Asset-Herausgeber

Zukunftspotenzial Soziale Marktwirtschaft

Eine kluge Ordnungspolitik für Klimaschutz, Digitalisierung, Bildung und Demografie

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Die Mischung aus festen Prinzipien und ihre Kraft bei der Bewältigung von Krisen hat die Soziale Marktwirtschaft in der Vergangenheit stark gemacht. Aber wie zukunftsfähig ist das Konzept heute? Auch nach der Bundestagswahl 2021 muss die Wirtschaftsordnung ihre Wesenskerne – Währungsstabilität, Wettbewerb und unternehmerische Freiheit – erhalten und markanter ausprägen. Das bedeutet jedoch nicht, dass keine neuen Akzente gesetzt werden müssten.

Die COVID-19-Pandemie wirkt wie ein retardierendes Moment im Rahmen der globalen und nationalen Aufgaben der Zukunftssicherung: Klimawandel, Digitalisierung, (Aus-)Bildung und Demografie. Das sind die ökologischen, ökonomischen und gesellschaftspolitischen Herausforderungen. Die Akzente haben sich im Vergleich zu den Anfangstagen der Sozialen Marktwirtschaft verschoben. Die Leitidee ist jedoch die gleiche: Der Staat spielt nicht die Hauptrolle bei der Bewältigung des Klimawandels, der Durchsetzung der Digitalisierung oder der Neuausrichtung des Rentensystems – er setzt die Spielregeln einer Rechts- und Wirtschaftsordnung fest. Akteure sind die Unternehmen und die (Wirtschafts-)Bürger. In ihrem Zusammenspiel liegen das Wissenspotenzial einer Gesellschaft und Antworten auf zentrale Fragen der kommenden Jahre.

An erster Stelle der Zukunftsaufgaben steht die Bewältigung des Klimawandels. Marktwirtschaft und Klimaschutz müssen in Einklang gebracht werden. Die COVID-19-Pandemie hat zusätzliche Handlungsfelder geschaffen, vor allem bei der Digitalisierung. Die rasante Entwicklung und Verbreitung digitaler Hilfsmittel, die während der Lockdowns große Teile der Gesellschaft und Wirtschaft am Leben hielten, sind nur eine Facette. Aber die Soziale Marktwirtschaft der Zukunft darf nicht nur die Leistungsträger im Blick haben. Neue Technologien sollten auch den sozial Schwächeren dienen. Und: Unter der Oberfläche ist während der Coronakrise ein neuer Konflikt aufgebrochen, der bisher in der Bundespolitik und der Öffentlichkeit wenig thematisiert wird: der demografische Wandel unserer Gesellschaft, von dem wir längst wissen, dass er durch die bestehenden Rentenkonzepte nicht adäquat gemeistert werden kann. Er wird zu einer Bedrohung für die Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. Längst werden Fragen gestellt: Warum zahle ich für ein Gesundheitssystem, von dem ich nicht „profitiere“? Weshalb soll ich privat vorsorgen, wenn ich gleichzeitig hohe Summen in die Rentenkasse einzahle?

 

Marktwirtschaft und Klimaschutz

 

Die Denker der Sozialen Marktwirtschaft haben früh erkannt, welche Bedeutung der Umwelt- und Klimaschutz haben werden. Alfred Müller-Armack hat 1961 eine Skizze für die zweite Phase der Sozialen Marktwirtschaft, die er als gesellschaftspolitische Phase kennzeichnete, entworfen. Die Umweltpolitik war ein integraler Bestandteil seiner Überlegungen. Die Schonung von Ressourcen, Anreize für Umweltschutz in Unternehmen und die Einbindung der gesamten Gesellschaft waren vor sechzig Jahren ein visionäres Konzept. Darauf lässt sich noch heute aufbauen. Aber eine strukturelle Anpassung ist notwendig. Heute sind Umwelt- und Klimaschutz das Tagesgeschäft, während wirtschaftspolitische Fragen in der öffentlichen Wahrnehmung zurückgetreten sind. Die Soziale Marktwirtschaft muss auch in den Dienst einer modernen Klimapolitik gestellt werden. Wohlstand für alle bedeutet heute: Erhaltung des Planeten für alle. Ordnungspolitik sollte stärker in den ökonomischen und politischen Kategorien der Umweltpolitik gedacht werden. Keineswegs dürfen die Grundprinzipien der Sozialen Marktwirtschaft unbeachtet bleiben, denn die Klimapolitik muss wie jedes andere Politikfeld von den Bürgern getragen werden und auf ihre freiwillige Zustimmung bauen.

