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Kritischer Nachhall von Olympia 2024

Olympia 2024 hinterlässt gemischte Gefühle: Von bewegenden Momenten in Paris bis zu kritischen Stimmen über Russlands Rolle. Norbert Seitz beleuchtet die Ambivalenzen.

„Das Beste der Olympischen Spiele ist ihre Kraft, Menschen zu bewegen. Paris hat bewegt.“, bilanzierte Anno Hecker in der „Frankfurter Allgemeinen“ vom 12. August 2024


Verspätete Ehrung

In der überschäumenden Begeisterung hat aber kaum jemand wahrgenommen, dass sich an jenen glücklichen Tagen in Paris auch eine eher skurrile Zeremonie ereignete. Im Champions Park am Fuße des Eiffelturms wurden Athletinnen und Athleten mit Medaillen ausgezeichnet, die sie nicht an der Seine, sondern bei den Winterspielen in Peking 2022 errungen hatten. Grund für die verspätete Verleihung war der Dopingskandal um die russische Eiskunstläuferin Kamila Walijewa, die noch während der Spiele in China wegen eines positiven Befundes gesperrt worden war – nachdem sie ihrem Team zur Goldmedaille verholfen hatte.

Die olympische Siegerehrung im Teamwettbewerb Eiskunstlauf von 2022 war bis zur endgültigen rechtlichen Klärung der Dopingvorwürfe ausgesetzt worden. Anstelle des disqualifizierten russischen Teams wurden nun die Goldmedaillen an die Mannschaft der USA nachgereicht, Japan erhielt Silber. Doch das Drama war keineswegs beendet. Ungeklärt blieb zunächst die Vergabe der Bronzemedaillen: Russland sah sich durch die Streichung der einen, des Dopings überführten, Athletin nicht als Mannschaft insgesamt ausgeschlossen, sondern nur in „reduzierter Besetzung“ auf Rang drei zurückgefallen. Die zunächst Vierten, das kanadische Team, pochten aber auf die Bronzemedaillen, bis der CAS inzwischen seinen Schiedsspruch in dieser Frage traf und dem russischen Team den dritten Platz doch noch zuerkannte. 

Doping, Russland und kein Ende. Putins Regime beschäftigte Olympia auch in Abwesenheit seiner – nicht startberechtigten – Mannschaft. Nicht nur wegen einer verspäteten Siegerehrung, sondern auch wegen ständiger Desinformationsattacken. Gewiss, ‚gedopt wird doch überall‘, wird mancher einwenden. Stimmt, aber staatlich gedopt in solchem Umfang und mit hochkriminellen Professionalität wurde bislang nur in Putins Schurkenstaat, der auch im Stadion Krieg gegen den Westen zu führen pflegt und sogar schon seine Geheimdienste bemühte, um gelagerte Blutkonserven in Dopingtestagenturen nächtens entwenden zu lassen.

 

„Ich fechte weiter, weil dies meine Front ist“

Die 32 russischen und belarussischen Sportlerinnen und Sportler, die als neutrale individuelle Athleten (AIN) in Paris angetreten sind, haben einige Medaillen gewonnen – zum Beispiel im Trampolinturnen, im Damentennisdoppel, im Rudereiner und im Gewichtheben. Die Teilnahmebedingungen umfassten: keine öffentliche oder aktive Unterstützung von Putins Aggression, keine Zugehörigkeit zum russischen Militär oder zu nationalen Sicherheitsbehörden und keine Teilnahme an Mannschaftswettbewerben.

Einigen der „neutralen“ Athletinnen und Athleten hätte man die Starterlaubnis wieder entziehen müssen, nachdem sie im Netz mit geschmacklosen Hassparolen für Putins Krieg und gegen die Ukraine aufgefallen waren.

