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picture alliance/dpa | Jonas Walzberg

Wer von Islamismus reden will, darf von Rassismus nicht schweigen.

Eine Erwiderung von Götz Nordbruch, Projektleitung von ufuq.de im Kompetenznetzwerk „Islamistischer Extremismus“ (KN:IX), auf den Beitrag „Wache Trittbrettfahrer“ von Andreas Jacobs in der Zeitschrift "Die Politische Meinung" Nr. 579.

„Wache Trittbrettfahrer“ – mit dieser Formulierung greift Andreas Jacobs, Leiter des Bereichs Gesellschaftlicher Zusammenhalt bei der Konrad-Adenauer-Stiftung, eine Debatte auf, in der es um aktuelle Strategien islamistischer Akteure geht – und um Möglichkeiten, diesen auf politischer und gesellschaftlicher Ebene entgegenzuwirken (Jacobs 2023).

Im Mittelpunkt der Debatte steht die Frage nach der Rolle von gesellschaftlichen Missständen und Ungerechtigkeiten in Radikalisierungsprozessen und den daraus abzuleitenden Konsequenzen für Präventionsmaßnahmen. In Deutschland setzen viele Träger von Präventionsprojekten auf diskriminierungskritische Ansätze, die Jugendliche und junge Erwachsene dazu ermutigen, sich gegen Benachteiligungen und für eigene Rechte und Interessen einzusetzen. Ein Empowerment, so die Annahme, das Chancengleichheit, Repräsentation und Teilhabe von Muslim*innen und Menschen mit Migrationsbiografien fordert und fördert, stärke demokratische und pluralistische Einstellungen und wirke damit auch einem Rückzug aus der Gesellschaft und der Hinwendung zu islamistischen Szenen entgegen.

 

„Ihre Bomben, unsere Bomben“

Historisch ist der Zusammenhang von gesellschaftlichem Unrecht und der Entstehung von islamistischen Bewegungen offensichtlich, wie Jacobs mit Hinweis auf die Entstehungsgeschichte des Islamismus im Kontext des europäischen Kolonialismus verdeutlicht: „Die Entstehung des modernen Islamismus vor fast hundert Jahren beruhte nicht zuletzt auf konkreten Erfahrungen mit Fremdherrschaft und Unterdrückung. Dass Staaten, politische Bewegungen und gesellschaftliche Gruppen den Verweis auf historische Ungerechtigkeiten als Machtressource nutzen, ist deshalb keine neue Erkenntnis“. 

Inwiefern sich diese Feststellung auch auf aktuelle Entwicklungen übertragen lässt, ist hingegen umstritten. Der französische Nahostwissenschaftler François Burgat hat den Gegenstand dieser Kontroverse pointiert zusammengefasst: Es gehe letztlich um die Frage, in welchem Verhältnis „ihre Bomben“ zu „unseren Bomben“ (Burgat 2015) stünden, inwiefern sich also die islamistische Radikalisierung von jungen Menschen heute auch als Reaktion auf Gewalt beispielsweise im Algerienkrieg oder im US-geführten „war on terror“ verstehen lässt.

Jacobs Beschreibung zeitgenössischer islamistischer Strömungen als „wache Trittbrettfahrer“ überträgt diese Debatte auf den innergesellschaftlichen Kontext, zum Beispiel in Deutschland, und dort bestehende Machtverhältnisse und Ungerechtigkeiten. Als „woke“ – hier übersetzt als „wach“ – werden gesellschaftliche Strömungen bezeichnet, die für gesellschaftliche Ungleichheiten sensibilisieren und auf ihre Überwindung hinarbeiten. Aber lassen sich islamistische Strömungen, die Diskriminierungen und Ungerechtigkeiten anprangern, tatsächlich als „woke“ beschreiben?

Lorenzo Vidino, ein italienisch-amerikanischer Extremismusforscher, der in den vergangenen Jahren vor allem zur islamistischen Bewegung der Muslimbruderschaft in Europa geforscht und dabei auch den Begriff „Woke Islamism“ geprägt hat, vertritt diese These (vgl. Vidino 2022). Die Wortschöpfung spiegelt die Annahme wider, islamistische Bewegungen würden sich zunehmend an linken politischen Strömungen orientieren und Fragen von sozialer Gerechtigkeit und gesellschaftlichen Ungleichheiten für eigene Zwecke instrumentalisieren. Hinter der von islamistischen Bewegungen formulierten Kritik an antimuslimischem Rassismus und ihren Forderungen nach mehr Sichtbarkeit und Teilhabe im öffentlichen Raum steht nach Vidinos Ansicht ein strategisches Vorgehen: Unter dem Deckmantel von Forderungen nach gleichen Rechten, die mit einem Opfernarrativ („Die Muslime sind Opfer westlicher Unterdrückung und Gewalt!“) einhergingen, werben sie für ein islamistisches Weltbild und stärken die eigene Position im gesellschaftlichen und politischen Diskurs.

