Mit beispiellosen, unheilvollen Aktionen wie der Ausstellung „Entartete Kunst“ von 1937 hatte das NS-Regime die Zerschlagung der internationalen modernen Kunst in Deutschland verfolgt. Die als „entartet“ verfemten und mit Ausstellungsverbot belegten Künstler waren ins Ausland geflohen oder in die innere Emigration gegangen. 1945 stand Deutschland nicht nur vor einer realen, sondern auch vor einer geistigen Trümmerlandschaft. Es galt nun, kulturelle Aufbauarbeit zu leisten und die deutsche Bevölkerung an das Erbe heranzuführen, das durch die Barbarei der Nationalsozialisten verschüttet worden war. Doch auf welche Traditionen sollte man sich in der Kunst besinnen? Bot diese „Stunde Null“ nicht auch die Gelegenheit, sich neue Vorbilder anzueignen, die nicht länger aus der belasteten deutschen Vergangenheit schöpften?
Erwartungsgemäß fiel die Antwort in jeder der vier Besatzungszonen unterschiedlich aus. Grundlegend war jedoch überall die gleiche Idee: Für die ästhetische Umerziehung der Deutschen sollten vor allem die Werke jener Künstler herangezogen werden, die von den Nationalsozialisten aus dem Land gejagt oder mit Berufsverboten belegt worden waren. In den drei westlichen Besatzungszonen wurde ein umfangreiches Programm zur „Re-Education“ der Deutschen ins Leben gerufen. Mit Ausstellungen, Lesungen und ähnlichen Aktionen, in denen Werke der klassischen Moderne thematisiert wurden, sollte grundlegende demokratische Bildungsarbeit geleistet werden.
Auch in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) hatten ehemals verfemte Künstler zunächst Hochkonjunktur. Nach Kriegsende waren die meisten emigrierten linksorientierten Künstler dorthin zurückgekehrt. Mit Hans und Lea Grundig, Horst Strempel oder Theo Balden feierte die sogenannte „proletarisch-revolutionäre“ Kunst in der SBZ ein kurzes Wiederaufleben. Die Übergangsphase bis zur Gründung der DDR war von einer verhältnismäßig liberalen Kunstpolitik geprägt. Ein Beispiel dafür ist die 1946 in Dresden organisierte „Allgemeine Deutsche Kunstausstellung“. In dieser größten deutschen Schau der ersten Nachkriegsjahre wurden Werke von Künstlern aus allen Besatzungszonen gezeigt.
Die Toleranz allen kulturellen Äußerungen gegenüber sollte jedoch nicht lange andauern. Mit Unterstützung der Sowjetischen Militäradministration festigte die Sozialistische Einheitspartei (SED) ihre Machtposition und setzte auch im kulturellen Sektor auf Zentralisierung und Ausschaltung jener Tendenzen, die mit der von Moskau vorgegebenen Kulturästhetik nicht konform waren. Diese wurde unter der Bezeichnung „sozialistischer Realismus“ verbreitet.
Abstraktion und sozialistischer Realismus
Der Doktrin des sozialistischen Realismus gemäß sollte Kunst affirmativ sein und in einer typisierten, leicht erkennbaren Bildsprache das Ideal einer im Aufbau befindlichen sozialistischen Gesellschaft verkörpern. Werke, die nicht in dieses Schema passten, wurden pauschal des „Formalismus“ bezichtigt. Der Vorwurf zielte nicht nur auf die im Westen praktizierte abstrakte Malerei, er richtete sich auch gegen jene aus der Emigration zurückgekehrten Künstler in der DDR, die sich einer expressionistischen Formensprache bedienten, um Kriegsgräuel und Verfolgung zu thematisieren. Bilder dieser Art waren nicht erwünscht, denn sie verstießen gegen das Gebot einer ausschließlich positiven Darstellung von Menschen, die tatkräftig und dynamisch mit dem Aufbau des Sozialismus beschäftigt waren.
Während die DDR „Formalisten“ ins Abseits drängte, trat in der Bundesrepublik in den 1950er-Jahren die internationale, weitgehend ungegenständliche Moderne ihren Siegeszug an. Innerhalb der bundesrepublikanischen intellektuellen Elite herrschte weitgehend Konsens darüber, dass die abstrakte, von inhaltlichen und ideologischen Bezügen „befreite“ Kunstsprache zu bevorzugen sei. Inhaltsleere wurde mit Freiheit gleichgesetzt und als Zeichen höchster künstlerischer Autonomie gewertet. Realismus hingegen galt als „Stil der Unfreiheit“, als Kunst hinter dem Eisernen Vorhang, wo man wie im Dritten Reich alle schöpferischen Kräfte fessele. Es sei völlig verfehlt, die Kunst zum Träger eines politischen Gedankens zu machen, war der allgemeine Tenor. Auf der zweiten documenta 1959 in Kassel feierte die Abstraktion, zur „Weltsprache“ erhoben, ihren Triumph in der Bundesrepublik. Die uneingeschränkte Bejahung der abstrakten Kunst fußte ebenfalls auf weltanschaulichen Grundannahmen.
