Bis 2036 werde die Ukraine Mitglied der Europäischen Union sein. So prognostizierte es der damalige für Außen- und Europapolitik zuständige stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Andreas Schockenhoff, in einer Rede am 11. Mai 2006. Ob die Ukraine tatsächlich in zwölf Jahren EU-Mitglied sein wird, hängt sehr von der Dauer des Krieges und dem Ausmaß der Zerstörungen ab, aber auch von der Fähigkeit der EU, die notwendigen institutionellen Reformen vorzunehmen, um sich erweitern zu können. Immerhin haben die Beitritts-Verhandlungen am 25. Juni 2024 begonnen.
In Deutschland ist im Vergleich zu anderen EU-Ländern die Zustimmungsrate für eine künftige EU-Mitgliedschaft der Ukraine noch sehr gering. Es spricht vieles dafür, dass die EU-Perspektive wegen des Krieges skeptisch gesehen wird und dass die Voraussetzungen für einen Beitritt nicht genügend bekannt sind. Um bestehende Sorgen zu nehmen, müssten Bundesregierung und Bundestag der Bevölkerung genauer erklären, wann und wie ein EU-Beitritt der Ukraine nur stattfinden kann.
1. Der Krieg mit Russland muss beendet und das Verhältnis der beiden Staaten zueinander möglichst durch ein Abkommen geregelt sein. Auf jeden Fall müssen die Grenzen zu Russland militärisch gesichert werden durch durchsetzungsfähige internationale Friedenstruppen, denen nicht nur EU- und NATO-Streitkräfte angehören.
2. Für die Finanzierung des Wiederaufbaus der Ukraine wird Moskau Kompensation leisten müssen, wozu zumindest die sanktionierten Vermögen Russlands von rund 260 Milliarden Euro und ihre Erträge genutzt werden müssen. Der Anteil der EU und ihrer Mitgliedstaaten muss begrenzt bleiben, da sie eine erhebliche finanzielle Unterstützung für die Ukraine im Rahmen der EU-Vorbeitrittshilfen und später der Kohäsionsfonds leisten werden.
3. Die EU muss aufnahmefähig sein. Dafür ist eine institutionelle Reform unverzichtbar, um in einer noch größeren Union entscheidungsfähig zu sein. Zudem müssen dafür angesichts der sehr unterschiedlichen Agrar-Politiken und -Strukturen geeignete Regelungen gefunden werden.
4. Die Verhandlungen werden mindestens acht bis zehn Jahre dauern, gefolgt von einem rund zweijährigen Ratifikationsprozess - vorausgesetzt es bleibt bei einer dynamischen EU-Politik der Ukraine auch durch den Modernisierungsdruck ukrainischer Nichtregierungsorganisationen. Insbesondere die Rechtsstaatlichkeit muss dann voll gewährleistet sein.
Das macht deutlich, wie schwierig es ist, abzuschätzen, wann ein EU-Beitritt des Landes möglich sein könnte, so verständlich der Wunsch der Ukrainer ist, ein Datum genannt zu bekommen.
Andere Voraussetzungen hatte vor 18 Jahren Andreas Schockenhoff. 2006 gab es noch keine russische Intervention im Osten des Landes (2014) bzw. den Krieg Russlands gegen die Ukraine (seit Februar 2022). Andreas Schockenhoff war neben dem ehemaligen Verteidigungsminister Volker Rühe einer der wenigen großen Außenpolitiker der CDU/CSU der jüngeren Vergangenheit. Vom November 2005 bis zu seinem Tod prägte er die Außen- und Europapolitik seiner Fraktion. Am 14. Dezember 2024 jährt sich sein Todestag zum 10. Mal.
Die Gründe, mit denen Schockenhoff seit 2006 für eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine – auch gegen den Widerstand der eigenen Regierung und Fraktion – plädierte, und die Herausforderungen, die damit einhergehen, sind auch heute noch gültig:
- Die Sicherheit und Stabilität in Europa würden nur gestärkt, wenn die Ukraine nicht als instabiles „Zwischeneuropa“ zwischen der EU und Russland hin- und hergerissen und den Hegemonie-Bestrebungen Moskaus ausgesetzt sei.
- Die Zusammenarbeit der EU mit der Ukraine müsse zu einer Erfolgsgeschichte werden und dies auch den Russen in der Ukraine zugute kommen. Denn nichts setze die Politiker in Moskau mehr unter Druck, als wenn die eigene Bevölkerung frage, warum es den Russen in einer demokratischen Ukraine besser gehe als den Russen im eigenen Land. Dahinter stand die Hoffnung, dass die Ausstrahlung einer demokratischen prosperierenden Ukraine in Russland einen Systemwandel bewirken könnte.
- Russland werde alles tun wird, um eine engere Anbindung der Ukraine an die EU zu verhindern. Denn in seinem Nullsummen-Denken betrachte Moskau dies als Machtverlust und nicht als Chance, mit stabilen, demokratischen, rechtsstaatlichen und wirtschaftlich modernen Nachbarn zusammenzuarbeiten und davon zu profitieren. Solche stabile demokratische Nachbarn würden in Moskau als Bedrohung gesehen, weil sie das eigene autokratische Regime und die Eliten-Kleptokratie in Frage stellten. Acht Jahre später machte Moskau dies mit seinem Krieg gegen die Ukraine wahr.
