Auflösung der Nationalversammlung
Das in Artikel 148 der Verfassung (2008) verankerte Recht der sogenannten Muerte Cruzada („überkreuzter Tod" oder „wechselseitiger Tod“) erlaubt dem Präsidenten, einmalig innerhalb der ersten drei Regierungsjahre das Parlament vorzeitig aufzulösen. Dieser „wechselseitige Tod“ von Legislative und Exekutivspitze bewirkt, dass innerhalb von sechs Monaten zwingend Neuwahlen für die Nationalversammlung und für das Amt des Präsidenten durchzuführen sind. Präsident Lasso hat durch die Anwendung der Muerte Cruzada ein unmissverständliches Zeichen gegenüber der Nationalversammlung gesetzt. Am Tag zuvor hatte er noch im Parlament im Rahmen der Anhörung des gegen ihn angestrengten Amtsenthebungsverfahrens wegen angeblicher Verwicklung in einen Veruntreuungsskandal seine Unschuld verteidigt. Trotz einer wohl zunächst ausreichenden Anzahl an Abgeordneten, die gegen seine Amtsenthebung gestimmt hätten, hat sich der oberste Mandatsträger dazu entschieden, die 137 Abgeordneten ihrer Funktion zu entheben und sich nicht auf das unsichere Verhandeln über Stimmen und ethisch fragwürdige Zugeständnisse bei Ämtern und Positionen einzulassen.
Prozess der außerordentlichen Wahlen
Gemäß des im Gesetzesartikel festgeschriebenen Prozederes muss der Nationale Wahlrat Consejo Nacional Electoral (CNE) nun innerhalb von höchstens sieben Tagen vorgezogene Parlaments- und Präsidentschaftswahlen festlegen, in denen ein neuer Präsident und neue Abgeordnete gewählt werden, die dann bis zum Ende der laufenden Legislaturperiode im Mai 2025 im Amt verbleiben. Gemäß ersten Verlautbarungen sollen die vorgezogenen Wahlen voraussichtlich am 20. August 2023 (Zweiter Wahlgang: 15. Oktober 2023) stattfinden. Bis zur Einsetzung der neuen Nationalversammlung kann der Präsident jetzt Dekrete erlassen, die als "wirtschaftlich dringend" gelten, welche aber der Kontrolle durch das Verfassungsgericht unterliegen. Dieses Organ fungiert nun als einziges Gegengewicht gegenüber dem Präsidenten.
Vorgang | Beschreibung | Zeitraum |
---|---|---|
Ausrufung der vorgezogenen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen |
Ab dem Zeitpunkt der Verkündigung des Dekrets zur Auflösung der Nationalversammlung |
7 Tage |
Außerordentliche Wahlen |
CNE verkündet, dass die Wahlen innerhalb von 90 Tagen durchgeführt werden müssen |
90 Tage |
Verkündigung der Wahlergebnisse des ersten Wahlgangs |
CNE nimmt die Auszählung der Stimmen vor und verkündet das nationale Wahlergebnis |
7 Tage |
Zweiter Wahlgang |
Wenn im ersten Wahlgang kein Gewinner mit einer Mehrheit von über 40% der Stimmen bestimmt werden kann, wird ein zweiter Wahlgang innerhalb von 45 Tagen durchgeführt. |
45 Tage |
Verkündigung der Wahlergebnisse des zweiten Wahlgangs |
CNE nimmt die Auszählung der Stimmen vor und verkündet das nationale Wahlergebnis |
7 Tage |
Amtseinführung der gewählten Amtsträger |
Die Amtseinführung muss spätestens 15 Tage nach Verkündigung des Wahlergebnisses erfolgt sein |
15 Tage |
Für die Gewährleistung eines bis zu den Wahlen friedlichen Miteinanders ist es daher nicht unerheblich, dass der Chef des Gemeinsamen Kommandos der ecuadorianischen Streitkräfte, Nelson Proaño, angesichts der aktuellen Lage seine Unterstützung für die Entscheidung des Präsidenten zum Ausdruck brachte und erklärt hat, dass diese im Falle von gewaltsamen Auseinandersetzungen "entschlossen handeln werden, um das Land und seine Bürger zu schützen". Angesichts der Bedeutung des Militärs für die Einhaltung der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes ist diese Aussage bemerkenswert.
