Kosovos langer Weg zur EU-Visafreiheit
Mit der Erreichung der EU-Visafreiheit ging ein lang gehegter Wunsch unter den Einwohnern des Landes endlich in Erfüllung. Mit der mehr als zwei Millionen zählenden weltweiten Diaspora des Landes ist nun endlich zumindest mit den EU-Staaten auch eine unkomplizierte Pflege der Familienbeziehungen möglich. Die Bürgerinnen und Bürger des Landes nutzen die nun gewonnene Reisefreiheit bereits in den ersten Wochen nach Jahresbeginn intensiv. Dies kann man beispielsweise an den Buchungszahlen von Flügen in EU-Länder, auch vom Nachbarland Nordmazedonien aus, als auch an dem aktuell weniger hektischen und autoreichen Verkehr in der Hauptstadt Pristina ablesen. Bisher waren visafreie Reisen lediglich in einige Länder des Westbalkans und in die Türkei möglich. Vielfach genutzte Umgehungsmöglichkeit war die Staatsbürgerschaftsübernahme aus Nachbarländern, welche die Visafreiheit mit der EU bereits besaßen. Dies führte unter anderem zu dem Paradoxon, dass Kosovaren auch die serbische Staatsbürgerschaft annahmen und dafür einen Wohnsitz in Serbien anmeldeten.
Der langjährige Prozess war geprägt von viel Geduld als auch Frustration auf der kosovarischen Seite. Die anderen Westbalkanländer erhielten die Visaliberalisierung nach höchstens drei Jahren Verhandlungszeit und hatten dabei verglichen mit dem Kosovo weniger Auflagen zu erfüllen. So waren es am Ende 95 Kriterien, die das Kosovo zu erfüllen hatte. Diese teilweise schwierig zu erfüllenden Kriterien hatten erhebliche innenpolitische Auswirkungen und emotional aufgeladene Debatten zur Folge, die 2018 sogar zum Rücktritt der Regierung von Premier Isa Mustafa führten.
Zweifellos flossen viele Faktoren verbunden mit Statusfragen in den Prozess ein, denn nach wie vor erkennen fünf EU-Mitgliedsstaaten (Spanien, die Slowakei, Rumänien, Griechenland, Zypern) das Kosovo nicht als unabhängigen Staat an. Darüber hinaus wurde das Thema Visaliberalisierung für Staatsangehörige des Kosovo in einzelnen EU-Staaten innenpolitisch in migrationspolitischen Debatten instrumentalisiert. Aus der kosovarischen Sicht war die Frage der Visaliberalisierung auch ein Druckmittel gegen das Kosovo, um Zugeständnisse des Landes im Dialog mit Serbien zu erreichen. Im Land wurde häufig Frankreich als größter Bremser bei den Gesprächen um die Visaliberalisierung wahrgenommen, da die französischen Vorstellungen zu Zeitplänen des Inkrafttretens zumeist die längsten Zeithorizonte enthielten. Zudem hatten viele im Kosovo den Eindruck, dass Frankreich eher nach Gründen dagegen suchte, als lösungsorientiert zu sein. So überraschte es nicht, dass Ende des Jahres 2023 Gerüchten über eine Verschiebung der Visaliberalisierung aufgrund einer Intervention Frankreichs von vielen Bürgerinnen und Bürgern des Landes sofort Glauben geschenkt wurde. Erst nach einer Klarstellung durch das kosovarische Außenministerium legte sich die Aufregung. Wirklich überzeugt, dass das Inkrafttreten zu Beginn des Jahres 2024 erfolgt, waren viele Bürgerinnen und Bürger tatsächlich erst, als dies Ende des Jahres ohne weitere Anzeichen von neuen Problemen nahte.