Vidino verbindet diese Warnung mit einer vehementen Kritik an Trägern der Präventionsarbeit, die auf diskriminierungs- und rassismuskritische Ansätze setzen. Aus seiner Sicht reproduzieren diese – bewusst oder unbewusst – antiwestliche Opfernarrative und bedienen islamistische Weltbilder. 

 

Legitime Fragen, antidemokratische Antworten

Tatsächlich spielt die Auseinandersetzung mit Diskriminierungserfahrungen und gesellschaftlichen Ungleichheiten in vielen Präventionsansätzen eine wichtige Rolle. Vidinos Vorwurf einer inhaltlichen Annäherung oder Überschneidung von islamistischen und diskriminierungskritischen Perspektiven ist allerdings aus verschiedenen Gründen falsch.

Diskriminierungskritische Präventionsansätze beziehen sich auf zahlreiche – deutsche wie internationale – Forschungen, die auf die Bedeutung von gesellschaftlichen Missständen („grievances“) als einen Faktor in Radikalisierungsprozessen hinweisen (vgl. dazu beispielsweise Ajil 2020, Beelmann 2019, S.199 oder Maurer 2018, S. 52-54). Als „Missstände“ werden dabei unterschiedliche Dinge gefasst: das Wissen um oder sogar die direkte Konfrontation mit Gewalt und Kriegen, gravierende gesellschaftliche Ungerechtigkeiten oder auch individuelle Erfahrungen mit Diskriminierungen und Ausgrenzung.

Deutlich wird in diesen Forschungen, dass es dabei nicht um einen kausalen Zusammenhang geht, etwa in dem Sinne, dass Betroffene von Ausgrenzungen oder auch von Gewalt sich allein aufgrund einer solchen Erfahrung islamistischen Ideologien oder Bewegungen zuwenden. Deutlich wird auch, dass es in der Regel mehrere und sehr unterschiedliche Faktoren sind, die Radikalisierungsprozesse begünstigen – neben individuellen, familiären oder psychologischen spielen auch soziale und ideologisch-religiöse Faktoren eine Rolle. In der Regel ist es eine Gemengelage, die die Abwendung von der Gesellschaft und die Übernahme von islamistischen Denk- und Verhaltensweisen befördert. Und nicht alle Islamisten waren selbst von Marginalisierung, Ausgrenzung oder Gewalterfahrungen betroffen.

Erfahrungen von Benachteiligung und Nichtzugehörigkeit, aber auch von weitergehendem gesellschaftlichen Unrecht gelten als mögliche Momente einer „kognitiven Öffnung“, die die Übernahme einer extremistischen Ideologie oder eines gewaltvollen Handelns denkbar machen. So lässt sich die Hinwendung zum Islamismus in vielen Biografien auch als Versuch beschreiben, herausfordernde individuelle und gesellschaftliche Erfahrungen zu bewältigen. Diese Erfahrungen, die von islamistischen Strömungen aufgegriffen werden, haben vielfach einen realen Kern – genauso wie die Kritik, die Empörung und die Frustration, die damit einhergehen: So sind antimuslimische Diskurse tatsächlich weit verbreitet, antimuslimische Gewalttaten passieren täglich und auch eine Kritik an außenpolitischen Doppelstandards, wie sie von islamistischen Akteuren beispielsweise in Bezug auf die deutsche Politik gegenüber autoritären Regimen in Ägypten oder China formuliert wird, lässt sich kaum von der Hand weisen.

Problematisch sind in diesem Zusammenhang nicht die Themen und Fragen, die von islamistischen Akteuren aufgegriffen werden, sondern die Antworten, die sie auf diese Fragen geben. Am historischen Beispiel, das von Jacobs angeführt wird: Die Klage der Muslimbruderschaft über „Fremdherrschaft und Unterdrückung“ in den 1920er Jahren war durchaus begründet, problematisch war und ist die Antwort, die die Muslimbruderschaft auf diese Missstände anbietet: „Der Islam ist die Lösung!“ – wobei der Islam, so wie er von der Muslimbruderschaft verstanden wird, auf eine religiös-totalitäre Gesellschaftsordnung hinausläuft.

