Liebe Frau Kiel, lieber Herr Klitschko, was hat Sie dazu bewegt, das Buch „Gestohlene Leben“ herauszugeben?
Tatjana Kiel: Als wir von dem Schicksal der verschleppten Kinder erfahren haben, haben wir getan, was getan werden muss. Wir haben gehandelt. Uns war klar, wir müssen helfen. Während wir die Unterstützung organisiert haben, haben wir gemerkt, dass viele Menschen von diesen systematisch betriebenen Verbrechen noch nie gehört hatten. Daher das Buch. Wir wollten aufklären und vor allem die geretteten Kinder selbst zu Wort kommen lassen.
In Ihrem Buch geht es um die traumatischen Erfahrungen der Kinder und ihrer Familien. Gibt es eine Geschichte, die Sie besonders berührt hat?
Wladimir Klitschko: Ich habe einen Jungen aus Cherson getroffen, der zurückgeholt wurde. Er war erst völlig verschlossen, aber da er Boxer ist wie ich, fanden wir eine gemeinsame Ebene und er öffnete sich langsam. Ich werde nie vergessen, wie sich sein Gesicht langsam aufhellte, als wir Schattenboxen machten. Diese Kinder haben Dinge erlebt, die kein Kind jemals erleben sollte.
Tatjana Kiel: Für mich ist es die kleine Ewa auf unserem Buchcover, deren Geschichte ich nie vergessen werde. Für ihre Mutter, eine Soldatin, war es zu gefährlich, sie aus Russland rauszuholen, dadurch wurde die Rettungsmission enorm schwierig. Dass wir sie zurückgeholt haben und sie später an einer Kinderkrankheit gestorben ist, zerreißt mir das Herz. Es gibt unzählige dieser Schicksale, die gehört werden müssen.
Im Buch wird beschrieben, dass die Verschleppung ukrainischer Kinder Teil einer systematischen Strategie Russlands ist. Was glauben Sie, was Russland mit diesen Kindesentführungen bezweckt?
Wladimir Klitschko: Die Kriegsverbrechen in der Ukraine haben viele Gesichter. Eins davon ist unserer Kinder, unserer Zukunft. Schon seit 2014, als die Russen den Krieg mit der Besetzung der Krim begonnen haben. Russland will das Land ohne seine Bewohner und die Existenz und Historie der Ukraine auslöschen. Sie unterziehen die gestohlenen Kinder einer Gehirnwäsche; im schlimmsten Fall kämpfen sie später gegen ihre eigenen Landsleute.
Die NGO „Save Ukraine“ hat schon mehr als hundert Kinder gerettet, doch angesichts von vermutet Hunderttausenden deportierten Kindern seit Kriegsbeginn 2014 ist das nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Wladimir Klitschko: Zahlenmäßig mögen es nicht sehr viele sein. Aber jedes Einzelne, das wir retten können, zählt. Wir geben nicht auf. Wir müssen alle Kräfte bündeln. Politik, Wirtschaft und NGOs müssen zusammenstehen. Und zwar so schnell wie möglich, denn mit der Zeit wird es immer schwerer, die Kinder zu finden.
Tatjana Kiel: Genau deshalb müssen wir weiter aufklären. Wir müssen ihre Geschichten erzählen, damit wir Unterstützung, auch in Form von Spenden, bekommen. Sprechen Sie darüber, erzählen Sie es weiter!
„Mit der Widerstandskraft und Resilienz der Ukrainer und Ukrainerinnen haben die Russen nicht gerechnet. Wir stehen zusammen, und wir werden nur stärker. Das Schicksal der gestohlenen Kinder ist in der Ukraine sehr präsent und auch auf Regierungseben wird gehandelt.“
Wladimir Klitschko
Lieber Herr Klitschko, Sie hatten selbst eine Karriere als Spitzensportler und wissen, wie wichtig mentale Stärke und Resilienz sind. Wie kann die Ukraine den betroffenen Kindern und ihren Familien helfen, das Trauma zu bewältigen?