Seitens der Bevölkerung soll die Zustimmung hinsichtlich der Entscheidung zur Auflösung des Parlaments laut Auswertungen von Social-Media-Beiträgen bei über 70% liegen. Präsident Lasso hat in einem Interview gegenüber CNN Español seine Überzeugung kundgetan, dass die Anwendung der Muerte Cruzada die Rückkehr des ehemaligen Präsidenten Rafael Correa, der wegen Korruption verurteilt wurde, verhindern und somit ein gutes Szenario darstellen würde. Viele Beobachter, auch der Regierung nahestehende Akteure, hat die Entscheidung des Präsidenten hingegen sehr überrascht. Weitere Experten und Analysten sind dagegen besorgt über zukünftige Szenarien, die die Demokratie des Landes gefährden könnten. Ruth Hidalgo, Direktorin der Corporación de Participación Ciudadana, sagte im Fernsehsender Ecuavisa:
"Die Bürger misstrauen dem Verfassungsgericht, nachdem es die Amtsenthebung Lassos wegen Veruntreuung zugelassen hat, ohne zu prüfen, ob die Mitglieder der Versammlung gelogen haben, indem sie ihm [Lasso] einen angeblichen staatsschädigenden Vertrag im Fall Flopec vorwarfen, obwohl der Vertrag nicht in der Verwaltung Lassos, sondern in der von Lenin Moreno unterzeichnet wurde".
Mauricio Alarcón, Exekutivdirektor der Fundación Ciudadanía y Desarrollo (FCD), sieht in den Ereignissen hingegen auch Chancen:
"Auch wenn die Ereignisse in Ecuador als problematisch empfunden werden können, da die vom Präsidenten ergriffene Maßnahme zwar verfassungsgemäß, aber nicht demokratisch ist, kann dies eine Gelegenheit sein, den Dialog und die Suche nach einem Konsens zur Stärkung der Institutionen und zur Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit zu fördern. Jeder Prozess, der zu diesem Thema stattfindet, sollte mit großer Transparenz durchgeführt werden, damit die Bürger nicht das Gefühl haben, dass Entscheidungen hinter ihrem Rücken getroffen werden".
Wahlperspektiven
Angesichts der bevorstehenden außerordentlichen Wahlen zeichnet sich jedoch ein komplexes Wahlspektrum ab, das den Nationalen Wahlrat (CNE) und die politischen Parteien und Bewegungen unter enormen Druck setzt. Denn bereits bis Ende Mai müssen letztere nun kurzfristig ihre Wahllisten zusammenstellen, wobei die dem Ex-Präsidenten Rafael Correa nahestehende Partei Revolución Ciudadana, die sich in den im Februar abgehaltenen Regionalwahlen als führende Wahlkraft in Ecuador positionieren konnte, eine starke Ausgangsposition einnimmt. Parteien wie die der Christsozialen (PSC) und die die Indigenenbevölkerung repräsentierende Pachakutik sind hingegen aufgrund interner Streitigkeiten stark geschwächt. Jedoch sollte man die aktuelle Stimmungslage nicht überbewerten, da die dem Correísmo nahestehenden Kräfte weiterhin weit hinter ihren historischen Werten zurückbleiben und bei den nun kommenden Wahlen wohl nicht über ein Maximum von 38% Prozent hinauskommen dürften. Eine Rückkehr des Correísmo zur Macht ist also nicht selbstverständlich, aber auch nicht auszuschließen.
Gleichzeitig stehen in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit mehrere politische Gesichter als Präsidentschaftskandidaten in Aussicht. Zum einen der ehemalige Abgeordnete Fernando Villavicencio, Dalthon Bacigalupo von der Demokratischen Linken, Leonidas Iza von Pachakutik oder Jaime Nebot von den Christsozialen. Ebenso steht eine mögliche erneute Kandidatur von Präsident Lasso im Raum, auch wenn dies als eher unwahrscheinlich zu bewerten ist. Daneben tauchen die Namen der ehemaligen Präsidentschaftskandidaten von 2021, Yaku Pérez (ehemals Pachakutik) und Xavier Hervas (ehemals Demokratische Linke) auf. Ebenfalls in Frage kommen Pedro Freile, ehemaliger Kandidat für das Bürgermeisteramt in Quito und Otto Sonnenholzner, ehemaliger Vizepräsident unter der Regierung von Lenin Moreno. Letzterer hat sich in den vergangenen Tagen vermehrt in den Medien zu Wort gemeldet und die gegenwärtige Krise als Ergebnis der Verantwortungslosigkeit einer politischen Klasse gebrandmarkt, die ihre Interessen über die Bedürfnisse der Ecuadorianer gestellt habe. Das Land habe keine weitere Spaltung und Instabilität verdient. „Es muss wieder Ruhe einkehren und wir müssen daran arbeiten, die Hoffnung auf einen echten Wandel zu stärken. Ecuador muss immer unsere oberste Priorität sein", so der ehemalige Vizepräsident.
