Der Wolf im Schafspelz
Am 17. Januar 1958 veröffentlichte die Tageszeitung „Die Welt“ eine Karikatur, die auf den ersten Blick vertraut und volkstümlich erscheint, da sie ein weithin bekanntes Märchenmotiv aufgreift. Bundeskanzler Konrad Adenauer spaziert als Rotkäppchen durch den Wald, wo er auf den bösen Wolf in Gestalt des sowjetischen Ministerpräsidenten Nikolai Bulganin trifft. Mit seinem Spitzbart und der Haartolle wirkt das Untier nicht sonderlich bedrohlich. Unter seinem Bauch allerdings, und das erschließt sich erst bei genauerem Hinsehen, baumelt eine Nuklearrakete (S. 190). Ganz so harmlos ist dieser Wolf anscheinend doch nicht.
Die Karikatur ist unter dem Eindruck einer schriftlichen Großoffensive des Kremls an der Jahreswende 1957/58 entstanden, die irritierend wirkte, weil sie freundlich und aggressiv zugleich formuliert war: Harte Vorwürfe gegen die NATO, auch gegen die Bundesregierung selbst, paarten sich mit dem Angebot wirtschaftlicher Zusammenarbeit und kultureller Annäherung, Drohungen mit der Zerstörung deutscher Großstädte gingen einher mit dem Vorschlag einer rüstungsverdünnten Zone und einem Anwendungsverbot für Atomwaffen.
Als Wilhelm Hartung seine Zeichnung anfertigte, lagen die diesbezüglichen Briefe Bulganins bereits öffentlich vor und waren in aller Munde. Seine eigene Position brachte Hartung mit dem Motiv des nuklearen Wolfs im bürgerlichen Schafspelz auf den Punkt. Ebenso klar deutete er die Reaktion des Bundeskanzlers: Das Rotkäppchen verhält sich abweisend und klammert seinen Korb mit NATO-„Wehrmut“ fest unter dem Arm. Bei aller Flexibilität, ja Verschlagenheit, die Hartung ihm in seinen Zeichnungen attestierte, blieb Adenauer, was seine politischen Grundsatzentscheidungen betraf, unerschütterlich.
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Wilhelm Hartung – Chronist der Nachkriegszeit mit Stift und Pinsel
Wilhelm Hartung (1919–2003) war einer der bedeutenden politischen Zeichner der Nachkriegszeit. Schätzungen zufolge beläuft sich sein Gesamtwerk, das keineswegs nur Karikaturen umfasst, auf etwa 40.000 Bilder, hinzu kommen noch Kunstwerke wie Skulpturen, Kleinplastiken oder Spielkarten. 2018/19 erwarb die Konrad-Adenauer-Stiftung rund 450 Kanzler-Karikaturen aus seinem Nachlass; der nun vorliegende Band enthält eine Auswahl von 146 Stück. Neben ihrer aufwändigen Machart besticht die Publikation vor allem durch den konzeptionellen Rahmen, in dem sie das Material präsentiert. Ulrich Op de Hipt, langjähriger Leiter des Sammlungsbereichs Karikaturen bei der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, leitet ein mit allgemeinen Betrachtungen zur Entwicklung der Karikatur in der Adenauerzeit. Eingeführt in das westdeutsche Zeitungswesen durch die britische und amerikanische Besatzungsmacht, sollte sie nicht mehr als Instrument staatlicher Propaganda missbraucht werden, sondern die Funktion eines „gezeichnete[n] Kommentar[s]“ (S. 7f.) erfüllen. Als solcher war sie Ausdruck einer individuellen journalistischen Meinung, die sich visuell erfassen ließ und eine humoristische Pointe enthielt (in der Regel ohne Worte bzw. nur mit einer knappen Bildunterschrift).
KAS/Wilhelm Hartung
Wie und warum sich Hartung zu einem Meister dieser Kunstform entwickelte, das macht Bandbearbeiter Matthias Krüger in seiner einfühlsamen biografischen Annäherung deutlich. Gezeichnet hat der gebürtige Norddeutsche schon von Kindesbeinen an, nicht zuletzt in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, aus der er 1946 entkam und sich zu Fuß nach Hause durchschlug. Nachdem ein Pädagogikstudium in Hamburg aus wirtschaftlichen Gründen hatte abgebrochen werden müssen, verdiente Hartung sein Geld als Zeichner bei verschiedenen Zeitungen; ab 1957 arbeitete er vor allem für „Die Welt“, in der die meisten seiner auf Adenauer bezogenen Karikaturen abgedruckt wurden. Ihrem Charakter nach waren sie keineswegs unkritisch, allerdings weniger polemisch, eher von „sanfter Satire“ (S. 37). Das entsprach einem größeren Trend der damaligen Pressezeichnung, die man in Reaktion auf nationalsozialistische Hetzkampagnen konsequent entgiftet hatte. Vielleicht aber legte der Künstler vor dem Hintergrund seiner biografischen Erfahrungen so auch ein ganz persönliches Bekenntnis zu der von Adenauer gestalteten Nachkriegsdemokratie ab. Direkt begegnet sind sich die beiden wohl nie; es ist aber sicher, dass der Kanzler, dessen Rhöndorfer Nachlass eine umfassende Karikaturensammlung (mit 220 Hartung-Zeichnungen) enthält, sein Werk gekannt und geschätzt hat.
