"Sei du, Gesang, mein freundlich Asyl", heißt es in einem Gedicht von Friedrich Hölderlin, aus dessen Ode "Der Gang aufs Land" das Titelzitat „Komm! Ins Offene, Freund.“ stammt.
Kultur und Literatur litten in Zeiten der Corona-Krise Not, aber sie tun auch not, wenn es darum geht, sich auf die solidarischen Werte von "geteiltem Wissen und Mitwirkung" - so die Bundeskanzlerin Angela Merkel am 18.03.2020 - zu besinnen.
Warum schreiben in schwierigen Zeiten? Welche Lektionen, wenn es sie denn gibt, hat die Literatur angesichts von Lockdown und social distancing für uns parat?
Wir haben 10 Autorinnen und Autoren eingeladen ihre persönlichen Erfahrungen zum Lockdown in einer frei wählbaren festzuhalten.
Den Anfang mach Frau Ulrike Draesner mit ihrem Text „Von realer Gegenwart“.
Ende März. Wie es ist, eine Mutter zu sein mit oh-Gott-was-bin-ich-froh nur einem Kind und dessen E-Learning? Sogenannt „ein Segen“. Ich höre: „Stellen Sie sich nur vor, wie es wäre, wenn wir die digitale Welt nicht hätten.“ Stimmt, auch ich bin froh, wenn endlich der Pizzadienst simst, dass die Pizza unten auf der Straße steht, aber was das Lernen und Lehren angeht… – wir improvisieren.
Mitte Mai. Nachts hustet das Kind zwei Mal trocken, ich denke Corona. Ah, die Angst.
Übertrieben? Aber da.
Am Morgen ist das Kind am Handy, es rollt sich von einer Seite des Bettes zur anderen. Für mein Kind sind Corona und Im-Bett-Rollen inzwischen eins, es ist leider zu schwer, als dass ich es raustragen könnte, dafür schimpft es auch zu viel. Im Übrigen kaut es. Ich habe den Eindruck, dass es dem Kind gut geht, bis der Krisensatz fällt. Es ist ein bis dato undenkbarer, tatsächlich aus dem Mund des Kindes noch nie gehörter Satz. Es dürfte eine Folge Star Wars sehen und sagt: „Ich will auf keinen Bildschirm mehr starren.“
Ich möchte über die Bedeutung von Anwesenheit nachdenken, physischer, realer Anwesenheit. Über die Bedeutung des Ausdrucks „ein Zimmer teilen“ oder so einfache Sätze wie „ins Café gehen“, über Sätze wie „den kann ich nicht riechen“, Sätze wie „ich habe dich zum Fressen gern.“ Was wir erleben ist ein Anlass, digitales und körperliches Erfahren gegeneinander abzuwägen, ihnen und ihren Effekten nachzuspüren.
Als Schriftstellerin bin ich Expertin in Alleinarbeit. Ich kenne es, mich zurückzuziehen und habe einiges Talent darin entwickelt, kann vier Wochen zwölf Stunden am Tag und mehr durcharbeiten – um einen Roman wirklich voranzutreiben. Das sage ich nicht, um anzugeben. Es ist einfach nötig, und ich weiß, dass meine Kolleginnen das ebenfalls tun. Es ist schön. Meist bekomme ich zu wenig davon.
Den Rückzug habe ich nun.
Doch etwas ist anders. Hat es mit dem Unterschied zwischen Freiwilligkeit und Zwang zu tun? Arthur Schopenhauers großartige Parabel von den Stachelschweinen fällt mir wieder ein.
"Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich an einem kalten Wintertage recht nah zusammen, um sich durch die gegenseitige Wärme vor dem Erfrieren zu schützen. Jedoch bald empfanden sie die gegenseitigen Stacheln, welches sie dann wieder von einander entfernte. Wann nun das Bedürfnis der Erwärmung sie wieder näher zusammenbrachte, wiederholte sich jenes zweite Übel, so dass sie zwischen beiden Leiden hin und her geworfen wurden, bis sie eine mäßige Entfernung voneinander herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten.
So treibt das Bedürfnis der Gesellschaft, aus der Leere und Monotonie des eigenen Innern entsprungen, die Menschen zueinander; aber ihre vielen widerwärtigen Eigenschaften und unerträglichen Fehler stoßen sie wieder voneinander ab. Die mittlere Entfernung, die sie endlich herausfinden, und bei welcher ein Beisammensein bestehen kann, ist die Höflichkeit und feine Sitte. Dem, der sich nicht in dieser Entfernung hält, ruft man in England zu: keep your distance! - Vermöge derselben wird zwar das Bedürfnis gegenseitiger Erwärmung nur unvollkommen befriedigt, dafür aber der Stich der Stacheln nicht empfunden.
Wer jedoch viel eigene, innere Wärme hat, bleibt lieber aus der Gesellschaft weg, um keine Beschwerde zu geben, noch zu empfangen."
Immer später gehe ich zu Bett. Ich habe Angst vor der Angst, die dort jeden Abend über mich herfällt. Die Finanzen. Die Gesundheit. Bin ich Teil der Risikogruppe? Wer weiß, was alles ich bin. Eines aber bin ich jedenfalls, und, so trivial es sein mag, ich habe es nie zuvor so dauerhaft gespürt: Ich bin ein Mensch aus Fleisch und Blut, ein Mensch mit einem wirklichen Körper, einem prekären, empfindlichen Konstrukt. Das Jahr 2020 führt es uns eindrücklich vor. Neu daran ist, dass mir deutlich wird, wie sehr dieser Körper davon lebt, seinesgleichen zu begegnen. Denn auch als Spezialistin in Soloarbeit gehe ich jeden Tag ins Café, sitze dort im Lärm, zwischen anderen und schreibe.
