicht zum Besten bestellt. Dessen sind sich auch die Bürgerinnen und Bürger bewusst. Seit 2016 bewertet nur ein Viertel bis ein Drittel der Bürgerinnen und Bürger die Ausrüstung der Bundeswehr positiv (vgl. Abbildung 4). Im Jahr 2022 sind es 29 Prozent, während eine relative Mehrheit von 41 Prozent zu einem negativen Urteil kommt. Auch diese Befunde decken sich mit den Ergebnissen anderer Umfragen wie etwa des ARD-Deutschlandtrends vom Februar 2023.
Aus dem Gefühl der Bedrohung durch Russland, dem Wunsch nach Verteidigung und dem Bewusstsein für den kritischen Zustand der Bundeswehr erwächst eine stark gestiegene Bereitschaft, die Bundeswehr finanziell und personell zu stärken. Nahezu sechs von zehn Befragten befürworten im Jahr 2022 höhere Verteidigungsausgaben sowie eine Erhöhung der Zahl der Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, was einem Zuwachs von jeweils annähernd 20 Prozentpunkten im Vergleich zu 2021 entspricht (vgl. Abbildung 4). Nur eine Minderheit von sieben beziehungsweise fünf Prozent plädiert für eine Reduzierung der Wehretats beziehungsweise des Personalumfangs der Bundeswehr, während sich 29 beziehungsweise 31 Prozent für ein gleichbleibendes Niveau aussprechen. Die Befragungsstudie Sicherheitsreport 2023 des Instituts für Demoskopie Allensbach und das ZDF-Politbarometer vom Juli 2023 liefern ähnliche Ergebnisse.
Auf Nachfrage gibt die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in der ZMSBw-Befragung an, eine weitere Erhöhung der Verteidigungsausgaben zu befürworten, „damit die Bundeswehr ihre Aufträge erfüllen kann“ (64 Prozent Zustimmung; 10 Prozent Ablehnung) und weil es „in Anbetracht der Bedrohungslage erforderlich ist“ (65 Prozent Zustimmung; 10 Prozent Ablehnung). Tatsächlich hängt der gesellschaftliche Rückhalt für die finanzielle und personelle Stärkung der Bundeswehr entscheidend von der wahrgenommenen Bedrohung durch Russland ab: Befragte, die Russland als Bedrohung für die nationale Sicherheit sehen, unterstützen eine weitere Erhöhung des Wehretats (71 Prozent) und einen personellen Aufwuchs der Bundeswehr (68 Prozent) sehr viel stärker als Befragte mit einem ambivalenten (39 beziehungsweise 41 Prozent) oder schwach bis gar nicht (37 beziehungsweise 36 Prozent) ausgeprägten Bedrohungsgefühl.
Die Eckpfeiler der von der Bundesregierung ausgerufenen verteidigungspolitischen „Zeitenwende“ werden von der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger mitgetragen: Russland wird als Sicherheitsbedrohung eingeschätzt, die Landes- und Bündnisverteidigung wird als Hauptauftrag der Bundeswehr akzeptiert, und die Bundeswehr soll hierfür finanziell und personell besser aufgestellt werden. Getrieben wird der öffentliche Zuspruch zur Neuausrichtung der deutschen Verteidigungspolitik und zur Neuaufstellung der Bundeswehr von der wahrgenommenen Bedrohung durch Russland (vgl. Graf 2023; Graf et al. 2023). Dieser Zusammenhang ist Beleg für eine realistische Reaktion der Bevölkerung auf die veränderte Sicherheitslage, bedeutet aber auch: Mindestens ein Eckpfeiler der „Zeitenwende in den Köpfen“ ist wackelig.
Neue strategische Bewertung Russlands
Bedrohungswahrnehmungen sind tendenziell volatil, das heißt, ein Rückgang in der Medienberichterstattung über den Ukraine-Krieg, angebliche „Verhandlungsangebote“ seitens des russischen Präsidenten oder eine ausbleibende Debatte und Verständigung über die Implikationen dieses Krieges für unsere eigene Sicherheit könnten dazu führen, dass die wahrgenommene Bedrohung durch Russland wieder sinkt. Unter solchen Umständen droht auch der gesellschaftliche Rückhalt für die anderen beiden Eckpfeiler der „Zeitenwende“ ins Wanken zu geraten. Deshalb ist es wichtig, die neue strategische Bewertung Russlands als größte Gefahr für Europas Sicherheit in den öffentlichen sicherheits- und verteidigungspolitischen Diskurs mit aller Deutlichkeit einzuführen und als Konsens in Politik, Bevölkerung und Medien zu verankern – damit wir uns als Gesellschaft nicht mehr darüber verständigen müssen, ob und von wem wir bedroht werden, sondern uns mit aller Kraft darauf besinnen, wie wir der konkreten militärischen Bedrohung durch Russland effektiv entgegentreten können.
Aus diesem Grund ist auch der vom Bundesminister der Verteidigung Boris Pistorius in die öffentliche Debatte eingeführte Begriff der „Kriegstüchtigkeit“ richtig gewählt, denn er macht die reale Kriegsgefahr bewusst, mit der wir uns durch Russlands Aggression in der Ukraine und darüber hinaus konfrontiert sehen. Das aktuelle verteidigungspolitische Meinungsbild in der deutschen Bevölkerung öffnet für die Politik ein window of opportunity. Im Bewusstsein des großen Rückhalts in der Bevölkerung sollte die Politik die „Zeitenwende“ mit aller Entschlossenheit und der gebotenen Eile zur Umsetzung bringen. Dieses (Zeit-)Fenster gilt es zu nutzen, denn es wird vermutlich nicht allzu lange offenbleiben.
Timo Graf, geboren 1985 in Bremen, promovierter Politikwissenschaftler, wissenschaftlicher Oberrat im Forschungsbereich Militärsoziologie am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw), Potsdam, Leiter der jährlichen ZMSBw-Bevölkerungsbefragung im Auftrag des Bundesministeriums der Verteidigung.
Literatur
Graf, Timo: „Der Ukraine-Krieg als exogener Schock für das Russlandbild und die Bündnissolidarität in der deutschen Bevölkerung“, in: Hansen, Stefan / Husieva, Olha / Frankenthal, Kira (Hrsg.): Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine: Zeitenwende für die deutsche Sicherheitspolitik, Nomos Verlag, Baden-Baden 2023, S. 255–279, www.nomos-elibrary.de/10.5771/9783748933915/russlands-angriffskrieg-gegen-die-ukraine?page=1 [letzter Zugriff: 08.01.2024].
Graf, Timo / Steinbrecher, Markus / Biehl, Heiko: „From reluctance to reassurance: Explaining the shift in the Germans' NATO alliance solidarity following Russia's invasion of Ukraine”, in: Contemporary Security Policy, 06.12.2023, www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/13523260.2023.2286771?src= exp-la [letzter Zugriff: 08.01.2024].
Scholz, Olaf: „Die globale Zeitenwende. Wie ein neuer Kalter Krieg in einer multipolaren Ära vermieden werden kann“, Namensbeitrag des Kanzlers, in: Foreign Affairs, 05.12.2022, www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/kanzler-namensartikel-foreign-affairs-2149014 [letzter Zugriff: 08.01.2024].