Peer Steinbrück ist nun wieder das, was er vor gut einem Jahr schon war: Bundestagsabgeordneter ohne herausgehobenes Amt, Hinterbänkler quasi. Nur sein Salär dürfte sich in den vergangenen Monaten deutlich verringert haben, schließlich musste er honorarfrei auf Plätzen und Straßen „Klartext“ reden. Nicht, dass Mitleid angesagt wäre. Der 66-Jährige wählte sein Schicksal schließlich selbst. Doch obwohl der Mann künftig keine tragende Rolle mehr spielen wird, ist er nicht bloß Geschichte. Der Wahlkampf 2013 mit dem vermeintlichen Duell von Kanzlerin und Herausforderer sollte zu denken geben. In der Politik und der politischen Berichterstattung haben sich Fehlentwicklungen eingenistet, die man in Zukunft tunlichst vermeiden sollte. Die extreme Personalisierung des Wahlkampfes entspricht nicht unserem demokratischen System. Anders als in den USA geht es hierzulande eben nicht darum, zwischen zwei Personen auszuwählen, mag diese Wahl auch noch so sehr eine Merkel-Wahl gewesen sein. Für alle Parteien – außer für die Union, solange diese eine unangefochtene Kanzlerin stellt – liegt hier das Kernproblem.
Steinbrück hatte sein Standing mit Positionen erlangt, die nicht zum Programm der SPD eines Sigmar Gabriel passen. Der ehemalige Bundesfinanzminister war ein Befürworter der Agenda 2010 und ein Gegner der Umverteilung von oben nach unten. Genau das Gegenteil aber musste er mit seiner Nominierung vertreten. Insofern war er der falsche Kandidat. Steinbrück hätte Angela Merkel gefährlich werden können, wenn er sie auf ihrem Terrain angegriffen, wenn er sich als wirkliche Alternative für eine bürgerliche Politik präsentiert hätte. Nachdem er wegen seiner Honorare massiv unter Druck geraten war, sah er sich seiner Partei gegenüber zum Entgegenkommen verpflichtet. Das machte ihn letztlich unglaubwürdig. Kandidat und Programm bildeten keine Einheit.
Auch die Grünen glaubten, ohne einen Spitzenkandidaten nicht auszukommen, beziehungsweise nach ihrem Proporzdenken musste es gleich ein Duo sein, das eigentlich von der politischen Positionierung her Fundi- und Realo-Flügel hätte abdecken sollen, diesem Anspruch aber durch die Neuausrichtung von Katrin Göring-Eckardt nicht gerecht wurde. Hier passten somit vielleicht Kandidaten und Programm zueinander. Doch da die Pläne für eine grüne Regierungsbeteiligung vor allem von Jürgen Trittin geprägt worden waren, erfuhr die Positionierung der Partei eine Ausrichtung, die nicht mehr dem Kernanliegen der grünen Klientel entsprach. Die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit ist nun einmal kein urgrünes Thema. Das hartnäckige Festhalten der Spitzenkandidaten an ihrem sogenannten Gerechtigkeitswahlkampf entfremdete den Grünen einen Großteil ihrer Anhängerschaft.
Faszinierende Halskette und plakatierte Fingerhaltung
Das ganze Dilemma der Nummer-eins-Fokussierung offenbart das Schicksal von Rainer Brüderle als FDP-Spitzenmann. Als Wirtschaftsminister und Fraktionsvorsitzender war der 68-Jährige der starke Mann der Liberalen. Er hatte durch seine Politik überzeugt und einen wirkungsvollen Kontrast zu dem jungen Parteivorsitzenden Philipp Rösler geboten. Doch mit seiner Nominierung zur Nummer eins und der kurz darauf erfolgten medialen Diffamierung als sexistischer Sprücheklopfer begann sein Niedergang, von dem er sich nicht mehr erholte. Brüderle war angeknackst – und dann nach einem schweren Sturz auch noch körperlich angeschlagen. Person und Programm passten bei der FDP zwar zusammen, doch der geschwächte Frontmann konnte seine Truppen nicht erfolgreich führen.
Dadurch, dass die Parteien einen Leitwolf an ihre Spitze stellen, gilt auch das journalistische Interesse in erster Linie den Protagonisten ganz vorn. Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass Pinot Grigio und Stinkefinger, Pädophilie-Debatten und Fragen nach der persönlichen Konstitution weite Teile des Wahlkampfes dominierten. Selbst Angela Merkel spielte dieses Mal mehr als normalerweise üblich auf der Klaviatur des Menschelnden, plauderte über Back-Rezepte und Männeraugen. Dass zum Schluss hin selbst ihre Fingerhaltung zum Plakat wurde und ihr Halsschmuck die sozialen Netzwerke faszinierte, zeigt einmal mehr, wie sehr die Personalisierung des Politischen in weiten Teilen die Auseinandersetzung mit den Inhalten überlagert hat. Die Politik hat sich hier auf die Bedürfnisse der Medien eingelassen.
Die Schlagzahl bei der Schlagzeilen-Produktion hat sich, nicht zuletzt durch den Online-Journalismus, massiv erhöht. Es zählen allein Auflage, Einschaltquoten und Klickzahlen. Daneben ist ein neues Konsumentenverhalten zu beobachten. Verlangt wird vielfach nach Infotainment, nach personalisierter Berichterstattung. Sie verspricht den größten Zuspruch. Hinzu kommt das, was der Sozialwissenschaftler Niklas Luhmann als „selbstreferenzielles System“ bezeichnet: Die Medien orientieren sich so sehr an dem von ihnen erzeugten Selbstbild, dass ihnen die Diskrepanz zwischen Selbstwahrnehmung und Realität vielfach nicht mehr bewusst ist. Auf diese Weise entwickelt sich ein informationeller Mainstream, der nur selten durchbrochen wird. So ist der „Pannen-Peer“ dann ganz schnell eine Selbstverständlichkeit.
Der Wulff und die journalistischen Herdentiere
Der Dortmunder Journalistik-Professor Tobias Eberwein spricht davon, Journalisten seien „Herdentiere“. Welche weitreichenden Folgen dies haben kann, zeigte unabhängig vom Wahlkampf die sogenannte Wulff-Affäre. Man wird sehen, welches Urteil das Landgericht Hannover letztlich fällt. Fest steht aber schon heute: Von den insgesamt 21 Punkten, die dem Alt-Bundespräsidenten öffentlich vorgehalten wurden, ist einer übrig geblieben. Dabei geht es um eine Einladung zum Oktoberfest im Wert von 800 Euro. Keine Kleinigkeit, sicher, aber doch ein Betrag, der die Frage aufwirft, ob er die mediale Vernichtung eines Staatsoberhaupts rechtfertigt. Medien müssen sich selbstkritisch eingestehen, zur Skandalisierung der Politik beizutragen. Das gern angestimmte Lamento über Politikverdrossenheit und Wahlverweigerung ist wohlfeil angesichts der in Teilen breit angelegten Diskreditierung der politischen Klasse. Wer lässt sich letztlich noch freiwillig auf das Unternehmen Politik ein, wenn alles Persönliche unter dem Brennglas liegt?
Hier ist allerdings ein durchaus fatales Wechselspiel im Gang. Christian Wulff hatte jahrelang die Medien genutzt, um an seiner Karriere zu feilen. Ähnlich jonglierte auch Karl-Theodor zu Guttenberg mit den Produkten des Boulevards. Als Großmeister des Florettkampfes mit den Medien kann Gerhard Schröder gelten. Von dem jüngsten SPD-Bundeskanzler stammt der Satz, er „brauche zum Regieren nur Bild, BamS und Glotze“. Eine Zeit lang glaubten Politiker sogar, sie könnten gewinnen, wenn sie tiefe Einblicke ins Private zuließen. Dabei hätte das Schicksal von Ex-Verteidigungsminister Rudolf Scharping nach der Veröffentlichung von Schmusefotos, die ihn mit seiner damals neuen Frau im Pool zeigten, hinreichend Warnung sein können.
Wagenknecht im Frida-Kahlo-Look
Doch sehen viele sich offenbar nach wie vor unter Druck, auf anderem Weg als über das Argument beim Publikum zu landen. Anders ist nicht zu verstehen, dass Andrea Nahles das Pippi-Langstrumpf-Lied im Bundestag singt oder Sahra Wagenknecht sich als Blumenmädchen im Frida-Kahlo-Look fotografieren lässt. Anders ist auch die Foto-Serie von Steinbrück nicht zu erklären. Aufmerksamkeit muss her, koste es, was es wolle, selbst um den Preis der Lächerlichkeit oder des Unseriösen. Hauptsache anders, scheint die Devise.
Auf anderen Feldern ist das schwer vorstellbar. Oder würde ein Karl Lagerfeld ins Fußballtrikot schlüpfen, um die Schalke-Fankurve zu begeistern? Würde ein Martin Winterkorn aufs Fahrrad umsteigen, um die Umweltbewegten zu erreichen? Glaubt man, Herta Müller würde singen, um die Aufmerksamkeit des Musikantenstadl-Publikums zu erlangen? Wer für eine wirkliche Marke steht, verlässt nicht deren Kern. Wer von dem überzeugt ist, was er tut, muss nicht auf anderem Terrain oder mit sachfremden Methoden Aufmerksamkeit erhaschen.
Hier liegt offenkundig das Problem vieler Politiker. Sie haben das Desinteresse am Politischen in weiten Teilen der Gesellschaft antizipiert und glauben offenkundig selbst der Überzeugungskraft ihrer eigenen Botschaft nicht mehr. Deshalb setzen sie auf den vermeintlich originellen Effekt, nutzen jede Gelegenheit zur Selbstinszenierung. „Selbstmediatisierung wird zu einer zentralen Strategie politischen Handelns in der Mediengesellschaft“, formuliert der Politikwissenschaftler Thomas Meyer, der die Theorie von der Mediokratie entwickelt hat. Dabei stelle sich allerdings die Frage, ob Politik „noch in angemessener Weise ihrer eigenen Logik folgen kann“. Unzufriedenheit mit und Ignoranz gegenüber dem Politischen und seinen Akteuren, die sich in sinkender Wahlbeteiligung ausdrücken, rühren nicht daher, dass Politiker nicht ausreichend menschlich, leutselig oder gar cool daherkämen. Zu Respekt führen Haltung und Überzeugungskraft. Dazu zählt allerdings weder das Schlüpfen in falsche Rollen noch das bewusste Überschreiten der Grenzen des guten Geschmacks.
Argumente statt Rollenspiele
Bei aller Oberflächlichkeit – am Ende wünscht das Publikum Authentizität. Politik muss durch die Kraft des Argumentes überzeugen, nicht durch Show, nicht durch neue Rollenspiele. Die Parteien sollten darum über ihre künftige Kandidatenkür nachdenken. Dieser Wahlkampf bot alles: den falschen Mann fürs Programm bei der SPD, das falsche Programm für die Partei bei den Grünen und einen Angeschlagenen ohne originäre Botschaft bei der FDP. Und dann zeigte dieser Wahlkampf noch die andere Seite: eine weit über die eigenen Parteigrenzen hinweg überzeugende Person bei der Union. Doch fehlte hier letztlich der strategische Weitblick, den absehbaren Erfolg so zu untermauern, dass er am Ende eine echte Machtoption bieten konnte. Nicht auszuschließen, dass genau das letztlich das größte Manko einer Personalisierung der Politik bleibt.
Martina Fietz, geboren 1959 in Oberhausen, Historikerin, Chefkorrespondentin von FOCUS Online.