Demokratie als Vertretung der Mehrheitsmeinung?
Die Demokratie wurde zu oft auf die bloße Vertretung der Mehrheitsmeinung reduziert, was sie anfällig für Missbrauch macht. Es ist ein Trugschluss, dass etwa häufigere Wahlen in Subsahara-Afrika (aber auch weltweit) mit einer Demokratisierung der jeweiligen Gesellschaften einhergingen. Man meint die Demokratie setze sich durch, zugleich erodieren demokratische Werte und Prinzipien wie Gleichheit, Menschenrechte, Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit gewählter Volksvertreter. Social Media und der um sich greifende Populismus verstärken diese Effekte noch. Weltweit, insbesondere in den USA, Europa und in Südamerika wurden Social-Media-Tools eingesetzt, um Demokratien zu untergraben. Niemand kann mit Gewissheit sagen, ob die Zahl der abgegebenen Stimmen tatsächlich den Willen des Volkes widerspiegelt oder ob Wahlergebnisse nicht indirekt manipuliert worden sind. So wurden die jüngsten Staatsstreiche in Westafrika von der Erosion demokratischer Prinzipien angeheizt. Man nennt sie deswegen auch „undemocratic democratisation“ – auch wenn das zunächst einmal paradox klingt. An ihrem Beispiel sieht man, wie konstituierend für die Demokratie Werte und Prinzipien sind. Mit Wahlen allein ist es noch nicht getan.
Das Beispiel Kenia
Sehen wir uns die Proteste in Kenia im Juni 2024 an: Auslöser waren Steuererhöhungen, die ohne jede öffentliche Beteiligung angekündigt worden waren. Aus den Protesten entwickelten sich landesweite Forderungen nach mehr Rechenschaftspflicht des Staates, nach Transparenz und gutem Regierungshandeln. Besonders eindrücklich war, dass Bürger, die von ihrem verfassungsmäßigen Recht auf friedlichen Protest Gebrauch machten, mit unverhältnismäßiger und brutaler Polizeigewalt konfrontiert waren. In der Folge verloren 39 Menschen ihr Leben, und die bis dahin friedlichen Proteste wurden gewalttätig. In der Folge versuchten einige Regierungsvertreter, die Unruhen zu beschwichtigen, indem sie sich auf Kenias demokratische Grundsätze beriefen, die eine friedliche Koexistenz betonten, und vorschlugen, dass Bürger, die mit dem derzeitigen Regime unzufrieden sind, ihr Wahlrecht bei den Wahlen im Jahr 2027 ausüben könnten.
Daher also die Frage: Ist der Akt des Wählens das wichtigste Charakteristikum der Demokratie? Und sind grundlegende Bürgerrechte, wie das Recht auf friedlichen Protest, auf öffentliche Beteiligung oder das Recht von der Regierung Rechenschaft zu fordern, weniger von Belang, wenn man die Bürger alle paar Jahre an die Wahlurnen bittet? Eine solch enge Auslegung verzerrt den wahren Charakter der Demokratie.
Unabhängigkeit
Es gibt umfangreiche wissenschaftliche Untersuchungen über die Unabhängigkeit der Justiz und ihre Bedeutung für die Aufrechterhaltung der Rechtsstaatlichkeit. Aber über die für eine funktionierende Demokratie mindestens so wichtige Unabhängigkeit des Parlaments wurde sehr viel weniger geforscht. Gemeinhin nennt man Parlamentarier auch die Stimme des Volkes. Doch die Geschichte hat gezeigt, dass sie nicht selten eklatant gegen den Willen des Volkes verstoßen. So etwa wenn sie in afrikanischen Ländern Gesetze verabschieden, die keineswegs dem Volkswillen entsprechen. Gar nicht zu reden von den zahlreichen Amtsenthebungsverfahren, die trotz öffentlichen Drucks nicht zur Enthebung des Amtsinhabers führen. Betreibt man Ursachenforschung, liegt es in aller Regel an unangemessener Einflussnahme der Exekutive auf die Legislative und Korruption bzw. Vetternwirtschaft.
