Am 1. Februar ist Altbundespräsident Horst Köhler in Berlin verstorben. Die CDU hat mit ihm einen ihrer profiliertesten Wirtschaftsfachleute verloren, der eine einzigartige Position zwischen Wirtschaftswissenschaft, internationaler Finanzwelt und Entwicklungszusammenarbeit ausfüllte.
Horst Köhler wurde 1943 im sogenannten Generalgouvernement, dem durch NS-Deutschland besetzten Teil Polens, als Kind eines aus Bessarabien umgesiedelten deutschen Bauern geboren. In der Endphase des Zweiten Weltkriegs floh die Familie vor der anrückenden Roten Armee nach Sachsen, wo ein Versuch, wieder in der Landwirtschaft Fuß zu fassen, an der kommunistischen Kollektivierungspolitik scheiterte. 1953 flohen Köhlers weiter in den Westen.
Hier lebte die Familie anfangs in einem Lager, konnte sich jedoch schnell eine bürgerliche Existenz aufbauen. Köhlers spätere Aussage, er habe sich in der Bundesrepublik nicht als Vertriebener gefühlt, belegt eine der größten Leistungen der „alten“ Bundesrepublik: die gelungene Integration der Millionen Flüchtlinge und Vertriebener. 1963 machte Horst Köhler in Ludwigsburg sein Abitur, der Wehrdienst mit der Beförderung zum Leutnant der Reserve schloss sich an. Er entschied sich für ein Studium der Wirtschaftswissenschaft an der Universität Tübingen und arbeitete nach dem Diplom am Institut für angewandte Wirtschaftsforschungen in Tübingen. 1977 wurde er mit einer Arbeit über den Einfluss des technischen Fortschritts auf die Arbeitswelt von Alfred Eugen promoviert.
1969 heiratete Horst Köhler die Lehrerin Eva Luise Bohnert; der Ehe entstammen zwei Kinder.
Schon ein Jahr vor seiner Promotion, 1976, war Köhler in die Grundsatzabteilung des Bundeswirtschaftsministeriums nach Bonn gewechselt. Von dort ging er 1981 als Referent zu einem der „kommenden Männer“ der CDU, dem Ministerpräsidenten von Schleswig Holstein, Gerhard Stoltenberg, und trat in die CDU ein. Mit dem Regierungswechsel in Bonn wurde Stoltenberg Bundesfinanzminister, und stand dem wohl wichtigsten Ressort der neuen christlich-liberalen Regierung vor. Helmut Kohl hatte den Wahlkampf gegen die von der SPD gewünschten, schuldenfinanzierten Sozialprogramme geführt, und Stoltenberg kam nun eine Schlüsselrolle zu, das CDU-Wahlversprechen einer soliden Finanzpolitik umzusetzen. Stoltenberg setzte einen wohlüberlegten Sparkurs durch, der ihn zeitweise zum beliebtesten bundesdeutschen Politiker machte. Horst Köhler hatte als Leiter seines Ministerbüros und seit 1987 als Abteilungseiter im Bundesfinanzministerium daran großen Anteil.
1990, im Jahr der Wiedervereinigung, wurde diese Leistung mit der Beförderung zum Staatssekretär honoriert. Köhler nahm in den Verhandlungen um die deutsche Einheit eine Schlüsselposition ein. So war er für die finanzielle Umsetzung des Einigungsvertrages zuständig und verhandelte die Vereinbarung über wirtschaftliche Hilfen an die Sowjetunion im Zusammenhang mit dem Abzug ihrer Truppen aus Deutschland. Er verantwortete die deutschen Finanzhilfen während des Golfkrieges und die finanziellen Aspekte des Maastrichter Vertrages.
Vom Finanzministerium wechselte er 1993 an die Spitze des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes und verhinderte in dieser Position die Privatisierung der Sparkassenorganisation. Diese Entscheidung wurde gegen das Votum der Liberalen durchgesetzt und zeigte die Weitsicht von Horst Köhler: eine vergleichbare Privatisierung in den USA endete in einem finanziellen Desaster. Nachdem er sich auch außerhalb des Finanzministeriums als kompetenter Manager bewiesen hatte, berief man ihn 1998 zum Präsidenten der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in London.
Im selben Jahr wurde die letzte Regierung Kohl durch die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder abgelöst. Und als die Europäer im Jahr 2000 an der Reihe waren, die Spitzenposition beim Internationalen Währungsfonds zu besetzen, scheiterte Schröders erster Vorschlag am Veto der USA. Köhler jedoch, der sich international in den Verhandlungen im Zuge der Wiedervereinigung einen guten Namen gemacht hatte, war durchsetzbar und wurde zum Präsidenten des IWF gewählt.
