Asset-Herausgeber

Zwischen Hosianna und „Kreuzigt ihn!“

Über die politische Leidenschaft des Helmut Kohl

Helmut Kohl: Aus Sorge um Europa. Ein Appell, Droemer Verlag, München 2014, 120 Seiten, 12,99 Euro. || Henning Köhler: Helmut Kohl. Ein Leben für die Politik. Die Biografie, Quadriga, Bastei Lübbe, Köln 2014, 1001 Seiten, 32,00 Euro.

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„Wie hältst du’s mit Helmut Kohl?“ lautet seit einiger Zeit die Gretchenfrage unter Journalisten, Publizisten und Historikern. Große Staatsmänner wie Kohl unterscheiden sich von der Vielzahl gewöhnlicher Politiker dadurch, dass sie entweder Kriege gewonnen, große Vertragswerke zustande gebracht oder Weltbewegendes erreicht haben. An solchen Persönlichkeiten, meist eigenwillig, mit klaren Standpunkten, aber auch Widersprüchlichkeiten, reiben sich Medien und Bürger nur allzu gerne. Folglich schwankt ihr Bild in der Geschichte, zwischen einem „Hosianna“ oder „Kreuzigt ihn!“ Der Umgang mit Helmut Kohl macht da keine Ausnahme.

Politiker im Allgemeinen und Staatsmänner im Besonderen leiden darunter, von Zeitgenossen und nachkommenden Historiker-Generationen falsch verstanden und interpretiert zu werden. Kaum einer vermag ihr Handeln in komplizierten Konstellationen und die antreibenden Motive exakt wiederzugeben. Darum schreiben sie Memoiren und wollen berichten, wie es wirklich war. Es geht ihnen um Wahrheit, Richtigstellung falscher Geschichtsbilder, das Widerlegen von Mythen und auch um Deutungshoheit. Kritiker zeihen sie gewöhnlich der Subjektivität. Geben Staatsmänner aufgrund ihres Erfahrungsschatzes Ratschläge oder äußern Besorgnis, schallt ihnen nicht selten der Vorwurf entgegen, sie könnten von der Politik nicht ablassen. Wenn obendrein Journalisten vertrauliche Bemerkungen mit hämischem Unterton ohne Autorisierung publizieren, kennt der öffentliche Voyeurismus keine Grenzen. Alles das hat Helmut Kohl in letzter Zeit am eigenen Leibe erfahren.

Seine Verdienste um Volk und Vaterland sind zwar vielfach gewürdigt worden. Kritiker versuchen jedoch immer wieder, seine Lebensleistung zu schmälern, vornehmlich beim Zustandekommen der Wiedervereinigung. Nun fühlt sich ausgerechnet ein ansonsten streitfreudiger Historiker wie Henning Köhler – jahrelang hat er Kollegen verteufelt, sie betrieben mit ihren Werken zur Historie der Bundesrepublik Deutschland im Sinne der Regierenden „Geschichtspolitik“ – bemüßigt, Helmut Kohl ins rechte Licht zu rücken und „die grandiose politische Leistung dieses Mannes zu würdigen“. Angesichts der Zerrbilder, die seit über dreißig Jahren von ihm gezeichnet würden, habe er es nicht verdient, „wegen einer Spendenaffäre der Verdammung anheimzufallen“. Braucht der Kanzler der deutschen Einheit und Ehrenbürger Europas diese Ehrenrettung? Nein. Kohls Lebensleistung steht für sich und ihre historische Bedeutung.

Mittels „objektiver Geschichtsschreibung“ will Köhler das aktuelle Kanzlerbild hinterfragen. Heraus kommt eine über weite Strecken harmonisierende Darstellung der Lebensgeschichte. Der Biograf wählt die Methode Rankes, das Narrativ, durchsetzt mit milieubezogenen Erklärungsmustern. Neues über Helmut Kohl fördert er kaum zutage. Der Erzählung liegen hauptsächlich publizierte Quellen und die Protokolle der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion zugrunde. Keineswegs verwerflich ist sein Versuch, den Menschen Helmut Kohl zu verstehen und daraus dessen Politik zu deuten. Das betrifft besonders die traumatische Erfahrung im Zweiten Weltkrieg, den Verlust des Bruders Walter, Zerstörung, Vertreibung und seine große Heimatverbundenheit. „Nie wieder Krieg“ heißt die Devise Helmut Kohls. Überdies zeichnet ihn Gradlinigkeit in der Haltung zur nationalen Einheit und beim Ziel der politischen Union Europas aus.