Doch das IOC zögerte, einen weiteren Konflikt mit den Kreml-Machthabern heraufzubeschwören, die die neutralen Athletinnen und Athleten in Paris öffentlich als „Verräter“ oder „Ausgeburten der Hölle“ gegeißelt hatten. Der fast komplette Ausschluss russischer Sportlerinnen und Sportler von den olympischen Wettbewerben war für das in der Vergangenheit so putingeneigte IOC ein Kompromiss an der Schmerzgrenze – und man wollte vor Ort nicht noch zusätzlich eskalieren. Es sollte – trotz des immer noch nicht restlos aufgeklärten Staatsdopings und der Aggression in der Ukraine – kein Präzedenzfall oder ein Lex Putin geschaffen, sondern an die bislang übliche Sanktionspraxis angeknüpft werden. Und so traten statt Teams einzelne „cleane“ Sportlerinnen und Sportler an. Ohne Flagge und ohne Hymne.

Im Wettkampf trafen die „neutralen“ russischen und belarussischen Sportlerinnen und Sportlern glücklicherweise nicht auf Mitglieder der ukrainischen Equipe. „Ich fechte weiter, weil dies meine Front ist“, erklärte die Teamfechtweltmeisterin Olha Charlan in Paris. Noch Monate zuvor hatte sie nach einem Duell ihrer russischen Gegnerin den obligatorischen Handschlag verweigert und war dafür vom internationalen Fechtverband wegen Regelverletzung disqualifiziert worden.

Auch Hochsprung-Olympiasiegerin Jaroslawa Mahutschich, die herausragende Athletin im ukrainischen Olympia-Team, ließ keinen Zweifel an ihrer kategorischen Ablehnung, im Stadion auf russische Sportlerinnen treffen zu müssen: “Wenn ich russische Athleten sehe, dann sehe ich zerstörte Städte und Leben, die von russischen Menschen zerstört wurden. Ich will einfach keine Mörder auf der Bahn sehen.“

 

Die Bedeutung Olympias für Diktatoren 

So sehr sich Putins Freunde in Europa – von Schröder über Orban bis Fico – auch bemühen, der EU mit einem Anflug von Schadenfreude zu attestieren, dass noch so viele Sanktionen gegen Wladimir Putin nichts ausrichten werden: Geht es um Megaevents wie Olympia oder die Fußballweltmeisterschaft, zeigt sich der Machthaber im Kreml verletzlich, sieht er sich doch um die Früchte seiner gigantischen Einflusspolitik in allen möglichen Sportorganisationen gebracht.

Das Einfallstor für Diktatoren lieferte schon der olympische Ahn Baron Pierre de Coubertin mit seiner höchst ambivalenten Gründungsmotivation: Die Jugend der Welt solle sich im Wettstreit miteinander in friedlichen Sportstätten statt auf todbringenden Schlachtfeldern treffen. Nach der französischen Niederlage im Krieg 1870/71 gegen Deutschland trieb de Coubertin aber auch die miserable körperliche Verfassung seiner Soldaten um. Systematische Körperertüchtigung und mehr Leistungssport waren nunmehr angesagt.

Italiens Duce, Benito Mussolini, erkannte sehr schnell die Vorteile von Olympia für Diktaturen. Hitler dagegen empfand den IOC-Zuschlag für Berlin 1936 zunächst als unwillkommene Erblast aus der Spätphase der Weimarer Republik. Seiner menschenverachtenden Ideologie gemäß sollten sich arische deutsche Athleten nicht mit „Juden und Negern“ messen.

Doch Mussolini redete ihm das aus: Die Austragung Olympischer Spiele sei eine gute Gelegenheit, um die Stärke und Leistungskraft des faschistischen Staates zu demonstrieren und zusätzliche Loyalität und Anerkennung im eigenen Volk zu züchten.

„Der Olympismus hat es Potentaten und Demokraten meist leicht gemacht. Alle möglichen Regime haben von den Spielen zu profitieren versucht, und nicht wenige haben sie hemmungslos politisch instrumentalisiert.“

Dr. Norbert Seitz

Der Olympismus hat es Potentaten und Demokraten meist leicht gemacht. Alle möglichen Regime haben von den Spielen zu profitieren versucht, und nicht wenige haben sie hemmungslos politisch instrumentalisiert. Diktatoren verfolgten mit Austragung der Spiele in aller Regel zwei Absichten:

Erstens: Ein perfekt organisiertes Turnier sollte jeden Zweifel im Ausland an den politischen Verhältnissen im Austragungsland zerstreuen. Das gelang dem Nazi-Regime 1936 mit den Winterspielen in Garmisch-Partenkirchen so überzeugend, dass man der Begeisterung der Sportler über den reibungslosen Verlauf Rechnung tragen wollte: Die darauffolgenden Spiele 1940 sollten an gleicher Stätte austragen werden. Der Krieg beendete derartige Überlegungen.