Um eine reelle Chance gegen den Block der Correa nahestehenden Revolución Ciudadana zu haben, wäre eine Einigung der gemäßigten Kräfte auf eine gemeinsame Kandidatin oder einen gemeinsamen Kandidaten sowie auch langfristig eine konstruktive Zusammenarbeit untereinander förderlich. Die aktuelle Regierung wird nun rund sechs Monate Zeit haben, um in dem ihr möglichen Rahmen in Abstimmung mit dem Verfassungsgericht und ohne Behinderungen seitens einer polemisierenden und Reformen blockierenden Nationalversammlung zu arbeiten. Man wird also abwarten müssen, wie die Regierung ihren in dieser Hinsicht gewonnen Freiraum nutzen wird, um eine einigermaßen solide Grundlage für den Start einer neuen Regierung zu schaffen. Erst danach wird man tatsächlich bewerten können, ob der Entschluss des Präsidenten, das Parlament aufzulösen, zum Wohle der ecuadorianischen Demokratie geschehen ist oder nicht.
Anspruch und Wirklichkeit des Regierungshandelns
Die Chance, nun ohne den Widerstand des Parlaments regieren zu können, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Regierung vielen ihrer selbstgesteckten Ziele aufgrund eigener Unzulänglichkeiten nicht gerecht werden konnte. Zu Beginn ihrer Amtszeit schlug die Exekutive einen Regierungsplan mit der Bezeichnung "Plan zur Schaffung von Chancen 2021-2025" vor, der im Einklang mit dem Nationalen Entwicklungsplan steht und Maßnahmen und Projekte im Rahmen von fünf Bereichen vorschlägt: Wirtschaft, Soziales, integrale Sicherheit, ökologischer und institutioneller Übergang.
Zu den Makrozielen des Plans gehören die Akkumulation von mehr als 30 Mrd. USD an privaten Investitionen, ein Wachstum des Bruttoinlandsproduktes von 5 %, die Schaffung von einer Millionen Arbeitsplätzen, die Verringerung der mehrdimensionalen Armut im ländlichen Raum um 15 Punkte, die Bekämpfung der chronischen Unterernährung bei Kindern unter zwei Jahren und deren Reduzierung um sechs Prozentpunkte, den Anteil der Mittelschicht im Land auf 30 % zu erhöhen, 265.000 Hektar Meeresfläche unter Wasserschutz zu stellen, den Internetzugang landesweit um 10 % anzuheben, den Korruptionswahrnehmungsindex in Ecuador zu senken und die Zahl der gewaltsamen Todesfälle bis 2025 um sechs pro eine Million Einwohner zu reduzieren sowie die Kohlenwasserstoffproduktion auf eine Million zu verdoppeln.
Mit Blick auf die hochgesteckten Ziele des Regierungsplans kann die Regierung nur eine durchwachsene Bilanz mit geringen Fortschritten vorweisen. Die Zahl der regulär Erwerbstätigen konnte gegenüber dem Zeitraum seit Amtsantritt lediglich um rund 2,5% angehoben werden (INEC, 2022). Entgegen den Erwartungen hat sich der Wunsch, das monatliche Pro-Kopf-Minimumeinkommen eines Großteils der Bevölkerung auf 500 US-Dollar zu steigern, nicht erfüllt. Nichtsdestotrotz liegt Ecuador mit aktuell 450 US-Dollar pro Kopf auf den ersten Rängen im regionalen Vergleich. Die ländliche Armut konnte hingegen bis jetzt nur leicht reduziert werden und liegt mit rund 70% immer noch extrem hoch. Dagegen wurden private Investitionen erheblich gesteigert (26,6 Milliarden US-Dollar), wenn auch das angestrebte Ziel von 30 Milliarden US-Dollar bis jetzt verfehlt wurde. Das Ziel, den Anteil der Mittelklasse auf 30% zu steigern, muss als gescheitert gelten. Mit einem Anteil von 7,7% an der Gesamtbevölkerung (Zuwachs um 1,3% seit 2021), liegt man weit hinter den angestrebten 30% zurück.