Wladimir Klitschko: Das Leben kann nicht gestoppt werden. Mit der Widerstandskraft und Resilienz der Ukrainer und Ukrainerinnen haben die Russen nicht gerechnet. Wir stehen zusammen, und wir werden nur stärker. Das Schicksal der gestohlenen Kinder ist in der Ukraine sehr präsent und auch auf Regierungseben wird gehandelt.
Welche Rolle spielt die internationale Gemeinschaft bei der Aufdeckung dieser Entführungen? Welche Unterstützung erwarten Sie von Organisationen wie der UN?
Tatjana Kiel: Wladimir und ich waren vor kurzem bei der Konrad-Adenauer-Stiftung in New York. Wir hatten Gelegenheit, uns mit mehr als 15 UN-Diplomaten über die unrechtmäßige Deportation von ukrainischen Kindern und die bisherigen Rettungsansätze auszutauschen. Wir stoßen immer wieder auf die Bereitschaft, unser Anliegen zu unterstützen. Und das macht Hoffnung. Aber es muss natürlich viel mehr passieren.
Wladimir Klitschko: Um die Kinder zu finden und zu retten, braucht es den Einsatz der Vielen, auf internationaler Bühne. Es darf nicht bei einzelnen Initiativen bleiben.
KAS New York
Gegen Wladimir Putin und seine Kommissarin für Kinderrechte wurden bereits internationale Haftbefehle erlassen. Glauben Sie, dass die beiden und andere Verantwortliche jemals zur Rechenschaft gezogen werden?
Wladimir Klitschko: Viele der russischen Verbrechen, die in der Ukraine begangen werden, werden nicht offiziell anerkannt oder verurteilt. Die Verschleppung unserer Kinder gehört zum Glück nicht dazu. Hinter jedem Verbrechen steckt ein Gesicht, ein Name. Auch die Täter, die unsere Kinder stehlen und ihren Familien entreißen, werden eines Tages zur Rechenschaft gezogen.
Tatjana Kiel: Es geht uns bei den Rettungsmissionen auch darum, Fakten zu sichern. Jeder Fall wird detailliert dokumentiert für die spätere Anklage. Das ist oft sehr aufwändig, aber unerlässlich.
Was können ukrainische Behörden und internationale Organisationen tun, um die zurückgekehrten Kinder langfristig zu unterstützen?
Tatjana Kiel: Wir bieten den geretteten Kindern und ihren Familien Betreuung in den Hope & Healing Centern von Save Ukraine. Sie brauchen psychologische Unterstützung, und sie brauchen Zeit, um wieder zueinanderzufinden. Die Kinder waren oft über viele Monate von ihren Familien getrennt. Das alles kostet Geld, und wir halten diese Hilfseinrichtungen nur mit Spenden am Laufen. Ähnliche Maßnahmen sollten auf allen Ebenen umgesetzt und unterstützt werden.
Was ist Ihre Botschaft? Viele Menschen wissen nur sehr wenig über die verschleppten Kinder, bei anderen lässt die Aufmerksamkeit einfach nach, wenn es um den Krieg in der Ukraine geht.
Wladimir Klitschko: Grundsätzlich: Wir hoffen, dass die Unterstützung für die Ukraine nicht nachlässt, dass die Politik in Sachen Ukraine nicht kippt. Wir sind auf Unterstützung angewiesen. Auch für unsere Kinder. Damit wir so viele wie möglich retten können.
Allen ist klar, dass nicht nur der Krieg schrecklich ist, sondern Wegschauen ist schrecklich, fehlendes Leadership, ewiges Zögern und mangelndes Selbstbewusstsein, die Täter zu bestrafen. Ich warne, wenn die sogenannte freie Welt so weitermacht, verlieren wir weiter Kinder, Städte, die Natur, den Kampf für demokratische Werte und Freiheit. Und dann werden wir in kurzer Zeit auch über eure Kinder reden.
Vielen Dank.
Das Gespräch führten Dr. Franziska Rinke (Referentin für Rechtsstaatsdialog und Völkerrecht) und Konstantin Otto (Redakteur der Politischen Meinung), Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.