Zweitens: Regime nutzen die Begeisterung der eigenen Bevölkerung in den Stadien dafür, um die gute Stimmung im In- und Ausland als Zuspruch für die jeweilige politische Herrschaft zu verkaufen.

Während der Sommerspiele 2008 in Peking kam das Überengagement der einheimischen Zuschauer nicht selten einem massenwahnhaften Enthusiasmus gleich.

1936 schrieb Pierre de Coubertin an das Berliner Organisationskomitee: Die Spiele seien „von Hitlers Kraft und Disziplin illuminiert“ worden. Im Gegenzug schlug Nazi-Deutschland den Baron für den Friedensnobelpreis vor.

 

Ohne das Tandem Bach-Putin

In demokratischen Ländern scheint der Glanz der Spiele naturgemäß weniger Nachhaltigkeit zu entfalten als in tristen Autokratien. So ignorierte man in China das olympische Versprechen, nach den Spielen 2008 die Zügel zu lockern und der eigenen Bevölkerung mehr Freiräume zu gewähren. Im Gegenteil: Man nahm im Schatten der guten Stimmung den weiteren Ausbau des Repressionsstaats in Angriff. Im tief gespaltenen demokratischen Frankreich sind trotz der überwältigenden Spiele Zweifel angebracht, ob es Präsident Emmanuel Macron gelingt, die allseitige Begeisterung über den Verlauf des Turniers auch in ein Erfolgserlebnis bei der Abwendung einer permanenten Regierungskrise umzumünzen.

Im Nachklang zur verhinderten Olympia-Teilnahme von Putins Russland hat Thomas Bach in Paris sein Karriereende als IOC-Chef verkündet. Manche hatten schon befürchtet, er würde 2025 mit seinen afro-asiatischen Gremienmehrheiten die olympische Charta zu seinen Gunsten ändern lassen, um die Amtszeitbegrenzung aufzuheben. Seine Kritiker sehen in Bachs Rückzug die logische Konsequenz aus seiner desaströsen Russland-Politik – vulgo: Kumpanei mit Putin. Bis zuletzt hatte er immer wieder versucht, die IOC-Gremien zu noch größerem Entgegenkommen gegenüber seinem langjährigen Geschäftspartner zu bewegen. Doch mit Putins unverminderter Aggression in der Ukraine und der wachsenden Empörung auf der Welt hatte er schlechte Karten, dem Kreml-Chef die Tür nach Olympia weiter offen zu halten.

Putin hat seinem langjährigen Spezi im IOC nicht verziehen, nur noch einzelne, politisch und medizinisch durchgecheckte, russische Sportler, aber kein nationales Team in Paris antreten zu lassen. Das Tischtuch zwischen beiden ist zerschnitten. Im Gegenzug hat Putin dem IOC und dem Westen in Aussicht gestellt bzw. angedroht, im Frühjahr 2025 in Moskau und Jekaterinburg „Weltfreundschaftsspiele“ und weitere Spiele in Sotschi 2026 auszurichten, die offenbar als Gegen-Spiele oder Abspaltungsversuch von Olympia gedacht sind.

Im Vorfeld der Olympics von Paris fanden bereits in Kazan die sogenannten „Future-Spiele“ und die BRICS-Games statt. Die fünf BRICS-Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika repräsentieren mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung und ein Viertel der globalen Wirtschaftsleistung. Doch ihre Bilanz in der Olympia-Gesamtwertung der Medaillen von Paris ist weniger beeindruckend. Russlands Partnerländer haben es zusammen nur auf 44 von 329 Olympiasiegen gebracht, das entspricht etwa 13 Prozent der Goldmedaillen. Davon gewann China – im Kopf-an-Kopf-Duell mit den USA – allein 40, Brasilien drei, Südafrika nur eine und Indien keine.

Norbert Seitz, geboren in Wiesbaden, Soziologe, Buchautor und freier Mitarbeiter des Deutschlandfunk.

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