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IMAGO / Bernd Elmenthaler

Wehrpflicht-Debatte in Deutschland: Eine Zeitenwende „in homöopathischen Dosen“

Die Pläne von Verteidigungsminister Boris Pistorius im Fokus der Presse: Gehen seine Vorschläge in die richtige Richtung?

Seit der russischen Invasion in der Ukraine gewinnt die Diskussion um die Wiedereinführung der Wehrpflicht in Deutschland an Fahrt. Die Presseschau beleuchtet die unterschiedlichen Reaktionen aus Politik und Gesellschaft.

Am 21. Juli 1956 wurde in Deutschland die Wehrpflicht eingeführt: Männliche Staatsbürger wurden gesetzlich verpflichtet, Wehrdienst zu leisten. In einer Gesetzesreform unter dem damaligen Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) wurde am 1. Juli 2011 die Einberufung in den Grundwehrdienst auf den „Spannungs- und Verteidigungsfall“ beschränkt. Die Bundeswehr sollte fortan eine reine Freiwilligenarmee sein.

Selbst die eindrückliche Mahnung des russischen Angriffskrieges, dass Frieden in der Menschheitsgeschichte oft kein dauerhafter Zustand ist, und die in der Folge ausgerufene Zeitenwende haben daran nichts geändert: Eine Wiedereinführung der Wehrpflicht wurde zwar immer wieder ins Gespräch gebracht, jedoch ohne dass das Thema Fahrt aufnahm. So war es bis Anfang dieses Jahres. Mehr als zwei Jahre nach der russischen Invasion gewann die Diskussion plötzlich an Schwung, sowohl im Bundestag als auch in der Presse. Im März reiste Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) nach Skandinavien, um sich mit den in Norwegen, Schweden und Finnland praktizierten Modellen vertraut zu machen. Auch die CDU hat sich in ihrem kürzlich verabschiedeten Grundsatzprogramm klar zur Wehrpflicht bekannt.

Bereits im März kommentierte Daniel Friedrich Sturm im Tagesspiegel, es sei „höchste Zeit, eine Rückkehr zur Wehrpflicht vorzubereiten, wie einst mit der Option eines Zivildienstes. Eine ‚Zeitenwende‘ darf keine Tabus kennen. Die Wehrpflicht wurde 2011 ausgesetzt, nicht abgeschafft.“ Der 2011 getroffene Entschluss „fußte auf Erfahrungen und Annahmen, die heute nicht mehr gültig sind“.[1]

Ähnlich argumentiert Ulrich Schäfer in der Süddeutschen Zeitung. Die Aussetzung der Wehrpflicht „war ein großer Fehler“. Es sei „dringend geboten, die Bundeswehr wieder deutlich zu vergrößern“, diese habe man auch nach der Annexion der Krim 2014 unbeirrt „systematisch kleingeschrumpft“. Als Alternative zur Wehrpflicht solle ein soziales Pflichtjahr etabliert werden. Schäfer spricht sich dabei auch für eine Ausweitung der Wehrpflicht auf Staatsbürgerinnen aus.[2]

Eine Wehrpflicht sei „notwendig“, so Frank Specht im Handelsblatt, als Reaktion auf den entsprechenden Vorschlag der Unionsfraktion. Die aktuelle sicherheitspolitische Lage „erfordert es, solche Debatten auszuhalten“. Das durch die Fraktion ins Spiel gebrachte verpflichtende Gesellschaftsjahr für alle Staatsbürger sei „gut“ und wünschenswert, biete es doch Vorteile für Bereiche jenseits der Bundeswehr. Bis dies entsprechend umgesetzt werden könne, sei analog zur schwedischen Handhabung eine Kontingentwehrpflicht „ein Anfang“.[3]

In ihrer ursprünglichen Form werde die Wehrpflicht nicht wieder zurückkommen, kommentiert Christine Dankbar in der Frankfurter Rundschau. Die Bundeswehr suche wie jeder andere Arbeitgeber primär nach sich länger verpflichtendem Fachpersonal. Insgesamt verdeutliche die Diskussion, dass „[i]n den vergangenen zwei Jahren […] viele scheinbare Gewissheiten zerbrochen [sind], von denen man glaubte, sie hielten ewig“. Die durch Pistorius referenzierte Wehrtüchtigkeit „geht […] alle an, die hier leben“.[4]

Das Für und Wider einer Ausweitung der Wehrpflicht auf Frauen debattiert die Süddeutschen Zeitung. Nicolas Freund spricht sich dagegen aus. Niemand hindere Frauen am Dienst in der Truppe. Es sei jedoch fraglich, ob dies per Zwang geschehen solle. Sina-Maria Schweikle ist für eine Einbeziehung von Frauen in die Wehrpflicht: „Dies wäre ein starkes Signal nach außen wie nach innen.“ Im Sinne der Gleichberechtigung bedeute „eine Zeitenwende in der Verteidigungspolitik […], dass jeder, der physisch dazu in der Lage ist, seinen Beitrag leisten muss“.[5]