 

Kaum Neues!

Köhler schreibt vieles Kohls politischer Sozialisation zu. Katholisches Elternhaus in der Pfalz, frühe Vermittlung demokratischer Werte, Auseinandersetzung mit Fragen der christlichen Soziallehre und des Marxismus wecken sein Interesse an Politik. Als Oberschüler habe er mehr die soziale Gerechtigkeit im Sinne gehabt denn die Vertretung von Wirtschaftsinteressen. Die Anziehungskraft der politischen Praxis und die Neugierde auf Menschen seien für Kohl entscheidende Motive gewesen, Politiker zu werden und in der CDU Karriere zu machen. Seine durchweg demokratische Haltung, aber auch eine gewisse Scheu vor politischen Konflikten, wenn kein Erfolg absehbar war, sieht Köhler als die besonderen Eigenschaften Helmut Kohls. Damit erklärt er sowohl dessen Festhalten am NATO-Doppelbeschluss als auch die Neigung, als Kanzler Entscheidungen hinauszuzögern und erreichbare Kompromisse in der Koalition zu suchen.

Kohl verkörpert den Prototypen eines Berufspolitikers, wie ihn Max Weber („Politik als Beruf“, 1919) beschrieb: leidenschaftlich, verantwortungsbewusst und mit Augenmaß handelnd. So entsteht Vertrauen der Bürger in die persönliche Integrität ihrer politischen Repräsentanten, ein Vertrauen, das Kohl eine 16-jährige Regierungszeit bescherte.

Mehr als die Hälfte des Bandes befasst sich mit dieser Ära Kohl, die in zwei Abschnitte vor und nach der Wiedervereinigung unterteilt ist. Der Fokus liegt auf innenpolitischen Vorgängen, die allesamt schon hinlänglich beschrieben wurden: Nachrüstungsdebatte Anfang der 1980erJahre, Überwindung der wirtschaftlichen und finanzpolitischen Misere, Milliardenkredit an die DDR, Kießling- und Flick-Affäre, die Querelen um den Bitburg-Besuch mit US-Präsident Ronald Reagan, Erich Honeckers Visite in Bonn, Kohls parteiinterne Duelle mit Generalsekretär Heiner Geißler und dessen Umsturzversuch zusammen mit Lothar Späth vor dem Bremer CDU-Parteitag 1989.

Für das Kapitel über den Prozess der deutschen Wiedervereinigung greift Köhler auf seit 1998 bekannte Dokumente aus dem Bundeskanzleramt zurück. Gelegentlich spekuliert er lieber, anstatt den Gründen nachzuforschen, etwa warum damals Materialien zum EG-Gipfel Anfang Dezember 1989 in Straßburg nicht veröffentlicht wurden. Auf diesem Gipfel waren ein eisiger Wind und große Furcht vor einem wiedervereinigten Deutschland dem Kanzler entgegengeschlagen. Auch spielt er die Gipfelbegegnung von Bush und Gorbatschow Anfang Juni 1990 in Washington herunter, auf der beide ein grundsätzliches Einvernehmen in der Frage der NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschland erzielten. Das Treffen Kohls mit Gorbatschow im Kaukasus erstrahlt so in noch hellerem Glanz. Köhler übersieht geflissentlich, dass Kohl selbst bereits fünf Monate zuvor Bush in Camp David sagte, Gorbatschow wolle selbstverständlich das „Geschäft“ zuerst mit dem amerikanischen Präsidenten machen.

