Nicht wenige Südafrikanerinnen und Südafrikaner fragen sich dieser Tage, was ihr ehemaliger Präsident und Friedensnobelpreisträger Nelson Mandela wohl heute über die Positionierung der ANC-Regierung in Bezug auf die russische Invasion in der Ukraine sagen würde. Im Jahr 1993 erklärte die südafrikanische Ikone, dass «die Menschenrechte dasjenige Licht sind, das die südafrikanische Außenpolitik leiten soll». Davon ist drei Jahrzehnte später allerdings wenig zu spüren. Ganz im Gegenteil: Statt die Wahrung der Menschenrechte, die territoriale Integrität der Ukraine oder gar die Beachtung des Völkerrechts zu betonen, führte kürzlich eine hochrangige Delegation von ANC-Funktions- und –Mandatsträgern einen Besuch in Moskau durch, um die Beziehungen zu Putins Partei Einiges Russland zu festigen.
Ideologische Außenpolitik
Dieses Ereignis zeigt wieder einmal, wie sehr im Land am Kap die Außenpolitik ideologisch geprägt ist: Dabei spielen vor allem die immer noch engen Verbindungen zur ehemaligen UdSSR – begründet in der damaligen Unterstützung von Anti-Apartheid-Aktivisten – eine Rolle. Die Tatsache, dass eine Vielzahl ehemaliger Befreiungskämpfer damals in Odessa (also auf dem Staatsgebiet der heutigen Ukraine!) ausgebildet wurde, wird dabei gänzlich ignoriert. Kurz nach der Invasion verurteilte die südafrikanische Außenministerin diese, wurde dann aber unmittelbar vom Präsidenten persönlich harsch zurückgepfiffen. Mittlerweile nennt sie Kritik der internationalen Staatengemeinschaft an Russland «infantil». Politische Beobachter spekulieren zudem darüber, inwieweit hohe Parteispenden eines kremlnahen russischen Oligarchen an den ANC die Positionierung der Regierungspartei bezüglich des Krieges beeinflussen.
Fakt ist: In der Folge enthielt sich die Regenbogennation bei sämtlichen Abstimmungen in der Uno-Vollversammlung, die sich mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine befasst haben, der Stimme. Spätestens seit dem Besuch des russischen Außenministers Sergei Lawrow Ende Januar in Pretoria sowie dem mit Russland und China gemeinsam durchgeführten zehntägigen Marinemanöver vor der Küste Südafrikas kann man laut Einschätzung von Experten nicht mehr von einer neutralen Position sprechen – selbst wenn dies noch immer der offiziellen Haltung der südafrikanischen Regierung entspricht.
Zweifellos diente die Visite Lawrows auch dem Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen zwischen den beiden Ländern. Nicht unerwähnt lassen sollte man allerdings die Tatsache, dass Russland – im Gegensatz zu den USA und Europa – keinen bedeutenden Handelspartner für Südafrika darstellt. Auch die Übernahme des (rotierenden) Brics-Vorsitzes (Wirtschaftsbündnis von aufstrebenden Volkswirtschaften, zu denen neben Südafrika und Russland auch China, Brasilien und Indien gehören) durch Südafrika Anfang dieses Jahres war sicher ein weiterer Grund für das Treffen mit Putins Außenminister.
Aus geopolitischer Sicht möchte Südafrika aufzeigen, dass es eine eigenständige Außenpolitik verfolgt, welche auf eine multipolare Welt setzt, ganz im Sinne der Ablehnung einer angeblichen Hegemonie des Westens. Wie man an dieser Stelle das Thema «Wahrung von Menschenrechten» gänzlich ausklammern kann, ist allerdings selbst ANC-Anhängern nicht verständlich, die sich in diesem Krieg klar an die Seite der angegriffenen Ukraine stellen, wie eine kürzlich von der renommierten südafrikanischen Brenthurst-Stiftung durchgeführte Umfrage belegt.
Verfassungskrise nicht ausgeschlossen
Der im kommenden August im südafrikanischen Durban unter Teilnahme aller Staatschefs des Bündnisses stattfindende Brics-Gipfel könnte die südafrikanische Regierung in ein wahres Dilemma bringen – und darüber hinaus das Land in eine Verfassungskrise stürzen. Denn sollte sich Putin, gegen den vonseiten des Internationalen Strafgerichtshofes ein internationaler Haftbefehl vorliegt, dazu entscheiden, südafrikanischen Boden zu betreten, müsste er direkt vor Ort verhaftet werden. Südafrika ist nämlich Mitunterzeichner des Rom-Statuts und müsste folglich entsprechend handeln. Dies gilt allerdings als nahezu ausgeschlossen.
Alternativ könnte man vorher aus dem Statut des Strafgerichtshofs austreten. Dies wurde sogar von Seiten des ANC öffentlich mitgeteilt, kurze Zeit später allerdings als «Kommunikationsfehler» deklariert und zurückgezogen. Ohne Zweifel würde ein möglicher Austritt national und international nicht geräuschlos verlaufen. Zudem würde er rechtlich erst mit einer Frist von zwölf Monaten greifen und hätte somit am Gipfel im August noch keine Gültigkeit.
Während sich die südafrikanische Regierung folglich in ihrer kremlfreundlichen Politik verrannt zu haben scheint, haben sich eine Vielzahl von südafrikanischen Oppositionsparteien sowie weite Teile der Zivilgesellschaft und die großen Kirchen klar gegen die russische Aggression positioniert. Womit wir auch wieder bei Nelson Mandela wären, der zeit seines Lebens gegen offensichtliche Ungerechtigkeiten Stellung bezogen hat.
Gregor Jaecke ist seit Januar 2023 Leiter des Auslandsbüros Südafrika der Konrad-Adenauer-Stiftung. Dieser Artikel wurde ursprünglich in der NZZ vom 03.05.2023 veröffentlicht.