Was mir also fehlt? Die Fütterung.
Die Fütterung mit Menschenstoff. Ich spreche zur Genüge, ich sehe Menschen via Zoom, ich habe ein anderes Körperwesen in der Wohnung um mich. Dennoch entsteht eine Lücke.
Ich sitze am Computer. Starre auf Zahlen. Telefoniere, um umzuorganisieren, schreibe 60 Mails jeden Tag.
Ängste schwirren auf.
Aggression.
Ungeduld. Das Gefühl, alles hinwerfen zu wollen.
Ich fühle mich körperlicher, aber auf seltsame gespaltene Weise: Ich bin körperlich angreifbar, sterblich, dahinraffbar, zack. Und zugleich werde ich mir selbst von Woche zu Woche „irrealer“. Ich spüre, was ich aus langen Schreibrückzugszeiten kenne. Ich nenne es „das Loch“.
Langsam fängt es an. Eine kleines Gematsche unter den Füßen. Fast überfühlt man es. Der Boden sackt ein wenig. Mir fehlt es, einen Raum mit anderen als warmen, riechenden, sprechenden, ausdünstenden Körpern zu teilen. Dabei geht es nicht primär darum, dass ich mit ihnen spräche. Das auch – aber das wird ja teilweise elektronisch ersetzt. Nein, es geht um den Zufall.
Das Unplanbare.
Und die körperliche Anwesenheit der Anderen, die mir das Gefühl vermittelt, in der Welt gehalten zu sein.
Ja, das ist jetzt die große Kategorie. Ich meine es indes ganz konkret. Das Wort „Welt“ kommt vom Mittelhochdeutschen wërlt oder werelde. Dieser Begriff meinte die Gemeinschaft der lebenden Menschen. Auf einer Burg, in einem Dorf oder in einer mittelalterlichen Stadt war damit immer auch ein enges körperliches Zusammenleben impliziert. Man schlief in einem Haufen, aß und schiss zusammen, war keine Sekunde allein.
Ich erwähne dies, weil es zeigt, woher wir kommen. Die körperliche Anwesenheit anderer beruhigt das gesamte vegetative Körpersystem.
Mir fehlt ungeplante, beiläufige, selbstverständliche Nähe. Das Gefühl, verbunden gehalten, nicht allein, sicher zu sein.
Mir fehlt, darin, das kleine Unvorhergesehene. Das Nebenbei. Der Scherz, der Streit etc. der anderen.
Das große Unvorhergesehene, die Pandemie, erdrückt die Flimmerhaare.
Der Satz meiner Tochter „ich kann auf keinen Bildschirm mehr schauen“ beschäftigt mich. Wir führen möglichst alle Beschäftigungen weiter, in digitaler Form. Der Universitätsunterricht wird fortgesetzt. Wir versuchen, Ersatz durch digitale Veranstaltungen zu schaffen. Ich mache mit, denn ich sehe die ökonomische Notwendigkeit, es zu tun.
Doch eine Vision ist aufgetaucht: Wie wäre es, die Lücke wirklich zu spüren?
Wäre das nicht ein Geschenk?
Erinnern Sie sich an Tage in Ihrem Leben, an denen so etwas passiert ist? Als sich plötzlich ein ungeahnter Freiraum auftat, weil man statt in den Zug nach Norden in jenen Richtung Süden stieg und den Termin Termin sein ließ? Am See lag statt in einem Meeting zu sitzen? Einmal strandete ich am Flughafen Orly in Paris. Acht Stunden verbrachte ich im Nirgendwo. Niemand wusste, wo ich war oder was ich tat. Es war eine geschenkte Zeit. In der ich mit einem Mal ohne Überich dasaß und es mir gut gehen ließ.
Eine ganz andere innere Stimme erschien.
Selbstverständlich kann man nicht Wochen so verbringen. Aber man kann dieses Gefühl fördern, genießen. Und ihn sich nehmen/gönnen: den Aus-Raum
Die innere Freiheit.
Etwas von diesem Geist will ich mir in jeden dieser Corona-Tage „übersetzen“, hinübernehmen.
Ich stehe an meinem Bücheregal. Meine Innenwelt braucht Futter. Jeder wird es anderswo finden. Für mich kommt es aus Büchern, vor allem aus Gedichten. Sie haben ein immenses Trostpotential, fast hatte ich das vergessen. Der amerikanische Kulturkritiker George Steiner veröffentlichte im Jahr 1990 (Original 1989) das Buch Von realer Gegenwart. Darin widmet er sich vor allem dem alten Versprechen des göttlichen Bildes, das Numinose realstofflich präsent zu machen. Um diesen Wunsch der Kunst mag es stehen wie es will. Corona lehrt uns etwas anderes: Die reale Gegenwart, um die es geht, sind wir selbst.
Gegen-Wart: der andere, der mir etwas entgegen hält. Der mein Gegenüber ist, mein Spiegel, der die Grenzen macht – wahrt – und überwindet. Der, der mir das Spiel Ich-Du eröffnet. Das wir weit weniger geistig spielen als die Philosophie, mit oder ohne Stachelschweine, uns glauben lassen wollte.
Wir spielen es immer auch körperlich.
Auf diese Weise unterscheiden wir Leben von Nichtlebendigem.
Reale Gegenwart. Aus der Zeit der Pandemie können wir in die Zeiten weniger gefährlichen Kontaktes mitnehmen, dass wir sie schätzen. Und uns auf die Suche nach einer bewussten Balance begeben. Weil wir eben dies sind: homo agminis. Das Mensch-Rudeltier.
Ulrike Draesner wurde am 1962 in München geboren. Sie lebt als freie Schriftstellerin in Berlin und in Leipzig, wo sie seit 2018 das Deutsche Literaturinstitut Leipzig leitet.
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