Uns eint das Ziel! Das sei der Debatte zwischen Befürworterinnen und Befürwortern der Entscheidungslösung oder der Widerspruchsregelung bei der Organspende vorangestellt. Wir wollen, dass mehr Menschen durch eine Organspende die Chance auf ein besseres Leben, ja die Chance auf ein Überleben überhaupt erhalten. Uns alle lässt es nicht ruhen, dass über 8 400 Menschen und ihre Angehörigen täglich auf den Anruf warten, dass ein passendes Spenderorgan zur Verfügung steht, und drei Menschen auf dieser Warteliste täglich versterben. Wir wollen und wir müssen besser werden bei der Nutzung der Transplantationsmedizin zum Segen schwer erkrankter Menschen.
Aber ich sage sehr deutlich: Die Widerspruchsregelung ist keine Lösung!
Ich halte diese Regelung für ethisch nicht vertretbar und für nicht zielführend im Hinblick auf unser Ziel, die Transplantationsmedizin mit ihren Möglichkeiten zu stärken.
Das Selbstbestimmungsrecht ist der zentrale Anker für die Medizinethik in unserem Land. Das entspricht dem Menschenbild unserer Verfassungsordnung. Im Grundgesetz steht schon in Artikel 2, Absatz 2: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich.“
Dieses Selbstbestimmungsrecht steht nicht unter Vorbehalt; es muss nicht erst durch eine wie auch immer geartete Widerspruchserklärung gleichsam aktiviert werden. Ja, ich wünsche mir, dass sich noch mehr Menschen mit der Frage einer Organspende nach ihrem Tod auseinandersetzen, dass sie sich bereit erklären, Organe zu spenden. Jeder sollte bedenken, dass die Wahrscheinlichkeit, durch eine plötzliche Erkrankung selbst ein Organ zu brauchen, viel höher ist als die Wahrscheinlichkeit, als Organspender infrage zu kommen. Aber die Frage lautet zugespitzt: Verliert ein Mensch, der sich mit dieser Entscheidung nicht befasst, sein Recht auf Selbstbestimmung? Und da sage ich: Nein!
Denn das Selbstbestimmungsrecht ist ein Geburtsrecht, und deshalb kann Schweigen in dieser fundamentalen Frage keine Zustimmung bedeuten.
Im Übrigen gilt, dass die Spendenbereitschaft nicht das entscheidende Problem ist. Bei den tatsächlich festgestellten potenziellen Spendern haben wir eine Zustimmungsquote von 75 Prozent – durch eigene Erklärung oder durch Erklärung der Angehörigen über den mutmaßlichen Willen. Wir sind also nahe bei jenen etwa 80 Prozent, die der Organspende grundsätzlich positiv gegenüberstehen. Andererseits sagen uns Studien, zum Beispiel eine aus dem Jahr 2020, dass jährlich ca. 28 000 Menschen als potentielle Spender infrage kommen – nur dass die meistens nicht festgestellt und gemeldet werden. Folglich, so die Studie, sei das Hauptproblem ein Erkennungs- und Meldedefizit. Und daran ändert der Regelungsvorschlag der Widerspruchsregelung nichts.
Deswegen hat der Bundestag 2020 ein Gesetz zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft bei der Organspende beschlossen, das vornehmlich auf eine Verbesserung dieser Abläufe zielt. Doch dieses Gesetz wurde bis heute in wesentlichen Punkten nicht umgesetzt.
Das Kernstück des Gesetzes, das digitale Organspende-Register, sollte 2022 in Betrieb gehen. Es wurde aber erst im März dieses Jahres stufenweise eingeführt und soll erst im kommenden Jahr vollständig umgesetzt werden. Ich bin bereit, so manche Erklärung für die Verzögerung der einzelnen Maßnahmen, die der Deutsche Bundestag bereits beschlossen hat, zu akzeptieren. Ich bin aber nicht bereit zu akzeptieren, dass es ein Scheitern aller bisherigen Bemühungen darstellt, wenn ein Gesetz nicht oder nur schleppend umgesetzt wird!
Als Beweis der vermeintlichen Überlegenheit der Widerspruchsregelung wird oft Spanien herangezogen. Doch Vertreterinnen und Vertreter des spanischen Gesundheitssystems haben in Sachverständigenanhörungen des Deutschen Bundestages immer wieder darauf hingewiesen, dass eben nicht die Widerspruchsregelung als solche die guten Bedingungen für mehr Organspenden schafft. So fasst das auch eine entsprechende Studie zusammen. Ausschlaggebend hingegen sei: „Ein proaktives Spendererkennungsprogramm, das von gut ausgebildeten Transplantationskoordinatoren durchgeführt wurde, die Einführung systematischer Todesfallprüfungen in den Krankenhäusern in Verbindung mit einer positiven sozialen Atmosphäre, einem angemessenen Management der Beziehungen zu den Massenmedien und einer angemessenen wirtschaftlichen Vergütung für die Krankenhäuser waren für diesen Erfolg verantwortlich.“
Mich verwundert auch die Forderung des Bundesrates mit Beschluss vom 5. Juli 2024, der die Einführung der Widerspruchsregelung befürwortet. Denn eigentlich haben die Bundesländer noch Hausaufgaben zu erledigen. Die Abgabe einer Erklärung zur Organ- und Gewebespende sollte auch direkt vor Ort bei den für die Ausstellung und die Ausgabe von Ausweisen zuständigen Stellen des Bundes und der Länder möglich sein. So sieht es das Gesetz von 2020 vor. Doch die Länder fordern den Deutschen Bundestag mittlerweile auf, die Verpflichtung zurückzunehmen, die Bürgerämter mit dem Organspenderegister zu verknüpfen. Sie lehnen es also ab, ein Gesetz umzusetzen. Notwendig wäre es aber, den Weg hin zu einer Stärkung der Entscheidungslösung konsequent weiterzugehen.
Es gibt also zahlreiche Möglichkeiten, um das System der Organspende in unserem Land zu verbessern. Allein der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebietet es, die Entscheidungslösung weiter voranzutreiben. Denn das System der Organspende braucht vor allem Vertrauen. Vertrauen gewinnen wir durch wirkliche Verbesserungen, aber sicher nicht durch einen Systemwechsel, der mit tiefen und bedenklichen Grundrechtseingriffen erkauft wird. Deshalb spreche ich mich aus Überzeugung gegen die Widerspruchsregelung aus. Denn die Organspende soll bleiben, was sie ist: Ein Geschenk aus Liebe zum Leben.
Der Beitrag basiert auf der Rede von Hermann Gröhe im Deutschen Bundestag vom 5.12.2024
Hermann Gröhe, geboren 1961 in Uedem, ist stellvertretender Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung und der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im deutschen Bundestag.
Den Beitrag zur Widerspruchlösung von Karl Laumann finden Sie hier.