Der wechselvolle Prozess zur Visaliberalisierung veränderte das EU-Bild im Kosovo
Diese lange Wartezeit hat dem Ansehen der Europäischen Union im Kosovo zweifellos Kratzer zugefügt. Darüber hinaus bewerten nicht wenige politische Analysten im Land die lange Wartezeit, in welcher Länder wie die Ukraine und Georgien das Kosovo bei der Visaliberalisierung überholten, als weitere Quelle für Frustration über die westlichen Partner neben dem aus kosovarischer Sicht enttäuschenden Dialogprozess mit Serbien. Dies hat die Haltung kosovarischer Spitzenpolitiker gegenüber der EU verändert. War nach der Gründung des Staates eine starke Ausrichtung und Orientierung kosovarischer Politik an den Anregungen und Wünschen der Partner in der EU zu sehen, hat sich dies über die Jahre zu einer nicht selten ablehnenden bis sogar konfrontativen Haltung gewandelt. Der Aufstieg von Albin Kurti, der seit 2021 Premierminister ist, speist sich auch aus diesen Entwicklungen. Gerade aktuell profitieren Albin Kurti und seine Partei Vetëvendosje innenpolitisch von der ablehnenden Haltung gegenüber EU-Forderungen im Dialogprozess mit Serbien und den damit verbundenen Sanktionen, welche die EU gegenüber dem Kosovo 2023 verhängt hat. Nach einer Umfrage des renommierten Instituts UBO Consulting[i] vom Dezember 2023 erreicht Kurtis Partei 48,5 %, die zusammen mit den noch nicht eingerechneten Stimmen aus der Diaspora wohl für eine komfortable absolute Mehrheit reichen würden. Gerade die junge Generation weiß Albin Kurti dabei hinter sich, die viel stärker als die Eltern- und Großelterngeneration eine selbstbewusste eigene politische Position des Kosovo in regionalen und internationalen Fragen befürworten.
Auswanderung als mögliche Folge der Visaliberalisierung
Auch wenn die Visaliberalisierung vermeintlich nur Reisefreiheit und keine automatische Arbeitserlaubnis bedeutet, erwarten viele Experten und Politiker im Land, dass die neue Situation eine weitere Auswanderungswelle erzeugen könnte.
Obwohl die Informationskampagnen im Kosovo zur bevorstehenden Visaliberalisierung klar herausstellten, dass die Neuregelung nicht zu bedeuten habe, dass die Bürger länger als 90 Tage in der EU bleiben dürfen, wird dies die Auswanderungs- bzw. Arbeitsmigrationsbestrebungen in die EU nicht bremsen. Dass viele EU-Staaten einen großen Arbeitskräftebedarf haben, zeigt die sogenannte Westbalkanregelung Deutschlands.[ii] Diese Regelung galt auch bisher schon für die Bürgerinnen und Bürger des Kosovo, doch eröffnet die visafreie Einreise neue Möglichkeiten: Denn Kosovaren, die als Touristen einreisen, können sich während ihres Aufenthalts mit potenziellen Arbeitgebern in Verbindung setzen und mit bereits erhaltenen Einstellungszusagen nach der Rückkehr ins Kosovo ein Arbeitsvisum beantragen. Gerade Deutschland mit seinen erleichterten Bedingungen für die Arbeitsmigration aus Westbalkanländern könnte hier ein Hauptziel werden, zumal rund 500.000 Kosovaren in Deutschland leben und über vielfach vorhandene familiäre Bindungen die Arbeitsaufnahme unterstützen könnten.
Das GAP Institute for Advanced Studies in Pristina, einer der führenden Think-Tanks im Kosovo, präsentierte vor dem Startschuss für die Visaliberalisierung eine Analyse und Umfrage[iii] über die erwarteten Auswirkungen im Kosovo im migrationspolitischen Sinne. Demnach sind in den Jahren zwischen 2012 und 2022 über 338.000 Bürgerinnen und Bürger aus dem Kosovo ausgewandert. Allein im Jahr 2022 verließen 41.553 Bürgerinnen und Bürger das Land. 2023 waren es 36.269 Personen. In der im Dezember 2023 durchgeführten Umfrage gaben 28 % der Befragten an, dass sie planen, in den ersten drei Monaten des Jahres 2024 aus dem Kosovo auszuwandern. Hauptziele seien Deutschland mit 71,4 %, gefolgt von der Schweiz (11,7 %) und Österreich (5,3 %). Die Hauptsektoren im Kosovo, die von dieser Migration unmittelbar betroffen sein würden, sind Baugewerbe, Gastronomie, Handel und Produktion.