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Konrad Adenauer mit dem auf Seite 108–109 aufgeschlagenen Karikaturenband „Konrad, bleibst du jetzt zu Haus?“ (oben links im Buch: eine Hartung-Karikatur zur Kanzlernachfolge von 1962), Palais Schaumburg, Bonn, 26. September 1963
Adenauer und die Karikaturisten – eine symbiotische Beziehung
Mit seinen markanten Gesichtszügen, seinem straffen Regierungsstil und seiner durchaus kontroversen Politik lieferte der erste Bundeskanzler den Karikaturisten Steilvorlagen am laufenden Band. Umgekehrt besaß Adenauer, dessen vielschichtiges Naturell sich durch Menschenskepsis und Humor gleichermaßen auszeichnete, eine Schwäche für die Karikatur als Kunstform, die sich schon daran zeigt, dass er am 2. Oktober 1963, wenige Tage vor seinem Rücktritt, ausgesuchten Zeichnern bei einem Abschiedstee Modell saß (S. 6).
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Porträtsitzung des scheidenden Bundeskanzlers Konrad Adenauer mit fünf Karikaturisten namhafter Zeitungen, Palais Schaumburg, Bonn, 2. Oktober 1963
Vermutlich war diese Affinität nicht nur persönlich begründet, sondern mindestens ebenso sehr professioneller Art. Adenauers Prominenz in den Karikaturen konnte, unabhängig von ihrer inhaltlichen Aussage, als Gradmesser seiner öffentlichen Reputation gedeutet werden. Auch hat man in der Bundesregierung rasch erkannt, dass sie sich hervorragend als Werbemittel und Instrument der politischen PR eigneten. In enger Abstimmung mit der Familie Adenauer und dem Bundespresseamt erschien 1955 die Karikaturen-Anthologie „Konrad, sprach die Frau Mama“, die – zusammen mit einem Folgeband von 1963 – das visuelle Adenauer-Gedächtnis bis heute prägt. Adenauer und die Karikaturisten, so scheint es, verband eine symbiotische Beziehung, und es ist verständlich, dass Zeichner aller politischer Couleur seinen Rücktritt nach vierzehnjähriger Kanzlerschaft sehr bedauerten.
Aufbereitet wird Hartungs Œuvre von dem Karikaturen-Experten Walter Fekl, der sie in 15 Motivgruppen eingeteilt hat. Hierunter fallen Adenauer-spezifische Anspielungen („Der Alte“, „Kanzlermonarchie“) genauso wie typologische Darstellungsformen („Sa-Tierisches“, „Konradine Adenauer“) oder Gattungsanleihen bei Dichtung und Märchen („literarische Streifzüge“). Der Vorzug dieser Anordnung besteht darin, dass sie Hartung in seiner Doppelfunktion als Journalist und Künstler vorstellt, vielleicht sogar in erster Linie als Künstler. Das Bild selbst soll im Vordergrund stehen, so Fekl, und nicht „zur historischen Vignette herabgewürdigt werden“ (S. 64). Entsprechend knapp fallen die Anmerkungen zum jeweiligen politischen Kontext aus.
Als zeithistorische Quellengattung sind die Karikaturen jedoch allemal interessant, was deutlich wird, wenn man die Motivgruppen auflöst und unter politisch-situativen Gesichtspunkten neu zusammenfügt. Dann geben sie nämlich Auskunft über die mediale und gesellschaftliche Rezeption einzelner Politiker sowie bestimmter Tagesfragen und größerer Trends. Diesen Erkenntniswert besitzen sie unabhängig von der aktengestützten Erforschung politischer Binnenprozesse. Verknüpfungen ergeben sich allerdings dort, wo die Abläufe hinter verschlossenen Türen, etwa bei parteipolitischen Machtfragen und persönlichen Rivalitäten, die Fantasie der Zeichner anregten. Hier ist die Frage schon reizvoll: War es so, wie der Karikaturist es suggeriert?
