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Präsidentschaftswahl in der Türkei - Warum wählen die Deutschtürken mehrheitlich Erdogan?

Erklärungsversuche von Politikern, Journalisten und Forschern

Die Türkei hat gewählt. Wäre nur in Deutschland abgestimmt worden, hätte der Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan bereits in der ersten Runde mit 65 Prozent die absolute Mehrheit bekommen. Warum schneidet Erdogan bei den wahlberechtigten Deutschtürken so stark ab? Die Gründe sind vielfältig.

Sie gilt als eine der wichtigsten Wahlen des Jahres 2023. Am 14. Mai hat die türkische Bevölkerung über ihr künftiges Parlament und den Präsidenten abgestimmt. Weder Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan noch sein Herausforderer Kemal Kilicdaroglu konnten in der ersten Runde die absolute Mehrheit erringen. Am kommenden Sonntag, den 28. Mai, wird die Stichwahl entscheiden. Die beiden Kandidaten liegen Kopf-an-Kopf. Es kommt auf jede Stimme an. In Deutschland bestimmen etwa 1,5 Millionen wahlberechtigte Türken über das Schicksal ihrer Landsleute in der Heimat mit. Würden allein die „deutschen“ Wahlergebnisse zählen, hätte Erdogan allerdings schon in der ersten Runde mit 65 Prozent gewonnen. Die Kluft ist groß zwischen dem Abstimmungsverhalten der Auslandstürken in Deutschland und den Bürgern in der Türkei. Warum schneidet Erdogan bei den wahlberechtigten Deutschtürken so gut ab?

Anadolu Agency © Statista 2023
Anadolu Agency © Statista 2023

Vergleicht man die aktuellen Zahlen mit denen früherer Jahre, zeigt sich, dass Präsident Erdogan unter den Deutschtürken eine sehr stabile Basis hat. Das Wahlergebnis von 2023 deckt sich fast punktgenau mit den Zahlen von 2018 (Vergleich Gesamtergebnis 2018) und liegt nur leicht unter dem Ergebnis von 68,6 Prozent im Jahr 2014 (Vergleich Gesamtergebnis 2014). Auch beim Verfassungsreferendum von 2017 (Vergleich Gesamtergebnis 2017) entschied sich eine größere Mehrheit von 63 Prozent der wahlberechtigten Deutschtürken, Erdogan durch Einführung des autokratischen Präsidialsystems mehr Macht zu gewähren. Insgesamt gaben stets rund 52 Prozent der Wähler Erdogan ihre Stimme – sowohl bei den Präsidentschaftswahlen 2014/2018 als auch beim Verfassungsreferendum.

 

Erklärungsversuche: Islamisch-konservative Prägung oder „Botschaft an die Deutschen“?

Wie erklären sich die hohen Zustimmungswerte für den Amtsinhaber?

„Sein Wahlerfolg hat sicher damit zu tun, dass es Erdogan gelungen ist, den Türken das Gefühl zu geben: Wir sind wieder wer!“, so der türkischstämmige Minister Cem Özdemir im Interview mit Dirk Fisser von der Kölnischen Rundschau[1]. „Nachdem die Türkei lange Zeit als kranker Mann am Bosporus galt und Schlagzeilen machte mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten, hat Erdogan es […]  geschafft, das Land zu konsolidieren und eine Aufbruchsstimmung auszulösen.“ Doch auch auf Seiten der deutschen Politik sieht der Minister Versäumnisse. Zu lange habe man den Menschen in Deutschland vermittelt, sie würden nicht dazu gehören. Rassistische Anschläge hätten das Problem verschlimmert. Ein Lösungsvorschlag von Özdemir: schnellere Einbürgerungen. „Ich würde mir wünschen, dass es uns gelingt, aus Ausländern Inländer zu machen, wenn sie unsere Sprache sprechen, sich zum Grundgesetz bekennen und hier ihren Lebensunterhalt verdienen. Dann gehören sie dazu. Die dürfen wir nicht an Erdogan verlieren.“

 