Mehr Wettbewerb auf dem Markt der erneuerbaren Energien oder die Schaffung eines frei von Reglementierungen arbeitenden Wettbewerbs für CO2-Zertifikate sind lediglich zwei Beispiele, Marktwirtschaft und Klimaschutz zu verbinden. Ein weiteres ist die Elektromobilität. Bei jüngeren Menschen liegt die Zustimmung zu Elektrofahrzeugen laut einer Statista-Umfrage aus dem Jahr 2019 bei über achtzig Prozent. Diese Zustimmung ist nicht primär Ausdruck einer ökologischen Grundhaltung, sondern gründet vielmehr auf ökonomischen Überlegungen. Man kauft ein E-Auto, weil es sich finanziell lohnt. Junge Familien und Paare sparen durch E-Fahrzeuge Steuern und hohe Kraftstoffkosten. So lassen sich Steuervorteile und positive Auswirkungen auf das Klima verbinden. Und das ist keine Frage des Einkommens, denn auch bei einem kleinen monatlichen Budget ist dies ein Anreiz.

Ähnliche Überlegungen kommen auch beim Hausbau zum Tragen. Die Mehrkosten für Wärmedämmungen und niedrigenergetische Heizungen werden von jungen Häuslebauern gern gezahlt, wenn sie sich auf lange Sicht bei der Abgabenbelastung rechnen. Das ist keine Frage der Ideologie. Und dies wird oftmals verkannt, wenn über die radikale Haltung zum Klimaschutz bei einer vergleichsweise kleinen Gruppe junger Menschen berichtet wird. Viele von ihnen fahren morgens mit einem E-Fahrzeug, oft vom Land in die Stadt, zur Arbeit, da es wirtschaftlich sinnvoll für sie ist. Sie müssen gar nicht für Verbote von Verbrennungsmotoren, Klimalockdown und die sogenannte Deglobalisierung demonstrieren, sondern arbeiten bereits am marktwirtschaftlich verträglichen Klimaschutz. Die Ordnungspolitik sollte dabei in Zukunft dauerhaft helfen. Ein klimaorientiertes Handeln muss nicht per se mit Verboten arbeiten, da praktikablere (und liberalere) Lösungen längst Alltagspraxis sind.

 

Digitalisierung für die Gesellschaft

 

Welche Alternativen gibt es zu einer digitalen Wirtschaftswelt und einer Gesellschaft, die längst in allen Bereichen, von der Medizin bis zur öffentlichen Verwaltung, auf Apps und Tools setzt? Keine! Was bedeutet das für die Soziale Marktwirtschaft? Sie ist die „Wirtschaftsordnung für den Menschen“, wie Ludwig Erhard es formulierte. Sie zieht ihren Zweck nicht aus sich selbst oder dient zur Stützung einer Ideologie. Und sie fördert nicht allein den „Stärkeren“. Ihr wohnt der Gedanke der sozialen Irenik inne: Marktwirtschaftliche Effizienz wird mit sozialem Ausgleich in Einklang gebracht. Für die Verbindung von Digitalisierung und Effizienz findet man mühelos zahlreiche Beispiele, vom Wertpapierhandel in Millisekunden bis hin zur Etablierung weltweiter Vertriebswege. Welche guten Beispiele finden wir jedoch für die Frage, wie digitale Hilfsmittel den sozialen Ausgleich befördert haben? Es gibt nur wenige. Dazu zählen etwa lokale Marktplattformen für Farmer in Afrika, über die Produkte per App angeboten und gehandelt werden können. Aber welche App hilft einer alleinerziehenden Mutter in einer prekären wirtschaftlichen Situation in Deutschland? Nicht nur, dass sie kaum von der Digitalisierung profitieren kann – die fortschreitende technologische Entwicklung schadet ihr sogar. Schon wenige Jahre nach Ausstieg aus dem Berufsleben wird es schwieriger, an die frühere Karriere anzuknüpfen, wenn sich die Arbeitswelt rasch wandelt. Es ist Zeit, den Wesenskern unserer Wirtschaftsordnung zu stärken, der vor der Marktwirtschaft steht: das Soziale. Ein gutes Beispiel ist die digitale Bedarfserrechnung für einkommensschwache Familien. Statt endlose Onlineformulare auf der Website des Jobcenters auszufüllen, könnte eine Bezahl-App, die mit einem digitalen Haushaltsbuch gekoppelt ist, den tatsächlichen Bedarf für das tägliche Leben ermitteln. Das spart Zeit, Mühe und langfristig auch Geld, denn es ist individuell und transparent.