Löwe und Dompteur im Koalitionszirkus
Vor allem die schwierige Regierungsbildung im Herbst 1961 veranlasste Hartung zu einigen prägnanten Zeichnungen. In der Bundestagswahl hatten die Unionsparteien ihre absolute Mehrheit eingebüßt. Als Partner wurde nun wieder die FDP benötigt, die Mitte der 1950er Jahre im Streit aus der Koalition ausgeschieden war. In Erinnerung hieran beharrten die Liberalen öffentlich auf ein Regierungsbündnis ohne Adenauer. Dass der Kanzler nach mehrwöchigen Verhandlungstagen am 14. November doch noch einmal ins Amt gewählt wurde, zeugt von großem taktischem Geschick, auch von seinem unbedingten Willen zur Macht.
Acht Wochen zuvor, unmittelbar nach der Wahl vom 17. September 1961, hatte er sich noch klar in der Defensive befunden. Seine Position stabilisierte Adenauer zunächst dadurch, dass er dem CDU-Bundesvorstand am 19. September seinen Rücktritt vor Ablauf der Legislaturperiode in Aussicht stellte, womit er eine Rebellion in den eigenen Reihen unterband. Sechs Tage später sendete er ein Warnsignal in Richtung FDP, indem er die sozialdemokratische Parteiführung zu einem Sondierungsgespräch empfing. Vermutlich in Reaktion hierauf zeichnete Hartung Adenauer als hungrigen Fuchs, der zwischen dem Verzehr einer SPD-Gans und einer FDP-Ente schwankte (S. 174). Ganz so souverän war seine Verhandlungsposition zwar nicht, er hatte jedoch, wie öffentlich erkannt wurde, Oberwasser gewonnen. Ist das Motiv des trampelnden Elefanten im Porzellanladen (S. 177) daher gut gewählt? Dickhäutigkeit war dem Kanzler sicherlich zu eigen, die Verhandlungen endeten aber eben nicht in einem Scherbengericht, sondern in einer Koalition. Adenauer hatte, wenn auch unter großen Konzessionen, sein Ziel erreicht.
Am Ziel war ebenfalls FDP-Chef Erich Mende, der seine Partei aus der Opposition zurück in die Regierung geführt hatte. Wegen der Verlängerung von Adenauers Kanzlerschaft musste er freilich einen beträchtlichen Prestigeverlust hinnehmen, der sich im Spott des Karikaturisten niederschlug. Der alerte Mende, in Bonn als „schöner Erich“ bekannt, wirkt in den Karikaturen recht hilflos und beinahe schon ein wenig mitleiderregend. Am 27. September 1961 porträtierte ihn Hartung als trotzigen „Suppenkasper“ (S. 193), der sich weigerte, die Adenauer-Suppe auszulöffeln (heute wissen wir, dass der FDP-Vorsitzende zu diesem Zeitpunkt schon auf eine Übergangslösung eingeschwenkt war und den Kurswechsel taktisch vorbereitete). Daraufhin begibt sich der „kluge Dompteur“ in die Zirkusmanege, um Adenauer, den „widerspenstigen Löwen“, aus der Arena zu vertreiben (S. 184). Nachdem alles Bitten und Zerren nichts genutzt hat, steigt er selbst auf den Schemel und springt durch den Reifen, den das grinsende Raubtier ihm vorhält. Das Storytelling dieser großartigen Karikatur ist derart komplex, dass Hartung hier von der üblichen Ein-Bild-Darstellung abwich und die Handlung auf vier Motive verteilte.
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KAS/Wilhelm Hartung
KAS/Wilhelm Hartung
KAS/Wilhelm Hartung
KAS/Wilhelm Hartung
Partner und Rivalen: Adenauer und Erhard
Die Zähigkeit beim Ringen um die Regierungsbildung nötigte dem Künstler offensichtlich Respekt ab. Kritischer fallen seine Zeichnungen über den langwierigen Machtkampf mit Wirtschaftsminister Ludwig Erhard aus, den Adenauer unter allen Umständen als Nachfolger verhindern wollte, was ihm bekanntermaßen nicht gelungen ist.