„Tauwetter“ im Osten
Die Überwindung des sozialistischen Realismus in der DDR setzte zu Beginn der 1960er-Jahre mit der Rehabilitierung der sogenannten „proletarisch-revolutionären“ Kunst aus der Weimarer Republik ein. Künstler wie Käthe Kollwitz, Ernst Barlach, Otto Dix oder George Grosz waren nun wieder salonfähig und wurden in die Tradition einer „sozialkritischen“ Kunst gestellt. Die Rehabilitierung sozialkritischer Kunst der jüngeren Vergangenheit legitimierte zugleich neue künstlerische Positionen, die aus dieser Tradition schöpften. Neben optimistischen, das sozialistische Weltbild bejahenden Werken waren nun auch Arbeiten zulässig, die Kritik übten: Themen wie Umweltverschmutzung, der Kalte Krieg oder Missstände in den kapitalistischen Staaten galten als abbildungswürdig. Dass trotz aller Öffnung Kritik am sozialistischen System nicht stattfinden durfte, muss hier kaum erwähnt werden. Die Bilder des sozialistischen Realismus verschwanden allmählich und wurden von nüchternen und betont sachlichen Darstellungen des sozialistischen Alltags sowie von Werken abgelöst, die scheinheilig ihren moralischen Zeigefinger gen Westen erhoben.
„Alles fließt“: Neue Kunst in der Bundesrepublik
Als Kunst der Zwischenräume übte die von den USA ausgehende Fluxus-Bewegung wichtige Impulse auf die Kunst in der Bundesrepublik aus. Ähnlich wie die sozialkritischen Künstler sah sich Fluxus in der Tradition engagierter Kunst der 1920er-Jahre. Allerdings führte diese Aneignung zu völlig unterschiedlichen, geradezu konträren Resultaten. „Die Fluxus-Ziele sind soziale (nicht ästhetische)“, schrieb der in New York lebende Fluxus-Künstler George Maciunas an seinen westdeutschen Kollegen Tomas Schmit, und diese Ziele seien strikt gegen das Kunstwerk als funktionslose Ware. Das dadaistische Konzept der „Anti-Kunst“, auf das sich Fluxus-Vertreter beriefen, umfasste die Absage an die Verwertungs- und Vermittlungsmechanismen des Kunstmarktes und entsprach Bestrebungen, sich dem Establishment zu widersetzen.
Angeregt durch Maciunas und Nam June Paik, organisierte Joseph Beuys 1963 in der Aula der Düsseldorfer Akademie ein Fluxus-Fest, das für viele der Anwesenden zu einem einschneidenden Erlebnis wurde. Die Performance als eine sich der Kommerzialisierung (vermeintlich) entziehende Kunstform verbreitete sich, nicht zuletzt dank der aufsehenerregenden Aktionen von Joseph Beuys oder Wolf Vostell.
Auch Gerhard Richter, der zu dieser Zeit an der Düsseldorfer Akademie studierte, ließ sich zusammen mit Sigmar Polke und zwei weiteren Kollegen von den Fluxus-Aktionen zu einer „Demonstration für den kapitalistischen Realismus“ in einem Düsseldorfer Möbelhaus inspirieren. Den Flirt mit Dada und die Verweigerungshaltung dem Kunstmarkt gegenüber gaben die beiden aber bald wieder auf, um zur Malerei zurückzukehren. Auch wenn ihre in der Folge entstandenen Bilder teilweise figürlich sind, haben sie mit den bedeutungsschweren Leinwänden ihrer Kollegen aus der DDR wenig gemeinsam.
Alltag im Sozialismus
Zu Beginn der 1970er-Jahre vollzog sich eine erneute Weichenstellung in der ostdeutschen Kulturpolitik. Auf dem VII. Parteitag der SED im Jahr 1971 regten Kulturfunktionäre an, die „Breite und Vielfalt der neuen Lebensäußerungen“ zum Thema künstlerischer Auseinandersetzung zu machen. Die Schilderung des Lebensalltags wurde als ein neues künstlerisches Feld entdeckt. Vor allem in Leipzig tätige Künstler wie Wolfgang Mattheuer, Uwe Pfeifer oder die Fotografin Evelyn Richter setzten sich mit ihrem Alltag im Sozialismus auseinander. Ihr kritischer Blick entlarvt die Diskrepanz zwischen dem Individuum und der von ihm geforderten sozialen Funktion.