Ein anderes Handlungsfeld ist der Zugang zu Bildung. Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass die Vermittlung schulischer Inhalte über digitale Kanäle möglich ist. Allerdings war es für Lehrer und Schüler oftmals unbefriedigend. Hier gilt es, weiterzuarbeiten. Bildung ist ein Faktor für eine noch dynamischere Wirtschaftsordnung, ermöglicht aber auch den sozial Schwächeren effektiver als jedes staatliche Hilfsprogramm den Einstieg in eine erfolgreiche berufliche Karriere. Es gibt jedoch noch zu wenige und zu rudimentär entwickelte soziale Tools. Die Digitalisierung muss nicht entmenschlichen; sie kann dem Menschen auch Würde zurückgeben.

Das ist ein wichtiger Aspekt in einer Wirtschaftsordnung, in deren Zentrum der Mensch und sein Wohlbefinden stehen. Es wird deshalb ein Ziel sein müssen, die Digitalisierung der Wirtschaft nun auch stärker auf die Gesellschaft zu übertragen. Das gelingt, indem man die aufgenommenen Entwicklungsfäden durch Anreize weiterspinnt und auch den Mut hat, die Nutzer von ihnen profitieren zu lassen. Und das können insbesondere auch die schwächeren, vor allem aber auch die älteren Mitglieder unserer Gesellschaft sein.

 

Ordnungspolitische Rosskur im Rentensektor

 

Das einträgliche Miteinander der Generationen funktioniert nicht mehr störungsfrei. Die Zeiten nach der Finanz- und Wirtschaftskrise in den 2000er-Jahren waren ökonomisch gut für Rentner und für die Einzahler in das Sozialsystem. Die gute wirtschaftliche Entwicklung bescherte Renten- und Lohnerhöhungen. Aber in der Pandemie hat sich die Lage verändert. Manche stellen die Frage: Werden die Alten in unserer Gesellschaft bevorteilt? In den guten Jahren ließ sich darüber leicht hinwegsehen. Jedoch hat die Phase einer strauchelnden Wirtschaftsleistung im vergangenen Jahr deutlich gemacht, dass der demografische Wandel nur aufgrund der guten Situation am Arbeitsmarkt ignoriert werden konnte. Das geht nun nicht mehr.

Soll die Gesellschaft nicht entlang generationeller Grenzen auseinanderbrechen, dann ist eine ordnungspolitische Rosskur im Rentensektor notwendig. Ein erster Schritt könnte die steuerliche Entlastung der mittleren Einkommen und die gleichzeitige stärkere Förderung privater Vorsorgeleistungen sein. Die komplizierten halbstaatlichen Instrumente von Rürup bis Riester hatten ihre Chance, und sie wurde vertan. Es ist an der Zeit, dass der Kapitalmarkt als das angesehen wird, was er bereits seit seinen Anfangstagen ist: ein Instrument des Abfederns von Risiken durch eine langfristige Vermögensanlage. Wo würde dies besser zur Anwendung kommen als bei der privaten Vorsorge in einer Welt der Niedrigzinsen?