 

Empowerment statt Rückzug und Gewalt

„Wer von Islamismus reden will, darf von Rassismus nicht schweigen“ – mit dieser Kurzformel fassen wir bei ufuq.de unseren Ansatz zusammen, bei dem es ausdrücklich nicht darum geht, die Ursache von Radikalisierungsprozessen allein auf Erfahrungen von Ausgrenzung und Diskriminierungen zu reduzieren (vgl. Korucu/Müller 2020). Gleichwohl bietet die Auseinandersetzung mit entsprechenden Erfahrungen einen wichtigen Ansatzpunkt für die Präventionsarbeit, die in Schule, politischer Bildung und Jugend- und Sozialarbeit möglich ist. Als Orte, an denen lebensweltbezogene Lern- und Entwicklungsprozesse bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen angestoßen und begleitet werden, eignen sie sich besonders, um diese auch im Umgang mit individuellen und gesellschaftlichen Herausforderungen zu stärken und Bewältigungsstrategien aufzuzeigen. Hierzu zählt der Umgang mit Diskriminierungen aufgrund von (realer oder vermeintlicher) Herkunft oder Religionszugehörigkeit, die in unterschiedlichen Lebensbereichen (u. a. Bildung, Arbeitsmarkt, Medien) durch zahlreiche Studien dokumentiert sind.

Damit geht notwendigerweise auch ein kritischer Blick auf die Lebenswirklichkeit von jungen Muslim*innen einher, die eben nicht allein durch ihre Familien, Freund*innen, Moscheen oder eventuelle kulturell-religiöse Einflüsse aus den Herkunftsländern, sondern wesentlich auch durch Erfahrungen in Freizeit, Schule, Medien oder auf dem Arbeitsmarkt geprägt wird. Diskriminierungen und Erfahrungen von Nichtanerkennung und Nichtzugehörigkeit spielen hier eine wichtige Rolle.

Dies in der Präventionsarbeit – und nicht nur dort – anzuerkennen, ist nicht gleichbedeutend mit einer Übernahme islamistischer Opfernarrative. Im Gegenteil: Ein Empowerment, wie es diskriminierungskritische Präventionsansätzen anstreben (vgl. dazu Abushi/Asisi 2021), unterscheidet sich in drei Aspekten grundlegend von islamistischen Weltbildern und stellt diese zugleich grundsätzlich in Frage.

Erstens: Empowerment ist nicht gleichbedeutend mit Überhöhung. Wenn junge Menschen einen selbstbewussten Bezug zum Islam und zum Muslimisch-Sein entwickeln und dies auch nach außen zeigen, wird dies vielfach als identitätspolitische Überhöhung kritisiert. Tatsächlich ist eine solche Überhöhung charakteristisch für islamistische Strömungen: Der Bezug zum Islam ist für islamistische Akteure nicht nur Quelle von Stolz auf die eigene Identität, sondern auch von Abwertung von anderen, von allem Nicht-Muslimischen – wobei diese Abwertung selbst jene Muslim*innen trifft, die nicht dem islamistischen Islamverständnis entsprechen. Im Unterschied dazu geht es in diskriminierungskritischen Ansätzen um ein Sichtbarwerden unter Gleichen, um dadurch gleiche Rechte und Interessen einfordern zu können. Eine solche „strategische Schließung“ über eine Facette der persönlichen Identität ist keineswegs neu, sondern war auch für die Bürgerrechtsbewegung in den USA („Proud to be black!“), die Frauenbewegung („Frauenpower“) oder die Schwulenbewegung („Gay pride“) eine wichtige Grundlage, um mit eigenen Erfahrungen und daraus abgeleiteten Forderungen Gehör zu finden – Forderungen, die auf Gleichberechtigung und Chancengerechtigkeit abzielen, nicht auf Abgrenzung und Abwertung.