In diesen schier unüberbrückbaren kunstästhetischen Differenzen zwischen Ost und West gab es aber auch Momente der Annäherung. Der westdeutsche Maler Jörg Immendorff, der 1976 auf der Biennale in Venedig in einer Flugblattaktion zum künstlerischen und politischen Austausch der internationalen Künstlerschaft aufgerufen hatte, reiste wenig später nach OstBerlin, um sich mit A. R. Penck zu treffen. Sie gründeten das Austauschund Aktionsbündnis „Penck mal Immendorff – Immendorff mal Penck“. Unter dem Motto „Die Freude am Malen und der Wunsch, die Mauer zu überwinden – verbinden“ durchleuchteten sie die unterschiedlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen in den beiden deutschen Staaten und plädierten für den Abbau von Vorurteilen, die Grenzen zementieren.
„Neue Wilde“ überall?
Die 1980er-Jahre sind in künstlerischer Hinsicht mit der Vorstellung neuer, eruptiver Kreativität und einer großen stilistischen Diversität verbunden. In West-Berlin, Köln und Düsseldorf trat eine Generation junger Künstler in Erscheinung, die frei von ästhetischer Ideologie eine zutiefst subjektive Kunst schufen. Mit abstrakt-expressivem Malgestus oder in gewollt kindlich-naiver Manier stellten diese Künstler eine Zerrissenheit zur Schau, die sowohl das Subjekt als auch die Konsumgesellschaft ins Visier nahm. Rainer Fetting, Helmut Middendorf und Salomé zählten zu den Protagonisten der „Neuen Wilden“ in Berlin, ihre gestische Malerei ist, trotz ihrer radikalen Kunstsprache, ohne den Expressionismus nicht denkbar. In Köln und Düsseldorf hingegen etablierte sich mit Martin Kippenberger, Albert Oehlen oder Werner Büttner eine Riege von Künstlern, die mit Humor und parodistischen Mitteln, absichtlich schlecht gemalten und den Kitsch feiernden Bildern den Kunstbetrieb vorzuführen suchten.
Auch die DDR verzeichnete in den 1980er-Jahren eine markante Diversifizierung der künstlerischen Ausdrucksmittel. Auf der einen Seite stehen bedeutungsschwere und handwerklich perfekt ausgearbeitete Bilder nach altmeisterlicher Manier, wie sie beispielsweise Werner Tübke oder auch Willi Sitte malten. Sie greifen auf weit zurückliegende künstlerische Traditionen zurück. Auf der anderen Seite hatte die Kunst in der DDR auch ihre „neue Wilden“, vor allem durch die in Dresden tätigen, sogenannten „Autoperforationsartisten“. Zu ihnen gehörten Künstler wie Micha Brendel, Else Gabriel oder Via Lewandowsky. In sorgfältig inszenierten Aktionen arbeiteten sie nach eigener Aussage auf die „Lösung des Gefühlsstaus“ in der DDR hin. Ihre verausgabenden Performances, mit denen sie die Grenzen der körperlichen Belastbarkeit ausloteten, waren als subversive, letztlich politische Geste gemeint, mit denen sie den immer offenbarer werdenden Untergang der DDR begleitend kommentierten.
Ein Land – eine Kunst?
Die Wiedervereinigung Deutschlands räumte die ästhetischen Barrieren, die zwischen Ost und West errichtet worden waren, endgültig zur Seite. Nach 1990 näherten sich die beiden Kunstsysteme nicht nur institutionell, sondern auch inhaltlich an. Damit ist aber nicht gemeint, dass es zu einer bundesweiten ästhetischen Homogenisierung kam. Vielmehr setzte sich überall ein Klima der breiten Diversifizierung und künstlerischen Neuorientierung durch, in dem aber so manche künstlerische Tradition erhalten blieb. Es wurde jedoch nicht nur Bestehendes bewahrt und breiter gestreut; die politische Einheit setzte auch innovative Kräfte frei, die zu neuen künstlerischen Phänomenen führen. Das beste Beispiel dafür ist die sogenannte „Neue Leipziger Schule“, unter der Künstler wie Neo Rauch, Tim Eitel oder auch Arno Rink subsumiert werden. Die Merkmale dieser Schule vereinen in sich gewissermaßen die ästhetischen Charakteristika von Ostund Westdeutschland. In der Betonung des Handwerklichen und der weitgehenden Beibehaltung der Figuration macht sich die ostdeutsche Tradition bemerkbar, während die Assoziationsfreiheit und Vieldeutigkeit der Bildthemen und -motive die bundesrepublikanische Kunst des Westens evoziert.
Es wäre sicher nicht angemessen, die Neue Leipziger Schule als „die“ deutsche Kunst des 21. Jahrhunderts zu betrachten. Dennoch trägt auch sie Merkmale eines im besten Sinne des Wortes „neuen“ malerischen Stils in sich: Sie eignet sich Vergangenes an, kombiniert diese Versatzstücke mit nie dagewesenen ästhetischen Ansätzen, aus denen sich jener kreative Mehrwert generiert, der für das Neue in der bildenden Kunst steht.
Roland Prügel, geboren 1971 in Temeswar (Rumänien), seit 2015 Leiter des Deutschen Kunstarchivs und der Sammlung Kunst ab 1945 im Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg.
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