 

Entlastung durch individuelle Lösungen

 

Die künftige Ordnungspolitik wird hier einwirken und für Vertrauen werben müssen, denn nur dort sind auf absehbare Zeit hinreichende und dringend notwendige Zinserträge für die private Altersvorsorge zu erwarten. Und was ist mit den derzeitigen Leistungsempfängern? Sie profitieren ebenfalls. Wird das System der Solidargemeinschaft durch individuelle Lösungen entlastet, lässt sich das Niveau in der Gegenwart halten.

Aber auch die älteren Gesellschaftsmitglieder könnten einen Beitrag leisten. Es ist nicht Aufgabe der Sozialen Marktwirtschaft, dem Rentnerehepaar genügend Mittel zur Verfügung zu stellen, damit es sein großes Haus in bester Innenstadtlage unterhalten kann, in dem auch eine vierköpfige junge Familie leben könnte. Es wird die Aufgabe einer vernünftigen Ordnungspolitik sein, Anreize zur sinnvollen und ertragreichen Mobilisierung immobiler und ungenutzter Vermögenswerte von Rentnern zu schaffen. Zwang oder Gängelung sind hierzu nicht notwendig. Es ist zielführender, auf die Vernunft der Menschen zu setzen. Die Einzahler in das Rentensystem und die Bezieher von Leistungen erkennen besser als der Staat, was für sie individuell sinnvoll ist. Die Politik kann jedoch die richtigen Rahmenbedingungen schaffen, in denen jüngere Menschen die marktbasierte private Vorsorge und ältere die Mobilisierung von Vermögenswerten aus eigenem Antrieb verfolgen. Wettbewerb auf dem Markt und Stabilität in der Geld- und Fiskalpolitik sind hierfür wichtige Bestandteile.

Zugegeben: Einige unserer Forderungen erscheinen kühn. Aber sich auf die Soziale Marktwirtschaft und ihre Effizienz zu verlassen, hat sich in der Vergangenheit stets ausgezahlt. Die COVID-19-Pandemie hat eine neue Symbiose der Zusammenarbeit zwischen Politik und Wissenschaft begründet. Sie sollte künftig auch in der Wirtschaftspolitik stärker zum Tragen kommen. So kann sich die Soziale Marktwirtschaft weiterentwickeln. Sie bietet eines der wertvollsten Zukunftspotenziale.

 

Rolf H. Hasse, geboren 1940 in Berlin, 1981 bis 1998 Professor für Volkswirtschaftslehre, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, und 1998 bis 2006, Universität Leipzig, 1992 bis 1998 Direktor des Europa-Kollegs Hamburg, 2006 bis 2008 kommissarischer Leiter und Direktor des Fraunhofer-Zentrums für Mittel- und Osteuropa (MOEZ) in Leipzig, Sprecher des Promotionskollegs Soziale Marktwirtschaft der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Maximilian Kutzner, geboren 1989 in Hünfeld, promovierter Historiker, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neueste Geschichte, Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Mitglied des Promotionskollegs Soziale Marktwirtschaft der Konrad-Adenauer-Stiftung.

 

Bei dem Beitrag handelt es sich um den zweiten Teil der Serie „Mensch und Wirtschaft“, die in der Mai/Juni-Ausgabe 2021, Nr. 568, der Zeitschrift Die Politische Meinung eröffnet wurde und in der Mitglieder des Promotionskollegs Soziale Markwirtschaft der Konrad-Adenauer-Stiftung Fragen zur Sozialen Marktwirtschaft erörtern.

 

​​​​​​​Teil 1:

Hans Rusinek: Arbeit for Future? Von montags bis freitags die Welt retten, DPM 568 Mai/Juni 2021, S. 77-80, www.kas.de/de/web/die-politische-meinung/artikel/detail/-/content/arbeit-for-future.

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