 

Soße der Eintracht

Im Mittelpunkt der zweiten Hälfte der Ära Kohl in den 1990er-Jahren stehen die Mühen um den Aufbau Ost und die Auseinandersetzungen mit der Opposition, die über den Bundesrat immer mehr die Reformprojekte der Regierung Kohl blockierte. Der europäischen Integrationspolitik, dem Zustandekommen des Maastricht-Vertrags einschließlich der Europäischen Union, den wichtigen Entscheidungen über den Stabilitätspakt und zur Einführung des Euros werden nur wenige Seiten gewidmet. Zentrale Fragen wie beispielsweise die deutsch-französischen Beziehungen, speziell das Verhältnis zu François Mitterrand, finden meist in Floskeln Erwähnung. Alles war nur „Freundschaft“, „Einzigartiges“ und „Übereinstimmung“. Kein Wort zu handfesten Auseinandersetzungen, Interessengegensätzen oder Auffassungsunterschieden zwischen beiden. Über alles wird die Soße der Eintracht gegossen. Differenzierte Analysen oder Blicke aus dem Ausland fehlen völlig. Köhler hebt den Außenpolitiker Kohl als „ehrlichen Makler“ hervor, nicht zuletzt gegenüber Russland, der letztlich nur „helfen“ wollte und dafür als „Machtmensch“ von politischen Gegnern und den Medien beschimpft wurde. Doch sind Staatsmänner jemals frei von Kalkül und Machtgespür? Die Biografie, mit viel Empathie geschrieben, gerät zu sehr zu einer Rechtfertigungsschrift für Kohls Tuns und ist somit eine „Neubewertung“, wie es der Verlag ankündigt.

 

Spürt die Gefahr und mahnt

Helmut Kohl ist Politiker aus Leidenschaft, den auch im hohen Alter die Sorge um die politische Union Europas nicht loslässt. Er spürt die Gefahr und mahnt. Historisch betrachtet, sei der europäische Einigungsprozess ein „einzigartiger Erfolg“, die Bewahrung von Frieden und Freiheit keine Selbstverständlichkeit. In Zeiten wachsender Nationalismen, Missachtung selbst gesetzter Verhaltenskriterien sowie heftiger Wirtschafts- und Finanzkrisen erinnert Kohl in „Aus Sorge um Europa“ an bewährte Grundsätze, die er in seiner Regierungszeit befolgte. Die weitere Vertiefung der Einigung muss Vorrang vor der Erweiterung haben, also Qualität vor Quantität. Daher kamen erst der Euro und dann die Erweiterung um die ostmitteleuropäischen Staaten in Betracht. In der Europäischen Union (EU) dürfen kleinere Staaten von großen nicht übergangen werden. Die Union soll Hilfe zur Selbsthilfe leisten und nicht Subventionen um ihrer selbst willen verschlingen. Reformen der EU müssen fortgesetzt werden, vor allem um die Dominanz nationaler Interessen einzudämmen. Als maßgebliche Gründe für das heutige Dilemma sieht Kohl zwei Fehlentscheidungen und weist die Schuld dafür der rotgrünen Regierung unter Gerhard Schröder zu: zum einen die Aufnahme des überschuldeten Griechenland 2001 in den Euroraum, zum anderen der Bruch des Stabilitätspakts 2003 durch die damalige Bundesregierung. Einmal mehr stellt Kohl klar: Als er Kanzler war und über die Einführung des Euro entschieden wurde, gab es in Deutschland keine Mehrheit für die Abschaffung der D-Mark. Gleichwohl haben die Deutschen rasch die Vorteile des Euros erkannt. Dem Entschluss lag auch kein Tauschgeschäft für die Wiedervereinigung zugrunde – und erst recht existierte keine Haftungszusage der Gemeinschaft für die Verschuldung von Mitgliedstaaten der Eurozone. Eine Transfer-Union habe er stets abgelehnt. Nicht Konstruktionsfehler bei Schaffung der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, die ihm zu einem großen Teil zugeschrieben werden, hätten zur aktuellen Misere geführt, sondern mangelnde Rechtstreue europäischer Entscheidungsträger zu Verträgen und Vereinbarungen. Ihnen fehle Ernsthaftigkeit und letztlich Kompromissbereitschaft, um Frieden, Stabilität und Prosperität in Europa zu erhalten. Sein Appell: Verspielt die „historische Chance“ nicht! Schließlich habe der Westen gegenüber Russland Fehler gemacht, denen allein mit beharrlicher Gesprächsbereitschaft beizukommen sei.

Selbst wer nicht alle Kritikpunkte Helmut Kohls teilt: Dass ein geeintes Europa in Frieden und Freiheit sein Herzensanliegen ist, wird niemand bestreiten.

 

Hanns Jürgen Küsters, geboren 1952 in Krefeld, Leiter der Hauptabteilung Wissenschaftliche Dienste / Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung.