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picture alliance/dpa | Jonas Walzberg

Islamisten sprechen die Sprache der Diskriminierung

Woke Islamismus: Eine gefährliche Allianz zwischen Islamisten und der 'woke' Bewegung im Westen. Von antirassistischen Diskursen bis zu progressiven Positionen nutzen Islamisten den Gerechtigkeitsdiskurs geschickt für ihre Zwecke. Einblicke von Lorenzo Vidino.

Öffentliche Bekenntnisse in Gerechtigkeitsfragen haben Konjunktur. Das «Wachsein» gegenüber tatsächlichen oder vermeintlichen Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen hat sich längst zu einer Standardhaltung entwickelt, die sich viele westliche Politiker, Medien und Unternehmen zu eigen machen. Antirassismus und entsprechende Awareness-Schulungen werden zum Alltag in Medien und Behörden. Konzerne schmücken ihre Websites in Regenbogenfarben, um ihre Verbundenheit mit der queeren Community zu demonstrieren – allerdings nur im Westen, im arabischen Raum verzichtet man lieber auf bunte Botschaften. 

Erstaunlicher ist, dass auch äußerst konservative, reaktionäre und nicht eben minderheitenfreundliche Geister auf der «wachen Welle» reiten: Islamisten, die religiöse Gebote traditionell über demokratische Werte stellen. Eine junge Generation von im Westen geborenen Aktivisten, die zwischen Muslimbrüdern, College-Campus und progressiven Milieus aufgewachsen ist, macht sich den Gerechtigkeitsdiskurs zu eigen, indem sie ihn zur Verbreitung islamistischer Positionen benutzt.

Die Zeiten, in denen bärtige Eiferer öffentlich Bücher verbrannten, wie 1988 während der Rushdie-Affäre, sind im Westen vorbei. Die Islamisten von heute sprechen die Sprache der Diskriminierung, des Antirassismus, der Unterdrückung, der Intersektionalität und der postkolonialen Theorie. Die Tendenz, das «Weißsein» und die vermeintliche Herrschsucht und Arroganz des weißen Mannes für die Probleme der Welt verantwortlich zu machen, passt perfekt zu der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Reaktion auf den Kolonialismus entstandenen politischen Ideologie des Islamismus. Im islamistischen Weltbild ist seither der (weiße) Westen für den Großteil der Probleme der muslimischen Welt verantwortlich.

In ähnlicher Weise passt die Identitätspolitik des sogenannten «Wokeism» perfekt zu der seit Langem bestehenden Forderung westlicher Islamisten, dass muslimischen Gemeinschaften religiös legitimierte Sonderrechte und eigene Rechtsprechungen zugestanden werden sollten. Während europäische Islamisten Ende des vergangenen Jahrhunderts offen für die Einführung von Elementen der Scharia eintraten und damit auf breite Ablehnung stießen, bietet die heutige Identitätspolitik Ansatzpunkte für eine differenziertere Argumentation: Nun behaupten sie, dass Muslime sogenannte «Safe Spaces» bräuchten, um vor dem «strukturellen Rassismus» der «Dominanzgesellschaft» geschützt zu sein und ihre Identität zu bewahren.

Der «woke Islamismus» manifestiert sich insbesondere in den Medien. Eines der bemerkenswertesten Beispiele ist Al Jazeera+, auch bekannt als AJ+. Dessen Mutterhaus, Al Jazeera Arabic, ist dafür bekannt, dass es mit Mitgliedern und Sympathisanten der islamistischen Muslimbruderschaft durchsetzt ist. Al Jazeera Arabic verbreitet regelmäßig islamistische Standpunkte und ist deshalb in mehreren arabischen Ländern verboten. Al Jazeera English wiederum bietet mehrheitlich objektiven Journalismus. AJ+ wiederum richtet sich mit kurzen, einfachen, aber professionell produzierten Nachrichten an die TikTok-Generation im Westen.

Gemäß Eigenwerbung handelt es sich um ein globales Medium, «das sich den Menschenrechten und der Gleichheit verschrieben hat», die Mächtigen kontrolliert, für soziale Gerechtigkeit kämpft und die «Stimmen marginalisierter Gemeinschaften verstärkt». Die meisten Themen von AJ+ haben oberflächlich betrachtet wenig oder gar nichts mit islamistischen Positionen zu tun. Sie beschuldigen die westlichen Gesellschaften jedoch auffällig oft, ethnische, religiöse und sexuelle Minderheiten zu unterdrücken und zu diskriminieren. Insbesondere der Einsatz für sexuelle Minderheiten und Positionen der LGBTQ+ Community wirft Fragen auf, denn Homosexualität wird in Katar – jenem Staat, dem AJ+ gehört – mit bis zu sieben Jahren Gefängnis bestraft.

Daneben werden auf AJ+ auch Themen behandelt, die besser zur klassisch islamistischen Agenda passen, etwa der Nahostkonflikt oder antimuslimische Stimmungen im Westen. Hier geht es vor allem darum, die AJ+-Zielgruppe mit islamistischen Standpunkten vertraut zu machen. So verteufelt AJ+ English regelmässig die US-Regierung, für vergangene und aktuelle Sünden. Dem jungen Publikum werden Geschichten gezeigt wie «Das Regierungskomplott zur Auslöschung indigener Sprachen», «Die wahre Geschichte von Alamo: vergiss, was Du in der Schule gelernt hast», oder: «Kapitalismus ist eine Krankheit». Geopolitische Gegner der Islamisten werden besonders gern kritisiert, zum Beispiel Indien oder Israel, wo streikende Palästinenser gezeigt werden, die gegen die «Apartheid» kämpfen.

Ausgesprochen «woke» gibt sich der französische Ableger von AJ+, insbesondere seitdem die Regierung Macron ihren Kampf gegen den Islamismus verstärkt hat. So unterstützt AJ+ France unter anderem den Hashtag #BlackHogwarts, der die mangelnde Berücksichtigung von Schwarzen in der Harry-Potter-Reihe anprangert. Auch Künstlerinnen wie Miley Cyrus und Kylie Jenners werden kritisiert, weil sie mit ihren Tanzstilen und Frisuren kulturelle Aneignung betrieben. Selbst der französische Fussballverband zog den Zorn von AJ+ auf sich, weil er den weißen Spieler Antoine Griezmann als Testimonial seiner Antirassismus-Kampagne einsetzte. Dafür setzt man sich für den mit der Muslimbruderschaft verbundenen Autor und Aktivisten Tariq Ramadan ein, der wegen sexueller Gewalt gegen Frauen im Visier der französischen Justiz ist. In einem Artikel wird Frankreich sogar mit Afghanistan, Saudi-Arabien und dem Iran verglichen. Die französischen Verhüllungsverbote, so wird suggeriert, seien dasselbe wie die Verhüllungsgebote in frauenfeindlichen Gesellschaften.

Obwohl die Widersprüche des islamistischen Wokeism offensichtlich sind, hat er islamistische Positionen in einem Ausmaß salonfähig gemacht, von der die alte Garde islamistischer Aktivisten nur träumen konnte. Durch die Übernahme antirassistischer und progressiver Diskurse werden Forderungen westlicher Islamisten zunehmend akzeptabel. Sie kandidieren für politische Parteien, kommen in etablierten Medien als «Experten» zu Wort und erhalten Zuschüsse von angesehenen Stiftungen und Regierungsstellen. Öffentlich-rechtliche Sender werben mit Slogans wie «Mein Kopftuch, meine Wahl» für den Hijab, die Europäische Union unterstützt Kampagnen wie «Freedom is in Hijab», welche von Organisationen aus dem Umfeld der Muslimbruderschaft initiiert wurden.

Der Erfolg des «woken Islamismus» hat allerdings auch dazu geführt, dass er von Extremismusforschern genauer in den Blick genommen wird. Dies gilt insbesondere für Frankreich, wo die Besorgnis über «Wokeism» und Islamismus stärker ausgeprägt ist als anderswo in Europa. Kritik am «woken Islamismus» kommt aber auch von einer Reihe muslimischer Stimmen. Naëm Bestandji, ein französisch-tunesischer Autor, argumentiert beispielsweise, dass der Islamismus eine durch und durch rechtsextreme Ideologie sei. Die Bewegung habe aber erkannt, dass die Zusammenarbeit mit der politischen Linken und die Infiltration antirassistischer Kreise die vielversprechendste Taktik zur Durchsetzung islamistischer Positionen sei.

Ähnliche Bedenken äußerte Dyab Abou Jahjah, der selbst eine islamistische Vergangenheit hat und in den 2000er Jahren als Belgiens «Staatsfeind Nummer 1» bekannt war. Dass ein großer Teil der westlichen Islamisten heute eine progressive Politik propagiert, wertet er zwar nicht nur negativ, denn dies sei immer noch besser, als für den dschihadistischen Faschismus zu werben. Aber bei aller progressiven Rhetorik gehe es immer noch um einen Angriff auf die Moderne und den Säkularismus. Diese Strategie ziele nicht auf die Schaffung eines islamischen Staates ab, könne aber zu einer Spaltung der Gesellschaft entlang von Identitätslinien führen. «Wenn der Exzeptionalismus», so schließt Abou Jahjah, «und nicht der Universalismus zum Eckpfeiler der Staatsbürgerschaft wird, wer wird es dann noch wagen, Forderungen nach separaten Gerichten und sogar separaten Gesetzen in Frage zu stellen?»

The George Washington University
Dr. Lorenzo Vidino ist Direktor des Programms für Extremismus an der George Washington University. Als Experte für Islamismus in Europa und Nordamerika konzentrierte sich seine Forschung in den letzten 20 Jahren auf die Mobilisierungsdynamik dschihadistischer Netzwerke im Westen, staatliche Maßnahmen zur Bekämpfung der Radikalisierung und die Aktivitäten der von der Muslimbruderschaft inspirierten Organisationen im Westen.
Er hat vor dem US-Kongress und anderen Parlamenten ausgesagt, Strafverfolgungsbehörden auf der ganzen Welt beraten und an Universitäten in den USA und Europa gelehrt. Er schreibt regelmäßig Kommentare für verschiedene Medien (u. a. für die New York Times, die Washington Post, das Wall Street Journal, PBS, CNN, Fox News, MSNBC, BBC, Al Jazeera, Al Arabiya) und ist Kolumnist für die italienischen Zeitungen La Repubblica und La Stampa. 

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