Es ist eine besondere Ausnahmesituation, dass mit einem Land Beitrittsverhandlungen geführt werden, das sich im Krieg befindet, ohne dass absehbar ist, wann und wie der Krieg beendet sein, welche Ukraine künftig beitreten wird und welcher finanzielle Wiederaufbaubedarf gedeckt werden muss. Dennoch ist es richtig, dass die Verhandlungen begonnen haben. So wie durch die Waffenlieferungen deutlich gemacht wird, dass die militärische Unterstützung der Ukraine im ureigenen Sicherheitsinteresse der EU- und NATO-Staaten liegt, so signalisieren die EU-Beitrittsverhandlungen den Menschen in der Ukraine, aber auch dem Kreml, dass dieses Land zur EU gehört und dementsprechend von ihr unterstützt wird. Insofern sind die Beitrittsverhandlungen für das Durchhaltevermögen der ukrainischen Bevölkerung eine starke politische Ermutigung und bieten mit dem Ziel der EU-Mitgliedschaft eine positive Perspektive in äußerst schwierigen Zeiten.
Zu Beginn der Beitrittsverhandlungen haben Brüssel und Kiew den Verhandlungsrahmen vereinbart. Er beschreibt die für den Verhandlungsprozess geltenden Grundsätze und -prinzipien, die Verhandlungssubstanz und das -prozedere sowie mögliche Sanktionen bei Verstößen gegen die EU-Werte oder bei Rückschlägen im Reformprozess. Derzeit erfolgt das Screening der EU-Kommission, mit dem festgestellt wird, welcher Reformbedarf bis zur Beitrittsfähigkeit noch besteht. Danach beginnen die Verhandlungen über den Cluster „Wesentliche Elemente“ mit den schwierigen Fragen der Rechtsstaatlichkeit, des Funktionierens demokratischer Institutionen, der Verwaltungsreform und Finanzkontrolle.
Der Bundestag hat bei den Beitrittsverhandlungen starke Mitwirkungsrechte und kann folglich auf sie erheblichen Einfluss nehmen. Diese Möglichkeit hat er bisher jedoch nur unzureichend wahrgenommen. Gerade weil die Fraktionen von Regierung und CDU/CSU-Opposition betonen, dass sie die Ukraine auf ihrem Weg in die EU nachdrücklich unterstützen wollen, sollten sie dafür auch ihre Mitwirkungsmöglichkeiten besser nutzen. Das gilt insbesondere für folgende drei Elemente aus dem Verhandlungsrahmen:
1. Die EU-Kommission fordert die EU-Mitgliedstaaten ausdrücklich auf, eigene Beiträge zum Verhandlungsprozess beizusteuern. Das gilt dann auch aufgrund seiner Mitwirkungsrechte für den Bundestag. Dafür aber muss dieser sehr viel intensiver als bisher die EU-Verhandlungsprozesse begleiten – beispielsweise durch eigenes kontinuierliches Monitoring bei ihm wichtigen Verhandlungsthemen, durch Beiträge zu den jährlichen Fortschrittsberichten und durch das Einbringen von Expertise. Dies sollte er nach Möglichkeit zusammen mit Vertretern anderer Parlamente der EU-Mitgliedstaaten tun, was seine Einflussmöglichkeiten verstärken würde. Ziel sollte es sein, die ukrainische Seite in diesem von den Aufgaben her und durch den Krieg schwierigen Annäherungsprozess zu beraten und zu unterstützen – erst recht wenn es EU-Länder wie Ungarn gibt, die diesen Annäherungsprozess erschweren wollen.
2. Um die Verhandlungen - vor allem mit den Westbalkan-Ländern – zu beschleunigen, schlägt die EU-Kommission die Möglichkeit vor, die Beitrittskandidaten in bestimmte EU-Politiken und -Programme sowie in den Binnenmarkt teilzuintegrieren, wenn dafür die Voraussetzungen gegeben sind. Im Falle der Ukraine liege der Fokus auf Exporten in die EU und auf Bereichen von gegenseitigem strategischen Interesse, in denen die Ukraine eine signifikante Produktion habe, aber die EU-Norm und -Standards nicht erfülle. Es überrascht, dass die EU-Kommission keine Bereiche außerhalb des Binnenmarktes spezifiziert und auch nicht die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik nennt, bei denen eine schrittweise Integration sehr viel leichter möglich. Hier könnte der Bundestag konkrete Vorschläge für attraktive Zwischenstufen in den Verhandlungsprozess mit der Ukraine einbringen, wie dies kürzlich der Europapolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Gunther Krichbaum, in der Politischen Meinung (Nr. 586) getan hat. Zudem muss der Bundestag darauf achten, dass es durch eine Teilintegration in den Binnenmarkt keine dauerhaften Ausnahmen gibt, weil dies letztlich den Zusammenhalt der EU gefährden würde.
3. Es müsse klare Zusicherungen geben, dass kein künftiger Mitgliedstaat wie die Ukraine die Aufnahme anderer Kandidaten blockiere, wenn diese die Beitrittskriterien erfüllen, heißt es im Verhandlungsrahmen. Diese Forderung richtet sich an den falschen Partner und ist in der Sache völlig unzureichend. Angesichts der inzwischen 18 Jahre andauernden Blockade Nordmazedoniens durch Griechenland und Bulgarien oder der Drohungen Viktor Orbans gegen die Ukraine bedarf ist dringend vertraglicher Regelungen für die gesamte EU: statt durch Blockade müssen bilaterale Streitigkeiten durch schiedsgerichtliche Verfahren, integrationspolitische Streitigkeiten durch Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs überwunden werden, so der Vorschlag von Krichbaum. Darauf muss der Bundestag in den Verhandlungen über eine institutionelle Reform bestehen.
Für all das braucht der Bundestag ein nachhaltiges Engagement. Denn es geht bei der Ukraine nicht um irgendeine Erweiterung, es geht um die Selbstbehauptung der EU.
Hans-Joachim Falenski (geb. 28.01.1956) war von 1983 bis 2021 außenpolitischer Berater der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Er ist derzeit Berater für Erweiterungsfragen beim Europapolitischen Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Gunther Krichbaum MdB.