In dieser Funktion zeigte sich Köhler als unabhängiger Denker, der sich von den Traditionen des IWF und den amerikanischen Erwartungen emanzipierte und damit brach, den Kreditnehmerländern in Afrika, Lateinamerika und Asien an rein westlichen Vorstellungen orientierte Reformauflagen aufzuerlegen. Er passte sie sehr viel stärker an die spezifischen Möglichkeiten der einzelnen Länder an. Mit diesem Vorgehen war er erfolgreich und leistete einen eigenständigen Beitrag zur Fortentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft, die ihren Entstehungsbedingungen in den 1940er Jahren geschuldet, internationale Finanzmärkte und Entwicklungszusammenarbeit nur am Rande berücksichtigt hatte.
Seine Arbeit brachte ihm schnell internationale Anerkennung ein. So dass im Jahr 2000, als die CDU gegen den Widerstand der FDP nicht Wolfgang Schäuble als gemeinsamen Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten durchsetzen konnte, die Wahl auf Horst Köhler fiel. Er wurde im ersten Wahlgang gewählt. Köhler versprach, ein Bundespräsident „mit Ecken und Kanten“ zu werden, der er dann – im besten Sinne – auch war. Anders als frühere Bundespräsidenten nahm er, ohne die ihm vom Grundgesetz gezogenen Grenzen zu überschreiten, seine Funktion als letzte Kontrollinstanz sehr ernst und verweigerte mehrfach – bis zur Sicherstellung der Verfassungsmäßigkeit – die Ausfertigung eines Gesetzes. Die Bevölkerung goutierte sein deutlich aktiveres Amtsverständnis: So war er in einer Umfrage von 2005 beliebter als Angela Merkel oder Gerhard Schröder. Die im Rahmen seiner verfassungsmäßigen Rolle wichtigste Einzelentscheidung war wohl die zur Auflösung des Bundestages 2005.
Auch inhaltlich brachte sich Horst Köhler in bisher ungewohnter Weise ein. Auf den Erfahrungen seiner Tätigkeit für den IWF gründend, drängte er die westliche Politik, in der Entwicklungszusammenarbeit stärker die Interessen der Partnerländer zu berücksichtigen, wobei er Afrika besondere Aufmerksamkeit zumaß. Er bereiste den Kontinent immer wieder und pflegte den Kontakt zu afrikanischen Intellektuellen wie Wole Solyinka. Seine persönlichen Reflektionen und politischen Analysen fanden Eingang in den von ihm herausgegebenen Sammelband „Schicksal Afrika“.
2008 erklärte er, für eine zweite Amtszeit zur Verfügung zu stehen, und wurde 2009 von der Bundesversammlung – wiederum im ersten Wahlgang – gewählt. Während eines Besuches der deutschen Truppen in Afghanistan 2010 gab Köhler dem Deutschlandradio ein Interview, in dem er sich zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr äußerte. Er wies darauf hin, dass solche Einsätze auch für die Sicherung der deutschen Handelsrouten und der Rohstoffversorgung möglich sein müssten. Das Interview wurde von vornehmlich links verorteten Journalisten und Politikern bewusst missverstanden. Als er aus der regierenden schwarz-gelben Koalition keine deutliche Rückenstärkung erfuhr, erklärte er seinen Rücktritt.
Aus heutiger Sicht ist Horst Köhlers Einlassung von damals uneingeschränkt richtig: Die Bundeswehr war zehn Jahre in Mali engagiert, und die Bundesmarine sichert die Handelsrouten im Roten Meer vor den Houthirebellen. Er hatte nur, wie auch an anderer Stelle, mit Klarsichtigkeit ungeschminkt und völlig zutreffend eine Zukunftsaufgabe formuliert.
Sein Rücktritt wurde von vielen bedauert. Von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen nahm Horst Köhler später mehrfach die Rolle eines „stellvertretenden Bundespräsidenten“ wahr, als er seinen Nachfolger auf dessen Bitten bei Auftritten in Afrika vertrat.
In den letzten Jahren hatte sich Horst Köhler weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Er starb nach kurzer Krankheit in Berlin.
Wolfgang Tischner, geboren 1967 in Berlin, promovierter Historiker, Abteilungsleiter Publikationen / Bibliothek, Wissenschaftliche Dienste / Archiv für Christlich-Demokratische Politik, Konrad-Adenauer-Stiftung.