Diese Entwicklungen stellten die kosovarische Wirtschaft bereits vor der Visaliberalisierung vor große Herausforderungen, womit sich das Land in den generellen Trend der Westbalkanstaaten beim Thema Migration einreiht. Wichtig ist dabei zu erwähnen, dass die Entscheidung zur Auswanderung insbesondere bei Familien der Mittelschicht nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen erfolgt. „Weiche“ Standortfaktoren wie Gesundheitsversorgung, Bildung und Umweltqualität gewinnen auch im Kosovo als Auswanderungsgrund zunehmend an Bedeutung.
Angesichts des verstärkten Arbeitskräftemangels wird das Kosovo in jüngster Zeit auch zum Zielland von Arbeitsmigration, welche auf gezielter Anwerbung basiert. So findet man im Dienstleistungs- und Bausektor verstärkt Bürgerinnen und Bürger aus Bangladesch, der Türkei, Nepal u. a. Im Jahr 2022 konnten ausländische Arbeitskräfte bereits 14 % der durch Abwanderung oder Verrentung ausgeschiedenen Erwerbsbevölkerung ersetzen. Auch eine verstärkte Erteilung von Arbeitsvisa für das Kosovo ist statistisch zu beobachten.
Ob die Prognosen zur Abwanderung vollständig zutreffen werden, muss sicher noch abgewartet werden, denn auch die Mentalität und Erwartungshaltung der migrationswilligen und teilweise sehr gut ausgebildeten jungen kosovarischen Bevölkerung hat sich im Vergleich zu den älteren Generationen verändert. Waren Kosovaren als jugoslawische Gastarbeiter und Kriegsflüchtlinge in den 1990er Jahren mit bereits bescheidenen Wohlstandsgewinnen in einer westlichen Gesellschaft zufrieden, erhoffen junge Kosovaren von Migration nicht selten denselben höheren Lebensstandard wie ihre Altersgenossen im Zielland. Die mediale Darstellung der Zielländer erzeugt im Kosovo nicht immer realistische Erwartungshaltungen. Eine Rückkehr von bereits ausgereisten Kosovaren ist daher nicht ausgeschlossen. Gleichwohl werden sich für gesuchte Fachkräfte wie Ärzte, IT-Spezialisten oder Ingenieure viele Perspektiven ergeben, die einen partiellen Braindrain befördern werden.
Dennoch überwiegt im Kosovo aktuell die Freude als auch Genugtuung, endlich visafrei in die EU reisen zu können und somit in dieser Frage gleichberechtigt mit allen anderen Nachbarländern zu sein. Dieser Umstand wird von den Bürgerinnen und Bürgern im Kosovo als ein weiterer Schritt der Normalisierung und Anerkennung des Landes verstanden.
[i] dukagjini.com/sondazhi-i-ubo-consulting-lvv-e-para-me-48-5-pdk-e-dyta-ldk-e-treta/
[ii] pristina.diplo.de/xk-de/service/visa-einreise/seite-arbeitsaufnahme-westbalkan/1768048
[iii] institutigap.org/documents/64525_Visa%20liberalization.pdf
Bereitgestellt von
Auslandsbüro Nordmazedonien
Themen
Über diese Reihe
Die Konrad-Adenauer-Stiftung ist in rund 110 Ländern auf fünf Kontinenten mit einem eigenen Büro vertreten. Die Auslandsmitarbeiter vor Ort können aus erster Hand über aktuelle Ereignisse und langfristige Entwicklungen in ihrem Einsatzland berichten. In den "Länderberichten" bieten sie den Nutzern der Webseite der Konrad-Adenauer-Stiftung exklusiv Analysen, Hintergrundinformationen und Einschätzungen.