Oliver Georgi kritisiert in FAZ Einspruch die derzeit diskutierten Vorschläge: Sie seien in ihren Ausgestaltungen „nicht gerecht genug“. Gegen eine Kontingentwehrpflicht nach schwedischem Vorbild hätten sich mit der FDP und den Grünen bereits zwei Regierungsparteien ausgesprochen. Der desolate Zustand der Bundeswehr lasse eine Rückkehr zum alten Modell unrealistisch erscheinen.[6]

Am 12. Juni war es dann so weit: Verteidigungsminister Boris Pistorius präsentierte der Öffentlichkeit seinen Vorschlag. In einem mehrstufigen Verfahren soll mithilfe eines Musterungsfragebogens u. a. die grundsätzliche Bereitschaft zum Dienst an der Waffe abgefragt werden. Von den Befragten, die sich für einen Dienst aussprechen, werden 40.000 zur Musterung geladen. Aus diesem Pool wähle man dann eine gewisse Zahl von Personen aus, die zum Grundwehrdienst eingezogen werden. Die Rede ist von etwa 5000 pro Jahr. Langfristig sei mindestens eine Basispersonalstärke der Bundeswehr von 200.000 Soldaten zu erreichen. Bereits unmittelbar nach der Verkündung der Pläne des Bundesverteidigungsministers berichtete die Tagesschau über regen, den Handlungsspielraum des Vorhabens beschneidenden Widerstand aus den einzelnen Regierungsfraktionen (inklusive Pistorius‘ eigener Partei).[7]

Statista

Die irrige Annahme von Mitteleuropa als einer Oase des Friedens sei durch die Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 2011verstärkt worden, so Rainer Haubrich in der Welt. Zudem habe sie eine gesellschaftliche Entfremdung von der eigenen Armee befeuert. Die Initiative des Verteidigungsministers sei „deshalb nur logisch und konsequent“, insbesondere aufgrund der breiten Zustimmungswerte.[8]

Nicht zufrieden zeigt sich Jasper von Altenbockum in der FAZ: Die Pläne eigneten sich „allenfalls als Vorbereitung“ und seien ein „Trippelschritt“ in die richtige Richtung. In seiner verwässerten Form erreiche der Vorschlag das oft zitierte schwedische Vorbild bei weitem nicht: Die Personallücken dürften so nicht geschlossen werden. Die Wehrpflichtdebatte sei sinnbildlich für die Ampelkoalition, „ein Beispiel dafür, dass sie trotz Zeitenwende, trotz Putin, trotz Bedrohung, trotz Ukrainekrieg nicht aus dem traumtänzerischen Trott alter Tage findet“.[9]

Pitt von Bebenburg tritt in der Frankfurter Rundschau auf die Bremse: Pistorius‘ Vorschlag sei völlig ausreichend, eine Rückkehr zur Wehrpflicht, wie sie 2011 ausgesetzt wurde, sei zu verhindern. Weitreichender dürften die Musterungsanstrengungen nicht mehr werden.[10]

Auf dem Weg in die „richtige Richtung“ sieht Thomas Ludwig die Bundeswehr in der Neuen Osnabrücker Zeitung. Der notwendige Aufwand sei „kein Argument dagegen, sondern muss vielmehr eine Aufforderung sein, die Problematik […] ernsthaft anzugehen“. Ein an Schweden angelehntes Konzept wäre ein „gangbarer Weg“, die Ampelkoalition sollte Pistorius daher nicht im Weg stehen. Eine ernsthafte Zeitenwende erfordere, „dass die Bundeswehr nicht nur materiell zeitgemäß ausgestattet, sondern auch beim Personal gut aufgestellt ist“.[11]

Die Vorschläge von Boris Pistorius seien „nur zaghaft“, so Frank Specht im Handelsblatt. Der Minister setze „weiter vor allem auf das Prinzip Hoffnung“, gleichzeitig seien seine Möglichkeiten überschaubar gewesen. Weitergehende Handlungsoptionen hätten ihm der Bundeskanzler und die Koalitionspartner genommen. Es liege vor allem an Olaf Scholz: „Vom Zeitenwende-Kanzler hätte man sich in der Frage etwas mehr Realitätssinn, Mut und Führungsstärke erhofft.“[12]

Der abgespeckte Vorschlag sei für den Verteidigungsminister auch in Anbetracht des parteiinternen Widerstands „eine politische Niederlage“, meint Kerstin Münstermann in der Rheinischen Post, für Deutschland jedoch „eine beachtliche gesellschaftliche Wende“. Angesichts der immer realeren russischen Bedrohung müsse die Gesellschaft verteidigungsfähig werden: „Die wahre Zeitenwende für das Land […] beginnt jetzt.“[13]