Macit Karaahmetoglu, stellvertretender Vorsitzender der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe, hatte ein solch hohes Ergebnis für Erdogan in diesem Jahr nicht erwartet. „Kein Türke, der dieses Land [Tükrei] liebt, kann für Erdogan stimmen. […] Ich glaube zwar, dass Erdogan in Deutschland zahlenmäßig wieder vorne sein wird, aber nicht mehr mit rund 65 Prozent wie 2018. […] Weil auch die Türken in Deutschland sehen, dass das Land wirtschaftlich am Abgrund steht. […]. Das merkt selbst der Dümmste“, sagte er Büşra Delikaya vom Tagesspiegel[2] noch kurz vor der Wahl. Doch es kam anders als von Karaahmetoglu erwartet. Die Gründe für die hohen Zustimmungswerte seien vielfältig. „Die Türken in Deutschland stammen mehrheitlich aus Anatolien und vom Schwarzmeer […]. Das sind islamisch-konservativ geprägte Regionen. Sie konsumieren fast nur regierungsnahe Mainstream-Medien. Außerdem macht die Diskriminierung, die Türken in Deutschland erleben, sie anfällig für Erdogans Propaganda.“ Im Falle einer Niederlage Erdogans würden sich allerdings auch die Deutschtürken vermehrt von der AKP abwenden, vermutet Karaahmetoglu. „Die Türken sind grundsätzlich ein staatstragendes Volk. Sie achten das gewählte Staatsoberhaupt. Das gilt auch für Kilicdaroglu im Fall eines Wahlsieges.“

„Sie wählen ihn, weil er 'einer von uns' ist. Durch diese Identitätspolitik hat Erdogan jahrzehntelang Wahlen zu Volkszählungen umgewandelt - und so Wahl um Wahl gewonnen“

Deniz Yücel

Deniz Yücel nimmt in der Welt[3] andere Länder mit einer großen türkischen Diaspora in den Blick. Dort läge die prokurdisch-linke HDP oder die CHP deutlich vor der AKP. „Aber können türkische Einwanderer in Österreich so viel mehr Diskriminierung erlitten haben als in der Schweiz? Haben sie in den Niederlanden so viel schlechtere Chancen als in Kanada? Wohl kaum. Vielmehr zeigen die unterschiedlichen Wahlergebnisse, dass für die Wahlentscheidung der Auslandstürken zumeist nicht die Erfahrungen ausschlaggebend sind, die sie in ihrer neuen Heimat gemacht haben, sondern etwas Anderes: die Soziologie der Migration, die sich teils noch über Generationen hinweg fortsetzt.“ Auslandstürken wählen weiterhin so, wie das „jeweilige Milieu in der Türkei, dem sie entstammen.“ Erdogan komme besonders gut bei den einstigen Gastarbeitern in Deutschland an, weil sie „aus dem türkisch-sunnitischen, frommen, armen, bildungsfernen Milieu der anatolischen Provinz oder dem Rand der Metropolen“ stammten. „Sie wählen ihn, weil er ‚einer von uns‘ ist. Durch diese Identitätspolitik hat Erdogan jahrzehntelang Wahlen zu Volkszählungen umgewandelt – und so Wahl um Wahl gewonnen.“ Für die Opposition sei es im Ausland besonders schwer, die Wähler davon zu überzeugen, außerhalb ihrer Milieus zu stimmen, „schließlich spürt man in Amsterdam oder Köln nicht die Folgen von Erdogans eigenwilliger Zinspolitik.“

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Im Gespräch mit Christian Wernicke von der Süddeutschen Zeitung[4] interpretiert der Integrationsexperte Haci-Halil Uslucan das Abstimmungsverhalten der Deutschtürken als „Botschaft an die Deutschen“. In der Forschung sei schon lange bekannt, dass sich Menschen, die sich ausgegrenzt oder benachteiligt fühlen, eine stärkere Zugehörigkeit zu ihrem Herkunftsland oder der Heimat der Eltern entwickeln. „Recep Tayyip Erdogan und seine AKP haben in den vergangenen Jahren genau an diese nationalen Gefühle appelliert.“ Seit 2010 habe sich das Phänomen der Abwendung von Deutschland verschärft. „Und der Anteil derer, die nur die Türkei als ihre Heimat sehen, steigt. Das ist eine Art Rückwendung, eine Re-Ethnisierung.“ Gründe dafür seien die Polemiken von Thilo Sarrazin, die Morde des NSU und das Erstarken der AfD. Die Türken empfänden eine „anti-migrantische Haltung“ in der deutschen Gesellschaft. „Man fühlt sich selbst angesprochen, wenn Deutsche polemisch über ‚die Türken‘ oder ‚die Muslime‘ reden. Nehmen Sie beides zusammen - dann haben Sie genau die Wählerschaft von Erdogan, die sich als national und islamisch versteht. Das treibt diese Menschen direkt in die Arme von Erdogan.“ Doch auch eine soziologische Komponente spielt hier mit rein: „Diese Bevölkerung war weniger gebildet, kam oft vom Land, war stark konservativ und islamisch geprägt. Diese Menschen halten traditionelle, religiöse Werte hoch – bis heute.“ So erklärt sich das unterschiedliche Wahlverhalten von Türken etwa in Großbritannien oder Schweden. Die Einwanderer  stammten hier aus anderen Milieus.