Und nochmal Kenia
Die jüngsten Proteste in Kenia sind ein Beispiel für die Diskrepanz zwischen dem Willen des Volkes und der politischen Praxis. Die Demonstrationen begannen, weil die Regierung Steuererhöhungen angekündigt hatte, die für die bereits gebeutelte Bevölkerung eine weitere Erhöhung der Lebenshaltungskosten bedeutet hätte. Hier zeigt sich das Missverhältnis zwischen den Abgeordneten, die auf Kosten der Steuerzahler ein luxuriöses Leben führen, und den einfachen Menschen, die die Hauptlast zur Tilgung der Auslandsschulden tragen. Die Gleichgültigkeit der Parlamentarier gegenüber den Sorgen der Bevölkerung zugunsten parteipolitischer Interessen hat nochmal allen vor Augen geführt, dass es parlamentarische Unabhängigkeit braucht, um sicherzustellen, dass der Gesetzgeber auch wirklich die Interessen des Volkes vertritt.
Transformation des Rechts – gestern, heute, morgen
Die Verteidigung der Demokratie erfordert Besonnenheit. Risiken und Nutzen müssen sorgfältig abgewogen werden. Die zeitliche Eingrenzung von Rechten, wie etwa das Verbot politischer Parteien, muss mit Bedacht erfolgen. Beispiele aus Deutschland, der Türkei oder Brasilien haben gezeigt, welche Konsequenzen es hat, wenn man überstürzt oder eben zu spät handelt. Wenn wir das Recht auslegen, kommt es darauf an, das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und angestrebter Zukunft unserer Staaten auszubalancieren. Gerichte müssen immer den historischen Kontext des Rechts berücksichtigen, zugleich aber auch sicherstellen, dass die Vergangenheit nicht den Spielraum für eine progressive Auslegung einschränkt. Dieser transformative Ansatz, wie er in Südafrika und Kenia zu beobachten ist, stärkt die demokratischen Institutionen.
Abschließend: Obwohl die Demokratie weltweit unter Druck steht, zeichnet sie sich doch durch eine erstaunliche Widerstandskraft aus. Dass sich in Polen Anwälte, Staatsanwälte, Richter und Bürger zusammengeschlossen haben, um die Angriffe der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ gegen eine unabhängige Justiz abzuwehren, war ein starkes Zeichen des Widerstands.
Kleine Fortschritte – große Schritte
Im Senegal zeigt die Wahl von Diomaye Faye zum jüngsten Präsidenten Afrikas, wie sehr die jungen Senegalesen mit der Regierungsführung gehadert und Diktatur und politische Verhaftungen gefürchtet haben. Auch die Proteste in Kenia waren für die Bürger ein großer Schritt auf dem Weg, die ihnen zustehenden Rechte einzufordern. Die Demonstrationen haben zu konkreten Ergebnissen geführt: Das umstrittene Steuergesetz wurde zurückgezogen, das erfolglose Kabinett aufgelöst, und der Generalinspekteur der Polizei trat zurück – als Reaktion auf die vielen Todesopfer unter den Protestierenden. Noch ist es ein Anfang, und doch sind es erste vielversprechende Schritte zu verantwortungsvollerem und transparenterem Regierungshandeln, die den Grundstein für eine stärkere kenianische Demokratie legen.
An der East Side Gallery der Berliner Mauer ist zu lesen: „Viele kleine Leute, die an vielen kleinen Orten viele kleine Dinge tun, können das Gesicht der Welt verändern“ (Afrikanische Weisheit). Die Rule of Law Academy war klein, und doch herrschte in unserer gemeinsamen Zeit ein von demokratischer Widerstandsfähigkeit getragener Geist. Wir sind alle sehr jung. Und wir gehen in unsere Heimatländer zurück, um umzusetzen, was wir in Berlin gelernt haben. Und mag es noch so klein sein, ich glaube fest daran, dass wir mit unserem Tun der Demokratie einen Dienst erweisen.
Mitchel Namalwa Kakai ist Jurastudentin im letzten Studienjahr an der Kenyatta University mit dem Schwerpunkt Internationale Menschenrechte. Ihr jüngster Meilenstein ist ihr bevorstehendes Buchkapitel, das 2024 von der Pretoria University Law Press veröffentlicht wird und sich mit der vergleichenden Anwendung der Verfassungen von Botswana und Kenia zum Schutz der Rechte sexueller und geschlechtlicher Minderheiten in Afrika befasst. Sie war Teilnehmerin der von der Konrad-Adenauer-Stiftung organisierten Rule of Law Academy.