Der Verteidigungsminister habe an Planung vorgelegt, was ihm die eigene Koalition, „der typischen Logik ihres Kanzlers folgend, dass man die Bevölkerung bloß nicht mit sicherheitspolitischen Fragen beunruhigen oder ihr Lasten zumuten möchte“, an Spielraum erlaubt habe, kommentiert Joachim Käppner in der Süddeutschen Zeitung. Dem Entwurf fehle eine überzeugende Gestaltungsidee für den Fall, dass man zum Erreichen der anvisierten Sollstärke Rekruten verpflichtend einziehen müsse.[14]

Pistorius‘ Pläne werden mehrheitlich als in die richtige Richtung gehender Impuls verstanden, als Anerkenntnis der veränderten sicherheitspolitischen Zeichen der Zeit. Der Verteidigungsminister erscheine aber auch in seinem Handlungsspielraum eingeschränkt: ob der Befindlichkeiten in seiner eigenen Partei und der Koalitionspartner. Der Vorschlag sei also, so wird vielfach geäußert, noch nicht der Weisheit letzter Schluss, der ganz große Wurf sei der Ampelkoalition damit nicht gelungen. Stattdessen habe man den Eindruck, dass angesichts der regierungsinternen Querelen, eine Wehrpflicht in „in homöopathischen Dosen“ dabei herausgekommen sei, so Marcel Bohnert, Vizevorsitzender des Deutschen Bundeswehrverbandes, in einem Interview mit dem Handelsblatt.

Auch die Unionsfraktion und die Wehrbeauftragte Eva Högl (SPD) kritisieren, dass sie ein Konzept ohne verpflichtende Elemente für nicht praktikabel halten. Dafür spricht auch eine aktuelle repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey: Danach stößt der Reformvorschlag bei nur 38 Prozent der 18- bis 29-Jährigen auf Zustimmung.[15] Noch sind Zweifel angebracht, ob Aufwand und tatsächlicher Nutzen in einem sinnvollen Verhältnis zueinanderstehen, sollten die Vorschläge umgesetzt werden.

Was also am Ende in welcher Form umgesetzt wird, gilt es abzuwarten. Doch dass die Zeichen der Zeit auf Veränderung stehen, dass die Bundeswehr auf neue Beine gestellt werden muss, dass wir Landesverteidigung wieder ernst nehmen müssen und dass wir Partner in einem Verteidigungsbündnis sind, all das steht außer Zweifel – in Anbetracht der Bedrohungen, denen unser westliches Gesellschaftsmodell ausgesetzt ist.

Stefan Gronimus, geboren 1993 in Bonn, ist studierter Historiker. Er arbeitet als Referent Medienanalyse und -archiv bei der Konrad-Adenauer-Stiftung.

[1] Daniel Friedrich Sturm: Krieg in Europa, Tagesspiegel, 06.03.2024.
[2] Ulrich Schäfer: Deutschland sollte zur Wehrpflicht zurückkehren, Süddeutsche Zeitung, 25.04.2024.
[3] Frank Specht: Die Wehrpflicht ist notwendig, Handelsblatt, 10.05.2024.
[4] Christine Dankbar: Antreten, bitte!, Frankfurter Rundschau, 15.05.2024.
[5] Nicolas Freund, Sina-Maria Schweikle: Sollte die Wehrpflicht auch für eine Frau gelten?, Süddeutsche Zeitung, 18.05.2024.
[6] Oliver Georgi: Wie gerecht ist die Wehrpflicht, F.A.Z. Einspruch, 19.05.2024.
[7] Tim Aßmann, Uli Hauck: Bei Antwort (vielleicht) Wehrdienst, Tagesschau, https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/wehrpflicht-pistorius-analyse-100.html, letzter Abruf: 17.06.2024.
[8] Rainer Haubrich: Der Wert des Zusammenhalts, Die Welt, 13.06.2024.
[9] Jasper von Altenbockum: Im alten Trott, FAZ, 13.06.2024.
[10] Pitt von Bebenburg: Brisante Debatte, Frankfurter Rundschau, 13.06.2024.
[11] Thomas Ludwig: Richtige Richtung, Neue Osnabrücker Zeitung, 13.06.2024.
[12] Frank Specht: Pistorius auf verlorenem Posten, Handelsblatt, 13.06.2024.
[13] Kerstin Münstermann: Wehrpflicht in Trippelschritten, Rheinische Post, 13.06.2024.
[14] Joachim Käppner: Ruck mich, zieh dich, Süddeutsche Zeitung, 13.06.2024.
[15] Nathalie Trappe: Bundeswehr-Reform: Umfrage zeigt, was junge Menschen von einer Wehrpflicht halten, watsonhttps://politik.watson.de/deutschland/exklusiv/367424423-wehrdienst-reform-von-pistorius-junge-menschen-stellen-sich-gegen-wehrpflicht, letzter Abruf: 18.06.2024.

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