Zweitens: Als „woke“ bezeichnete diskriminierungskritische Ansätze beschränken sich nicht auf Forderungen nach gleichen Rechten von Menschen, die aufgrund von Herkunft, Religion oder Hautfarbe benachteiligt werden. In diskriminierungskritischen Präventionsansätzen geht es um intersektionale Perspektiven, wobei Intersektionalität das Zusammendenken von unterschiedlichen Diskriminierungsformen meint. Dies betrifft beispielsweise Schwarze Frauen, die sowohl als Frauen als auch als Schwarze Diskriminierungen erleben – oder muslimische Frauen, die in der Gesellschaft als Musliminnen, aber eben auch als Frauen für ihre Rechte streiten müssen. Diskriminierungskritische Ansätze richten sich damit zwangsläufig auch gegen Benachteiligungen, die muslimische Frauen als Frauen in muslimischen Communities erleben. Diese Ansätze stehen im grundsätzlichen Widerspruch zu islamistischen Weltbildern, die Frauen diese grundsätzliche Gleichheit und Gleichwertigkeit absprechen.

Drittens: Die Kritik an strukturellen Diskriminierungen (z. B. als „struktureller Rassismus“), die vielen Präventionsansätzen zu Grunde liegt, zielt darauf, die historische Gewordenheit von diskriminierenden Strukturen in Gesellschaft und Politik aufzuzeigen, beispielsweise wenn es darum geht, die Benachteiligung von Frauen, Homosexuellen oder von Muslim*innen in der Gesellschaft zu überwinden. Diese Strukturen sind historisch tradiert – aber veränderbar, wenn sich ein gesellschaftliches Bewusstsein für die damit verbundenen Machtverhältnisse und Ungerechtigkeiten herstellen lässt. Auch in dieser Hinsicht unterscheiden sich diskriminierungskritische Ansätze grundlegend von einer islamistischen Gesellschaftskritik, die Diskriminierungen von Muslim*innen in der Gesellschaft nicht selten auf überhistorische und zwangsläufige Verschwörungen von Nichtmuslim*innen gegen Muslim*innen zurückführt. Einer islamistischen Kritik der Gesellschaft geht es nicht um eine Verwirklichung von Grundrechten und -freiheiten, sondern um deren Überwindung durch eine religiöse Ordnung, die nach ihrem Islamverständnis gestaltet ist.

Die Rede von „Woke Islamism“ ist insofern ein Widerspruch in sich: Islamistische Weltbilder, die sich ausdrücklich gegen Pluralismus und Demokratie wenden, sind mit diskriminierungskritischen Ansätzen unvereinbar. Oder andersrum: Diskriminierungskritische Ansätze wenden sich gerade gegen Weltbilder, die auf eine Überhöhung der eigenen Gemeinschaft und die Abwertung von anderen abzielen. Vor diesem Hintergrund erscheint die Rede von „Woke Islamism“ in erster Linie als polemischer Kunstgriff, der sich weniger gegen Islamisten als gegen diskriminierungskritische zivilgesellschaftliche Organisationen richtet. Dabei ist es gerade deren Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die seit Jahren dazu beiträgt, islamistische Opfernarrative und Verschwörungserzählungen zu entlarven und für demokratische und pluralistische Grundwerte zu werben.


Hier gelangen Sie zum ursprünglichen Text von Dr. Andreas Jacobs.

Literatur:

Abushi, Sakina/Asisi, Pierre (2021): Die „Anderen“ empowern? Versuch einer Begriffsbestimmung für die politische Bildung und pädagogische Praxis, ufuq.de, 8.7.2021.

Ajil, Ahmed (2020): Politico-ideological violence: Zooming in on grievances, European Journal of Criminology, S. 1-18.

Beelmann, Andreas (2019): Grundlagen eines entwicklungsorientierten Modells der Radikalisierung, in: Erich Marks (Hrsg.): Prävention & Demokratieförderung. Gutachterliche Stellungnahmen zum 24. Deutschen Präventionstag, Godesberg, S. 181-209.

Burgat, François (2015): Réponse à Olivier Roy : les non-dits de « l’islamisation de la radicalité », nouvelobs.com, 31.12.2015.

Jacobs, Andreas (2023): Wache Trittbrettfahrer, Zeitschrift für Politik, Gesellschaft, Religion und Kultur 579, 4.4.2023.

Korucu, Canan/Müller, Jochen (2020): „Ganz nebenbei“ – Pädagogische Arbeit und Prävention bei ufuq.de im Spiegel migrationsgesellschaftlicher Entwicklungen, ufuq.de, 3.6.2021.

Maurer, Thomas (2018): Die Pluralität der Radikalisierung – Eine systematische Analyse der Theorieansätze zur Radikalisierungsforschung, J – Journal for Deradicalisation, 13-2017/18, S. 49-100.

Vidino, Lorenzo (2022): The Rise of „Woke“ Islamism in the West, hudson.org, 23.01.2022.

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