Die Menschen blicken verängstigt in die Zukunft
Die Menschen blicken einmal mehr verwundert auf die in großen Teilen wenig für ihre Ämter ausgebildete politische Klasse, die es geschafft hat, eine ohnehin schon schwierige Sachlage im Land weiter zu verkomplizieren. Viele hatten sich erhofft, der Präsident würde alles tun, um seiner Regierung Dauer zu verleihen und so den Weg für geordnete Wahlen im Jahr 2025 zu ebnen. Jedoch muss fairerweise gesagt werden, dass dieser seit Amtsantritt gegen eine ihm feindlich gesinnte Mehrheit in der Nationalversammlung wenig ausrichten konnte, da die meisten Vorhaben der Regierung durch eine andauernde Blockadehaltung zum Scheitern verurteilt waren.
Sollte man die aktuelle Situation im kleinen Andenland beschreiben, so erfolgt dies aus zwei Perspektiven heraus: Zum einen aus der Sicht der Menschen, die sich in einer ökonomisch vorteilhaften Lage befinden und genügend Zeit haben, das Zeitgeschehen zu verfolgen. Zum anderen aus den Augen der knapp 60% der Bevölkerung, die mit knapp 450 US-Dollar im Monat über die Runden kommen muss und für die Worte wie „Parlament“ und „Regierung“ leider allzu oft ein Synonym für Korruption oder Unfähigkeit sind. Nicht von ungefähr haben die Zustimmungswerte für die Regierung und die Nationalversammlung, die bereits Ende 2022 bei 12,62 bzw. 6,64 Prozent lagen, weiter abgenommen.
Des Weiteren blickt die Mehrheit angesichts einer schweren Sicherheitskrise, die sich fast allerorts bemerkbar macht, verängstigt in die Zukunft. Vor allem das organisierte Verbrechen und die Drogenkriminalität spielen hierbei eine große Rolle. Ecuador ist aktuell das sechstgefährliche Land in der Region, zwischen 2021 und 2022 stiegen die gewaltsamen Tode um 82%, mit über 25 Toten pro 100.000 Einwohner. Hinzukommt eine ungewisse Arbeitsmarktsituation, die im Kontext einer um sich greifenden Perspektivenlosigkeit dazu führt, dass sich immer mehr Menschen – von Hunderttausenden ist die Rede – dazu entscheiden, ihrem Land den Rücken zu kehren und auszuwandern. Allen anderen bleibt nichts anderes übrig als zu hoffen, dass mit der gegenwärtigen Situation ein Ruck durch die politische Klasse geht und wider Erwarten ein neues Parlament zusammentritt, welches dem Land tatsächlich dienen möchte, anstatt sich mit der eigenen Nabelschau zu beschäftigen.
Fazit: Die Demokratie steht einmal mehr auf dem Prüfstand
Einmal mehr steht die Demokratie in Ecuador auf dem Prüfstand. Das Erbe der Regierungszeit Correas lastet noch immer schwer auf dem Land und macht sich vor allem in einer durch die aktuelle Verfassung bedingten komplexen und schwachen Institutionalität bemerkbar. Die Abwesenheit echter politischer Parteien und die unüberschaubare Zahl von über 300 politischen Bewegungen ohne nennenswerte Struktur, innere demokratische Verfasstheit und Transparenz machen die bewusste politische Teilhabe für den Wähler nahezu unmöglich. Für eine neue Regierung und ein neues Parlament, die sich der Demokratie verpflichtet fühlen, bleibt es daher eine unverzichtbare Aufgabe, politische Reformen zielstrebig anzugehen und in die politische Bildung, die Professionalisierung und die Transparenz der Politik zu investieren, um ein langfristiges Konzept für das Land zu entwickeln, anstatt kurzfristige politische Bedürfnisbefriedigung zu betreiben.
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