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Zu Erdogans Wählerschaft in Deutschland gehöre auch ein „hochexplosives Gemisch aus politischem Islam und türkischem Rechtsextremismus“, warnt der Radikalisierungsforscher Burak Copur auf Weltplus[5] in einem Interview mit Kristian Frigelj. „Da gibt es die Erdoganisten und Grauen Wölfe, und jetzt kommen noch die radikal-islamistischen Kurden, die sogenannte türkische Hisbollah, die sich zur Partei Hüda Par konstituiert hat und Erdogan unterstützt.“ Letztere habe auch in Deutschland Wahlkampf betrieben. Eine Niederlage Erdogans könnte die Situation sogar noch verschärfen. „Wenn Erdogan als der große Beschützer der türkischen Community in Deutschland wegfällt, dann wird es bei seinen Anhängern zu einer möglichen Identitätskrise und Verlustängsten kommen. Das kann zu neuen Desintegrationsprozessen führen.“ Die Enttäuschten könnten dann von noch radikaleren Kräften umworben werden. Dafür mitverantwortlich seien die „nationalistisch-islamischen Erziehungsideologien“ der Deutschtürken und die mediale Auslandspropaganda der AKP, und nicht zuletzt die deutsche Integrationspolitik. „Durch Diskriminierung und Ausgrenzung […] bekommen sie quasi vermittelt, dass sie nicht Teil dieser Gesellschaft sind. Oder nehmen Sie den NSU […], der jahrelang mordend umherzog und türkeistämmige Bürger umbrachte, wo viele Medien über ‚Dönermorde‘ schrieben und die Polizei eine Sonderkommission ‚Bosporus‘ gegründet hat. Das sind alles Signale der Abwertung, Diskriminierung und Ausgrenzung.“

 

Fazit: Nationalismus, Religiosität und Entfremdung

Dass Amtsinhaber Erdogan bei den wahlberechtigten Türken in Deutschland so gut abschneidet, hat also vielfältige Gründe. So sind deutschtürkische Milieus seit jeher konservativer und religiöser geprägt als die Mehrheit der türkischen Bevölkerung. Das macht sie für Erdogans nationalistisch-islamistische Politik anfälliger. Hinzu kommt, dass sich viele Türken der deutschen Gesellschaft nicht zugehörig fühlen. Sie erleben Diskriminierung und Ausgrenzung, die große Fremdheitsgefühle auslösen. Erdogan ist es gelungen, diese Gefühlslagen in Wählergunst umzuwandeln. Und nicht zuletzt: Die Auslandstürken sind von vielen wirtschaftlichen oder innenpolitischen Problemen in der Türkei nicht oder nur wenig betroffen.

Bleibt abzuwarten, wie die Wähler am kommenden Sonntag entscheiden.

 

Wadim Lisovenko, geboren 1989 in Kyiv, arbeitet seit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Medienanalyse und –archiv, Hauptabteilung WD/ACDP der Konrad-Adenauer-Stiftung. Zuvor studierte er Geschichtswissenschaft und Psychologie an der Universität Bonn und an der University of New Mexico, gefolgt von einem Masterstudium in Geschichte der Neuzeit an der Universität Bonn und der Universidad de Granada. 

 

[1] Dirk Fisser, "Wir haben ein Interesse an einer starken Türkei". Interview mit Cem Özdemir, Kölnische Rundschau, 10.05.2023.

[2] Büşra Delikaya, „Mit der Türkei geht es seit fünf Jahren abwärts“. Interview mit Macit Karaahmetoglu, Tagesspiegel, 13.05.2023.

[3] Deniz Yücel, Die Schlüsselrolle der Auslandstürken für Erdogans Zukunft, Die Welt, 03.05.2023.

[4] Christian Wernicke, "Direkt in die Arme von Erdogan". Interview mit Haci-Halil Uslucan, Süddeutsche Zeitung, 02.05.2023.

[5] Kristian Frigelj, "Hochexplosives Gemisch aus politischem Islam und türkischem Rechtsextremismus". Interview mit Burak Copur, WELTplus, 28.04.2023.

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