Zweifelsohne war Erhard das „beste Pferd“ im Kabinettsstall, wie Hartung es in einer Karikatur vom 25. September 1957 zum Ausdruck brachte (S. 107). Ross und Reiter verband aber ein komplexes Verhältnis voller Höhen und Tiefen, das immer schwieriger wurde, je unklarer es schien, wer hier eigentlich wem die Zügel lenkte. Als sie sich im Mai 1956 auf offener Bühne über die Geldpolitik zerstritten, ließ Hartung Adenauer als gestrengen Lehrer mit seinen Pennälern (neben Erhard auch Finanzminister Fritz Schäffer) schimpfen, weil sie den Prozentsatz der Diskonterhöhung von Notenbankpräsident Wilhelm Vocke abgeschrieben hätten, der ebenfalls im Klassenzimmer saß (S. 226). Treffend erfasst ist damit der Unmut des Kanzlers über die Unabhängigkeit der Bank deutscher Länder bzw. der Bundesbank, die er gerne anders geregelt gesehen hätte. Gleichwohl agierte Erhard in der Leitzinsdebatte keineswegs als verlängerter Arm Vockes, sondern entwickelte seine konjunkturpolitischen Maßnahmen eigenständig und – zum besonderen Missfallen Adenauers – ohne Abstimmung mit dem Kanzleramt.
Sechs Jahre später hatten sich die Machtverhältnisse endgültig verschoben, wie die Debatte über die „D-Mark-Konferenz“ vom 16. Juli 1962 zeigte. In Reaktion auf anhaltende Preissteigerungen berief Adenauer an diesem Tag ein Treffen von Spitzenvertretern aus Industrie, Handel und Bankenwelt ein, um über stabilitätspolitische Maßnahmen zu beraten – sehr zum Ärger Erhards, der die Berichterstattung hierüber für kontraproduktiv hielt und stattdessen auf Tarif- bzw. Haushaltsdisziplin pochte, um die Hochkonjunkturprobleme in den Griff zu bekommen. In der diesbezüglichen Hartung-Karikatur sitzt der Kanzler als Arzt am Krankenbett von „Frl. D-Mark“, dabei so kritisch beäugt von der robusten Schwester Erhard, dass Zweifel angebracht sind, ob sein Befund („Temperatur erhöht – Puls matt“) in eine medizinische Behandlung münden wird (S. 231). Tatsächlich fand Adenauer mit seinen Inflationssorgen kaum Gehör, und das Stabilitätsprogramm, das schließlich im Oktober verabschiedet wurde, trug stark die Handschrift des Wirtschaftsministeriums.
Karikaturen_Gruppe3_Adenauer
KAS/Wilhelm Hartung
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Die Währungsdebatte von 1962 stand ganz im Zeichen eines machtpolitischen Zerwürfnisses, das schon drei Jahre früher, im Sommer 1959, hervorgetreten war. Damals hatte Adenauer seine Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten verkündet, aber umgehend wieder zurückgezogen, als er erkannte, wie die Dinge nun auf eine Kanzlerschaft Erhards hinausliefen. Die grobe Brüskierung des beliebten Ministers karikierte Hartung am 21. Juni 1959 als Boxkampf, bei dem sich Adenauer diverser Foulspiele befleißigt und seinem Sparringspartner sogar von hinten einen Fußtritt verpasst (S. 168). Am Ende der zermürbenden Auseinandersetzungen ist das Kanzlerdenkmal brüchig geworden, es wird nur noch notdürftig gestützt. Dieser Kampf, das arbeitet der Karikaturist deutlich heraus, kennt keine Sieger, nur Verlierer. Auch Erhard ist von starken Blessuren gezeichnet, seine Regierung steht unter keinem guten Stern (S. 99).
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Wie diese vereinzelten Probebohrungen zeigen, weisen die Karikaturen für die politische Zeitgeschichtsschreibung der Ära Adenauer einen hohen Quellenwert auf. Sie sind ein visuelles Kanzler-Zeugnis, kreiert mit Empathie und spitzer Feder, das – wie schriftliche Dokumente auch – der Deutung und Kontextualisierung bedarf, um seine volle Aussagekraft zu entfalten. Hierfür bietet dieses wunderbare Buch nun vielfältige Gelegenheit.
Weitere Informationen zum Buch und Bestellmöglichkeiten finden Sie hier.
Dr. Holger Löttel ist Leiter der Abteilung Edition und Wissenschaft bei der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus in Bad Honnef-Rhöndorf. Im Rahmen der Rhöndorfer Ausgabe hat er umfangreiche Quelleneditionen über die Koalitions- und Wirtschaftspolitik der Ära Adenauer bearbeitet („Adenauer und die FDP, Paderborn 2013; „Konrad Adenauer, Ludwig Erhard und die Soziale Marktwirtschaft“, Paderborn 2019). Sein aktuelles Projekt trägt den Titel „Adenauers Ostpolitik. Der Bundeskanzler und die Sowjetunion 1955–1963“.